Anwender des Jahres/TUI Interactive GmbH

You surf, you fly

27.10.2000
Leicht war die Aufgabe für das junge Unternehmen TUI Interactive, ein Tochterunternehmen der TUI Group GmbH, nicht: Die TUI hatte 1999 besonders ehrgeizige Pläne. Ein Internet-Auftritt mit einer funktionierenden Buchungsmaschine sollte entwickelt werden und im ersten Quartal des Jahres 2000 online gehen. Die Internet-Experten waren aufgefordert, gemeinsam mit ihren Kollegen von der TUI Infotec, den IT-Experten in der TUI, binnen kürzester Zeit ein Internet-Portal zu entwickeln, das die TUI zur touristischen Online-Avantgarde avancieren ließe und dem TUI-Kunden andererseits eine sichere Planung der schönsten Zeit seines Jahres ermöglichte. Für Aufregung war also schon gesorgt, als das Reiseportal erst in den Köpfen einiger Top-Manager existierte.

Dabei reizten die TUI-Verantwortlichen neben der Erkenntnis, nur so dauerhaft zu den fortschrittlichsten Touristikunternehmen gehören zu können, auch blanke Zahlen: Die hatten Wirtschaftsinstitute für diesen neuen Vertriebsweg ermittelt, und die Resultate überzeugten das Management der Old-Economy-Firma, massiv in das Abenteuer Internet zu investieren.

Michael Ohm, einer der beiden Geschäftsführer der TUI Interactive GmbH, kennt die Zahlen der Marktanalysten im Schlaf. Der Umsatz der Online-Reisebuchungen trägt zum Gesamt-Touristikmarkt erst ein Prozent bei. Einige Prognosen sagen für den Markt in Deutschland bis zum Jahr 2003 einen Umsatz von 2,7 Milliarden Dollar voraus. Nach einer Studie des Internet-Marktforschungsinstitutes Comcult haben 1999 rund eine Million Internet-Anwender Reiseprodukte via Internet gekauft. Für dieses Jahr prognostiziert das Institut eine Steigerung auf 3,5 Millionen Online-Bucher.

Online-Umsätze von 20 Milliarden DollarDie Online-Umsätze im E-Travel sollen nach Meinung der Marktexperten weltweit von 2,5 Milliarden Dollar im Jahr 1998 bis 2001 auf 20 Milliarden Dollar anwachsen. Die durchschnittliche jährliche Expansion des Online-Reisemarktes in Deutschland nach Umsatz wird für den Zeitraum 1999 bis 2003 mit 27 Prozent angegeben. Reiseveranstalter werden dabei in Zukunft die E-Commerce-Champions von heute - Buchversender à la Amazon - von der Spitzenposition verdrängen. Der Anteil der Internet-Reisebuchungen am Gesamtumsatz des E-Commerce soll von 17 auf 35 Prozent anwachsen. Damit wäre der E-Travel-Markt vor Büchern, Musik und Software das größte Marktsegment im Internet. Für die TUI Group ist die Marschrichtung also klar: Das WWW ist ein weiterer strategischer Vertriebskanal.

Für die Preussag, deren 100-prozentige Tochter die TUI Group ist, heißt das: Reisen ist "serious business". Das wissen auch TUI-Interactive-Geschäftsführer Wolfgang Butenschön und Ohm. Sie sind für den Erfolg der Touristik-Site TUI.de, mit der sich das Unternehmen am Wettbewerb "Anwender des Jahres 2000" bewarb, verantwortlich. Die Web-Seite soll, umreißt Ohm den Nutzen des Reiseportals, eine touristische Online-Vertriebs- und Informationsplattform für das B-to-C-Geschäft bilden. Das Portal, so lautet das Ziel der TUI, soll "Marktführer in Sachen E-Commerce werden".

Voll in die Verantwortung kam Ohm Anfang April 2000 mit seinem Aufstieg in die Geschäftsleitung. Die Prioritätenliste machte die Herausforderung deutlich: Ganz weit oben stand da der schöne neudeutsche Begriff Time-to-Market. Innerhalb von lediglich fünf Monaten sollte die Umsetzung erfolgen, ein enormer Personalaufwand war notwendig. Um dieses Ziel zu erreichen, wurde das interne Team von vier Mitarbeitern um 18 externe Kräfte ergänzt, teilweise von der IBM.

So konnten zwei wesentliche Ziele umgesetzt werden: Für Ende August 2000 war ein optischer Relaunch und eine komplette neue technische Hintergrundplattform mit verbesserten Buchungsfunktionen der TUI.de-Site eingeplant worden. Vollzug meldete Ohm am 5. September 2000. Alle Funktionalitäten konnten in der gewünschten Qualität realisiert werden.

Ohne Wermutstropfen ging es bei solch einem Parforceritt allerdings nicht ab: Wegen des massiven Einsatzes externer Kräfte wurde das Budget einmal aufgestockt. Als wesentliche Aufgabe stellte sich zudem die Entwicklung einer Integrationsplattform für den Datenaustausch mit den vorhandenen Backend-Systemen der TUI Group sowie den Rechnerwelten von anderen Reise-Dienstleistern wie Sabre, Amadeus oder Galileo heraus.

Zum Start waren keine Anforderungen definiertNoch zum Start des Projektes im April 2000 lagen keine Anforderungsspezifikationen vor. Damit der geplante Termin eingehalten werden konnte, wurden die Funktionalitäten der Anwendung in so genannte vertikale Einheiten geteilt, die jeweils von einem kleinen Team eigenverantwortlich spezifiziert, analysiert und realisiert wurden. Mitglieder der Teams waren jeweils ein oder zwei Mitarbeiter des Fachbereiches und ebenso viele externe IT-Serviceleute.

Die Teamarbeit wurde von einem Projektchef geleitet, der Unterstützung von einem externen Projektleiter erhielt. Die Kommunikation innerhalb des gesamten Projektteams erfolgte über ein Intranet. In diesem wurde auch die gesamte Dokumentation gelagert. Anders als in anderen Branchen sehen sich die Touristikkonzerne dem Problem von externen Wettbewerbern und Internet-Anbietern wie etwa Expedia oder Microsoft Travelcity gegenüber.

Diese Dienstleister sind zwar "nur" Technologiebetreiber und keine, die das eigentliche Produkt Reise tatsächlich vorrätig halten. Trotzdem besteht die Herausforderung für einen Reisespezialisten wie die TUI darin, so Ohm, "mit dem Reiseportal eine Technologielösung anbieten zu können, mit der wir unseren Content, also unsere Touristikangebote, optimal vermarkten können". Die Frage, ob sich Old-Economy-Touristik-Unternehmen wie die TUI in Zukunft gegen die Expedias dieser Welt durchsetzen können, ist durchaus noch offen. Ohm selbstbewusst: "Wir glauben natürlich, dass wir das können."

Insgesamt müssen die IT-Systeme der Hannoveraner im Hintergrund der TUI-Reise-Site rund 34 Milliarden Produktkombinationen beherrschen. Und diese Produktvielfalt soll, so das Ziel, auch noch auf die Wünsche eines einzelnen Kunden anzupassen sein.

Und in der Praxis? Da stellt der Internet-Surfer sich individuell eine Reise mit Flug, Hotel, Autovermietung etc. zusammen. Hierbei kann es sein, dass die TUI selbst eine bestimmte Wunschkategorie gar nicht im Programm hat. Die Komplettreise kombiniert der Portalbenutzer dann zu einem Paket und bucht es auch so.

"Die entwicklungstechnische Herausforderung für uns bestand darin, ein System zu schaffen, das für den Benutzer, also unseren Privatkunden, genauso transparent ist wie für unsere Touristikfachkräfte", erklärt Ohm. "Die an unser System angekoppelten IT-Systeme anderer Anbieter wie Hotelunternehmen, Autoverleiher oder die großen Reservierungssysteme wie Sabre und Amadeus unterscheiden sich aber natürlich von unseren. Unsere Kunden und Mitarbeiter sollen jedoch diese Übergänge in andere Systeme bei ihrer Anfrage trotzdem nicht bemerken."

TUI Interactive hat für den Zugriff auf andere Systeme eine Adapterschicht in seine E-Commerce-Lösung eingebaut. Diese erst ermöglicht es, etwa an Amadeus anzukoppeln, um dort einen Flug zu buchen. Hierbei kann es sich etwa um einen Lufthansa-Flug handeln, den der Veranstalter TUI "Schöne Ferien!" nicht in seinem eigenen Angebot aufführt.

Das TUI-Portal erlaubt es dem Kunden auch, eine nur ungefähre Reisevorstellung per Internet anzugeben, etwa wann er wohin zu welchem Preis reisen will. Diesen Wunsch hinterlegt er im Portal. Findet das TUI-System ein Angebot, das auf diese Vorstellungen zutrifft, bekommt der Gast eine SMS-Nachricht oder eine E-Mail zugeschickt, in der ihm ein Reisevorschlag unterbreitet wird.

Besonderes Augenmerk legte Ohm auf eine zukunftssichere Gesamtarchitektur. Sie soll gewährleistet sein durch den stringent objektorientierten Ansatz und die strenge Trennung der Architektur in Schichten nach dem Prinzip Model-View-Controller. Zum Anwender hin existiert eine vollkommen unabhängige Präsentationsschicht, die eine Anpassung in die verschiedensten Ebenen und Richtungen ermöglicht.

In der zweiten Ebene der Architektur unterhalb der Präsentationsschicht befinden sich so genannte Workflow-Controller, die die Anwendungsprozesse modellieren und die darunter liegenden Business-Controller miteinander verknüpfen. Das heißt, es können verschiedenste Workflows abgebildet werden, die den jeweiligen Anforderungen des Nutzers entsprechen. Konkret wurde diese Möglichkeit für das TUI.de-Portal und die Anwender im Fulfillment-Center beziehungsweise Web-Center realisiert. Anders als die Privatsurfer im Internet nutzen die TUI-Mitarbeiter im Fulfillment-Center eine Art "Profiversion" der Portalanwendung.

Die Business-Controller bilden die Basisfunktionalität der Anwendung wie beispielsweise "Reiseplan-Suchen", "Buchen" und weitere Informations-Funktionalitäten ab. Darunter werden die unterschiedlichen Quellen für Inhalte, also andersartige Reservierungssysteme von verschiedensten touristischen Anbietern, über so genannte Adapter-Manager gekapselt.

Diese Adapter-Manager haben unter anderem die Aufgabe, nach Flügen zu suchen. Dazu kapseln sie verschiedene Adapter, die auf unterschiedliche Reservierungssysteme zugreifen, welche jeweils wieder ihre spezifischen Protokolle implementieren. So kapseln die Adapter beispielsweise proprietäre Schnittstellen-Protokolle, TCP/IP-Verbindungen und XML-Interfaces. Die Adapter-Manager stellen das Ergebnis der Suche dem anfragenden Business-Controller in einer technologisch und inhaltlich einheitlichen Sicht dar.

In dem Fall der Flugsuche bedeutet das beispielsweise: Die Suchergebnisse, die aus globalen Reservierungssystemen wie Amadeus, Sabre, Worldspan und Galileo stammen, und die Suchresultate aus dem Charter-Angebot der TUI genauso wie die Treffer aus Datenbanken von Consolidator-Tarifen - alle diese Resultate werden einheitlich dargestellt.

Die gesamte Basisarchitektur der Anwendung ist komplett in Java geschrieben und nutzt die Funktionalitäten eines Application-Servers, in diesem Fall Apples "Webobjects". Das Framework des Application-Servers wird so genutzt, dass ab den Workflow-Controllern die Anwendung davon unabhängig ist. Mit anderen Worten, TUI ist diesbezüglich herstellerunabhängig. Bei der Installierung des Fulfillment-Centers nutzte TUI diese Freiheit. Zwar kommen identische Business-Controller zum Einsatz, diese aber laufen unter IBMs "Websphere"-Produkt.

Das Reiseportal von TUI vereinheitlicht verschiedene touristische Welten, die in der Branche von Bedeutung sind. Damit einher geht eine bisher nicht erreichte Standardisierung, so TUI Mann Ohm. "Heutzutage ist ein Reisebüromitarbeiter immer Spezialist eines globalen Reservierungssystems der Airlines wie etwa Amadeus, Sabre, Worldspan oder Galileo, welches er nur nach einer speziellen Ausbildung bedienen kann", erklärt Ohm weiter. Mit der TUI-Anwendung kann nun nicht nur der dafür ausgebildete Reisebüromitarbeiter alle bekannten Reservierungsysteme bedienen. Diese übergreifende Funktionalität steht nun teilweise auch dem Endanwender im Internet zur Verfügung. Die Lösung ist damit eine zukunftsorientierte touristische Integrationsplattform, die touristische Standards definiert und strategische Basis für zukünftige Lösungen werden kann.

Jan-Bernd Meyer

jbmeyer@computerwoche.de

TUI InteractiveDie TUI Interactive GmbH bündelt seit Oktober 1999 die E-Commerce- und E-Business-Aktivitäten der TUI Group.

Im Geschäftsjahr 1998/99 lagen die Umsatzerlöse der TUI Group bei 14 Milliarden Mark. Der Konzernjahresüberschuss vor Ergebnisabführung betrug 344 Millionen Mark.

Weltweit waren in diesem Zeitraum bei der TUI Group 48 000 Mitarbeiter beschäftigt.

Für die Konzeption, Entwicklung und den Betrieb von IT-Anwendungen stehen der TUI Group die rund 350 Mitarbeiter des internen Systemhauses TUI Infotec zur Verfügung. Die TUI Interactive GmbH selbst beschäftigt derzeit 35 Mitarbeiter.