Grafische Oberflächen sind kein Allheilmittel

Zeichenorientierte Anwendungen finden nach wie vor ihre Käufer

13.11.1992

MÜNCHEN (CW) - Angesichts einer plötzlichen Vielfalt von Betriebssystemen für die Intel-Plattform wird die Auswahl für Entwickler in Unternehmen und auf dem freien Markt nicht leichter. Produkte wie Solaris 2.0 von Sun, Nextstep/486 von Next, Microsoft NT und natürlich IBM OS/2 treten neben das lange Zeit favorisierte DOS als Zielplattform für die Software-Entwicklung. Auf den ersten Blick mag es überraschen, daß sich viele Entwickler auf der reinen DOS-Plattform noch wohl fühlen.

Polemisch ausgedrückt, kann man sagen: Wer heute Software für Intel-Maschinen entwickelt, sollte unbedingt eine zeichenorientierte DOS-Anwendung schreiben. Der Markt ist groß (zirka 70 Prozent von mehr als 5,5 Millionen installierten PCs in Deutschland), CASE-Produkte sind vorhanden, alle möglichen Tools existieren in großer Zahl. Es gibt keine Probleme mit den Anforderungen an die Hardware, denn wiederum 30 Prozent der installierten PCs sind überhaupt nicht in der Lage, etwas anderes als DOS sozusagen pur zu fahren. Programmierer sind erschwinglich und laufen nicht gleich wieder weg, weil sie nebenan das Doppelte geboten bekommen. Ein zusätzliches Bonbon: Für kein anderes PC-Betriebssystem gibt es so viele Emulatoren, das heißt, zum installierten Intel-Maschinenpark gesellen sich noch einmal diejenigen Plattformen, die mit einem DOS-Emulator ausgerüstet sind. So zum Beispiel Microsoft NT auf Mips oder Alpha, DEC Windows, Solaris etc. Wollte man also den größtmöglichen, denkbaren Markt adressieren, dann gäbe es nur eins: DOS pur.

Diese Regel funktioniert in gewissen Teilbereichen der Branche sehr gut. So gibt es im Prinzip nur zeichenorientierte DOS-Versionen von Antivirus-Programmen - es wäre eine interessante Fragestellung, ob Virenprogramme mit grafischer, "intuitiver" Benutzeroberfläche ausgerüstet sind. Die Gleichung funktioniert jedoch nicht für jede Kategorie von Software auf Personal Computern. Überraschend mußten einige Hersteller die folgende Lektion lernen: Innovative Anwendungen müssen heute mit grafischer Benutzeroberfläche aufwarten, sonst haftet ihnen sofort das Etikett altmodisch an. Dieses Vorurteil, das oftmals in Unkenntnis des Innovationsgehaltes einer Software ausgesprochen wird, läßt sich jedoch nicht ausräumen. Opfer solchen Denkens wurden in der letzten Zeit zum Beispiel Produkte, die intelligent elektronische Post filtern (Beyond Mail), Groupware Funktionalität enthalten (The Coordinator) oder gar wissensbasierte Elemente aufweisen (Knowledge Pro). Die genannten Hersteller hätten sich fast an ihren ersten MS-DOS Versionen den Hals gebrochen, der Kunde urteilt oberflächlich und gnadenlos.

Grafik um jeden Preis hieß die Parole

Im Marsch über die Messe muß ein einziger Blick dem Kunden bereits die Botschaft "neu" vermitteln - und diese transportiert heute nur die Grafik.

Grafik um jeden Preis, ob sinnvoll oder sinnlos - dies ist die aktuelle Parole

Als ob eine grafische Oberfläche per se schon besser wäre als die zeichenorientierte! Auch bunte Bilder können geradewegs ins Chaos führen, und die Anzahl der Mausklicks an unterschiedlichster Stelle darf ruhig einmal gezählt werden. Wohltuend erscheint einem nach tagelangem Starren auf schnelle Buntheit die ruhige, wohlgestaltete Oberfläche einer puren DOS-Anwendung.

Firmen, die auf dem freien deutschen Softwaremarkt der nächsten Jahre überleben wollen, haben jedoch keine Wahl. Einzig die Windows-Version verhilft einem Produkt zur Aufmerksamkeit im Massenmarkt, Nischenanbieter genießen eine gewisse Schonzeit.

Doch wie sieht es in großen Unternehmen aus, die eigene Anwendungsentwicklung betreiben? Hier sind völlig andere Gesetze wirksam als im öffentlichen Massengeschäft. Es sind nüchterne betriebswirtschaftliche Überlegungen, die die hausinterne Entwicklung von DOS-Anwendungen immer noch attraktiv erscheinen lassen. In der überwiegenden Zahl von Unternehmen, mit denen wir Kontakt haben, sind maximal 50 Prozent PCs installiert. Der Rest sind zeichenorientierte oder grafikfähige 3270-Bildschirme. Die PCs arbeiten den überwiegenden Teil des Tages in der 3270-Emulation und präsentieren sich daher dem Benutzer in erster Linie zeichenorientiert. Oft ist es die Textverarbeitung, die erstmals den Umstieg auf die grafische Oberfläche bringt, sofern es die Hardware zuläßt. In der Regel wird die Textsoftware jedoch parallel als zeichenorientierte oder als grafische Anwendung in den Abteilungen gemischt verwendet - je nach Budget und dem Alter der Maschinen. Eine 3270-Emulation für den PC, die das Windowing einer oder mehrerer Host-Sessions ermöglicht, ist der zweithäufigste Auslöser für den Umstieg auf die grafische PC-Oberfläche.

Wird nun inhouse entwickelt, dann würde eine zusätzliche grafische Anwendung enorme Aufstockungskosten verursachen. Dies müßte sich in einer Kosten-Nutzen- Rechnung zusätzlich niederschlagen.

Programme mit grafischer Tapete

Ist der Produktivitätszuwachs durch die Anwendung so groß, daß sich der Umstieg durchsetzen läßt, dann steht einem Übergang auf Grafik im großen Stil nichts im Wege - doch dies ist die Ausnahme. Ist dagegen die Applikation überhaupt nur als grafische zu realisieren, sieht die Sache anders aus. Die Diskussion ist unentschieden, ob es dem Benutzer zuzumuten ist, in beiden Welten zugleich zu arbeiten. Ein gemischtes Desktop scheint eine ganze Zeit lang erträglich zu sein. Andernfalls müßte der aktuelle Bestand an selbstentwickelten Programmen in großen Firmen ebenfalls mit einer "grafischen Tapete" versehen werden.

Diese Diskussion wird zur Zeit zum Beispiel bei der Allianz Versicherung geführt, die im Außendienst mehr als 6000 PCs einsetzt. Die österreichische ÖMV mit ihren zirka 1500 PCs überlegt den Einsatz eines grafischen Front-ends für das zeichenorientierte Office Vision/MVS auf dem Host. Das Europäische Patentamt in München nimmt bei der PC-Software-Strategie Rücksicht auf die verbliebenen 200 Bildschirme von insgesamt 3000 PCs. Firmen wie die Berliner Wasserbetriebe, die Altlasten an PC-Bestand aus dem Osten geerbt haben, können nicht von heute auf morgen hochrüsten.

Interessanterweise werden die Emulatoren für DOS pur nur in sehr wenigen Installationen, zum Beispiel auf Workstations, für lange Zeit produktiv genutzt. Es scheint, als würde diese Lösung in erster Linie als Migrationspfad denn als Dauerlösung angesehen. Die Frage wird zu Recht gestellt, ob der Emulator überhaupt eine gute Sache ist. Schließlich nutzt man in der Emulation die vorhandene Hardware nur zu einem Bruchteil und versagt sich manch andere Funktionen, die die Betriebssystem-Umgebung bietet, komplett, so zum Beispiel den dynamischen Datenaustausch. Als Beispiel kann hier die DOS-Emulation innerhalb von Solaris 2.0 dienen. Sun bietet die Möglichkeit, einen Intel 286-Prozessor auf Sparc zu emulieren. Doch wer gibt heute noch 10 000 Mark für einen 286er aus? Das Aufrüstboard von Sun für bessere Performance und den 386er Modus kostet fast soviel wie ein echter 386er bei Vobis. Der DOS-Emulator innerhalb des inzwischen von Sun angebotenen Interactive Unix System ist zwar unbestritten leistungsfähig, jedoch ist man mit VP/ix auf die Intel-Plattform beschränkt. Und da kann man DOS eben ohne Emulation haben.

Die zeichenorientierten Anwendungen sind auf dem Rückzug. Bill Gates sagte auf der PC Windows in Frankfurt Mitte Oktober, daß weltweit nur noch 44 Prozent aller Neuentwicklungen für DOS erfolgen gegenüber 62 Prozent im Jahr davor. Der Hauptgrund: Zeichenorientierte DOS-Programme sind monolitische große Programmklötze, die sehr große Mengen an Code mit sich herumtragen, welcher unter Windows direkt vom Betriebssystem geliefert wird. Es dürfte auf die Dauer immer unwirtschaftlicher werden, "alles selber machen zu wollen". Gates prognostizierte, daß bald schon 80 Prozent der Neuentwicklungen im PC-Markt für Windows erfolgen werden.

Programmierer kehren zum alten Stil zurück

Dennoch wagen wir hier die Prognose, daß es ein Revival der zeichenorientierten Anwendungen geben wird. Diese Aussage bezieht sich auf zwei absehbare Entwicklungen. Erstens: Der bunten Bilder satt, werden einige Softwarehersteller unter grafischen Oberflächen so programmieren wie früher, das heißt mit wenig Farben, Funktionstasten und ruhigen Bildern, vor allem mit viel weniger kaskadierenden Fenstern. Zweitens: Maschinen wie der HP95XL, ein sehr erfolgreiches Stück Hardware, sind eine sehr interessante Zielplattform für DOS-Entwickler. Konkurrenz zum HP-Angebot wird man schon auf der diesjährigen Herbst-Comdex sehen können. Diese Produkte laufen in Ermangelung eines Besseren in der Regel unter DOS, innovative Anwendungen sind hier sehr nötig, und die grafische Oberfläche ist in der Praxis noch nicht erwünscht.