Zertifikate gibt es nicht mehr im Sonderangebot

15.11.2001
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Alexandra Mesmer war bis Juli 2021 Redakteurin der Computerwoche, danach wechselte sie zu dem IT-Dienstleister MaibornWolff, wo sie derzeit als Head of Communications arbeitet.
19 500 Microsoft Certified Systems Engineers (MCSEs) gibt es mittlerweile in Deutschland. Für einen Großteil von ihnen hat das Zertifikat, das sie als Spezialisten für Windows NT 4.0 ausweisen soll, nur mehr Papierwert. Die Prüfungen gerieten zuletzt zur Farce, da die Fragen schon vorher bekannt waren. Bei der Zertifizierung für Windows 2000 sollen solche Auswüchse nicht mehr vorkommen.

"Mit MCSEs können Sie die Straße pflastern". Personalverantwortliche und Headhunter winken schon seit einigen Monaten einhellig ab, wenn ein Bewerber auf sein Microsoft-Zertifikat verweist. Dabei galt der MCSE noch vor zwei Jahren als Gütesiegel für Netzexperten.

Die Skepsis der Unternehmen ist allerdings nicht nur damit zu begründen, dass ihr Bedarf an Netzadministratoren abgenommen hat. Vielmehr ist sie auf die gesunkene Qualität des Zertifikats zurückzuführen, das seit 1994 angeboten wird.

"Den MCSE für Windows NT 4.0 gab es schon fast an jeder Straßenecke. Es war nur noch ein Papierzertifikat." Diese Aussagen stammen nicht etwa von eingefleischten Microsoft-Gegnern, sondern von Vertretern der Weiterbildungsinstitute, die MCSE-Kurse anboten, aber machtlos der zunehmenden Entwertung des Zertifikats zuschauen mussten.

Prüfungsfragen aus dem Buchhandel

Da die Tests nach dem Multiple-Choice-Muster angelegt waren und bei den Prüfungen immer nur ein Bruchteil der Fragen ausgetauscht wurden, war es lediglich eine Frage der Zeit und des Auswendiglernens, bis jeder die Tests bestand. Schließlich konnte die Prüfung beliebig oft wiederholt werden. Die Fragen mussten nicht einmal unter der Hand weitergereicht werden, sondern waren offiziell im Buchhandel zu kaufen. "Manche Trainingsanbieter haben sich darauf beschränkt, mit den Teilnehmern die Fragen durchzupauken statt Übungen zu machen und Grundlagenwissen zu vermitteln", kritisiert Axel Stadtelmeyer, Geschäftsführer des Münchner Schulungsanbieters Tria Training.

Wer ohne Vorwissen eine solche "Schulung" durchlaufen hat, dem konnte es später im Job leicht passieren, dass er bei der ersten Fehlermeldung im Netz nicht wusste, wie er reagieren sollte. Eine Entwicklung, die auch Microsoft nicht ins Konzept passte. Das Ziel, möglichst viele MCSEs zu erzeugen und dadurch Wissen über die eigenen Produkte in den Markt zu bringen, stieß an Qualitätsgrenzen. "Ein Konflikt, in dem sich jeder Hersteller befindet, der viele Teilnehmer zertifizieren, aber gleichzeitig die Qualität hochhalten will", so die Beobachtung Stadtelmeyers.

MCSE darf keine Führerscheinprüfung sein

Mit der MCSE-Zertifizierung für Windows 2000 soll nun alles besser, weil schwerer werden. "Wir haben unsere Examenspolitik geändert. Der MCSE ist keine Führerscheinprüfung, die man durch Auswendiglernen besteht, sondern harte Arbeit an Szenarien", erklärt Regina Beck-Ningelgen, bei Microsoft für die Microsoft Certified Technical Education Center (CTEC) verantwortlich.

In Deutschland arbeitet der Softwarehersteller mit 168 Schulungspartnern zusammen, die Zertifizierungskurse anbieten und dabei die Auflagen erfüllen, die Microsoft bezüglich Hard- und Softwareausstattung, Trainern oder Schulungsräumen stellt. "Konnte die Windows-NT 4.0-Prüfung auch ohne praktische Erfahrung bestanden werden, ist das bei den Tests zu Windows 2000 nicht mehr möglich", nennt Gabriela Bücherl, Geschäftsstellenleiterin der Prokoda Training & Services GmbH in München, den wichtigsten Unterschied.

Auch der Lösungsweg ist gefragt

Da die Teilnehmer nicht mehr nur Fragen nach dem Multiple-Choice-Prinzip beantworten, sondern vielmehr komplexe Szenarien bearbeiten müssen, reicht theoretisch angelerntes Wissen nicht mehr aus (siehe Beispielaufgabe auf Seite 59). "Neben der Lösung ist auch der Weg dahin gefragt", so Bücherl. Zugleich bauen die Fragen aufeinander auf. Beantwortet ein Kandidat drei oder vier Fragen in einem Bereich falsch, fällt er durch die Prüfung.

Früher war es dagegen möglich, zwischen den einzelnen Bereichen auszugleichen. Beck-Ningelgen weist zudem darauf hin, dass dem Prüfling nicht mehr mitgeteilt wird, an welchen Fragen er gescheitert ist. So will Microsoft dem punktuellen Lernen einen Riegel vorschieben. Im Falle einer Wiederholungsprüfung finden die Teilnehmer andere Fragen vor. Insgesamt müssen sieben Tests absolviert werden, bevor man sich "MCSE für Windows 2000" nennen darf. Eine Hürde, an der vor allem in den ersten Monaten nach der Einführung des neuen Zertifikats viele Kandidaten gescheitert sind.

Auch jetzt komme es selten vor, dass jemand gleich im ersten Durchlauf alle sieben Prüfungen schaffe, berichtet Bücherl: "Da muss man schon vorher täglich mit Windows 2000 zu tun haben." Quereinsteiger, die sich mit dem MCSE-Zertifikat den Weg in die IT-Branche ebnen wollen, sind gut beraten, wenn sie sehr gute Informatikgrundkenntnisse mitbringen. Bücherl hat die Erfahrung gemacht, dass beispielsweise Elektrotechniker über das richtige Hintergrund-Know-how verfügen.

Riesenärger wegen Nachzertifizierung

Wer sich nur im Hobbybereich mit dem Thema auseinander gesetzt hat oder beispielsweise nie mit Windows NT 4.0 gearbeitet hat, tut sich nach Erfahrung von Margot Speiser vom Schulungsanbieter GfN erheblich schwerer. Doch auch, wer sich für Windows NT 4.0 zertifiziert hat, gehört letztendlich zu den Verlierern. Im Frühjahr dieses Jahres hatte die Ankündigung Microsofts, dass sich alle MCSEs bis Ende des Jahres nachzertifizieren und einen Test für Windows 2000 absolvieren müssen, für Riesenärger bei den Betroffenen gesorgt.

Diese betrachteten die Nachzertifizierung als Geldschneiderei, zumal nur wenige Unternehmen auf Windows 2000 umgestellt hatten. Auch wenn Microsoft mittlerweile davon abgerückt ist, das Zertifikat verfallen zu lassen, ist es in den Augen von Stadtelmeyer "absehbar, dass die 4.0-Zertifizierung mit jedem Quartal mehr an Wert verliert". Auch Beck-Ningelgen von Microsoft rät dringend dazu, sich für Windows 2000 weiterzuqualifizieren: "Man kann sich leider nicht mehr so lange auf seinen Lorbeeren ausruhen."

Das Bestreben, in Sachen MCSE auf dem neuesten Stand zu bleiben, kommt IT-Mitarbeiter beziehungsweise die Unternehmen aber teuer zu stehen. Während siebenmonatige MCSE-Kurse für Ein- und Umsteiger mit durchschnittlich 22 000 Mark zu Buche schlagen " die Mehrzahl der Teilnehmer war vorher arbeitslos und wird vom Arbeitsamt gefördert -, fallen für einen mehrwöchigen Update-Kurs zu Windows 2000 noch einmal durchschnittlich 12 000 Mark an.

Dennoch ist Stadtelmeyer zuversichtlich, dass die Unternehmen weiter in die Qualifikation ihrer Netzexperten investieren werden: "Auch wenn der MCSE durch die Zurückhaltung der Arbeitgeber zurzeit etwas niedriger im Kurs steht, wird sich das Zertifikat mit dem zunehmenden Markterfolg von Windows 2000 beziehungsweise XP erholen."

Eine eigene Zertifizierung zu Windows ist laut Auskunft des Herstellers bisher noch nicht geplant. Ab Anfang nächsten Jahres gibt es einige zusätzliche XP-Examen, die sich in den MCSE für Windows 2000 integrieren lassen. Dass Microsoft die Qualität des MCSE deutlich anheben will, unterstreicht auch die Ankündigung eines weiteren Abschlusses, des Microsoft Certified Systems Administrator (MCSA). Dieser soll mit Beginn des nächsten Jahres starten, beinhaltet statt sieben vier Prüfungen und ist eine Art abgespeckter MCSE.

In den Augen des Softwareherstellers sind MCSEs der neuen Prägung zu hoch qualifiziert, um Netze nur zu administrieren, da sie sie auch konzipieren und designen könnten und etwa als Berater einsetzbar seien. Die praktische Netzveraltung sollen künftig die MCSAs übernehmen. Ob auch die Arbeitgeber diese Einschätzung teilen werden, ist fraglich. Schließlich ist vielen Firmen selbst der MCSE zu unqualifiziert.