"All-in-one"-Lösungen gibt es nicht

"XML ist kein Dokumentenstandard" (Volltextversion)

14.09.2001
Der Zwang, Inhalte digitalisieren zu müssen, um sie in Internet-Prozesse einbinden zu können, hilft dem Markt für Dokumenten- und Content-Management auf die Sprünge. Über die Trends im DMS-Markt sprach CW-extra-Redakteur Uwe Küll mit Bernhard Zöller*.

CW extra: Ist der vor Jahren prognostizierte Boom im Bereich Dokumenten-Management-Systeme überhaupt eingetreten? Hinkt das Wunschdenken der Anbieter und Analysten der Realität nicht deutlich hinterher?

Zöller: DMS ist eine Erfolgsgeschichte. Die Zuwachsraten liegen jährlich bei durchschnittlich zehn bis 20 Prozent. Nach unseren Berechnungen setzte die Branche allein in Deutschland im Jahre 2000 über zwei Milliarden Mark um - inklusive Software, Hardware und Dienstleistungen.

Sehr viele große Unternehmen und zunehmend auch mittelständische Betriebe setzen Abteilungslösungen ein - unternehmensweite Lösungen sind dagegen noch sehr selten. Von Marktsättigung kann also keine Rede sein. Dieser "schleichende" Boom wird sich fortsetzen, weil die Firmen zunehmend ihre Dokumente digitalisieren müssen, um sie überhaupt in die neuen Internet-Prozesse einbinden zu können. Wie soll denn beispielsweise ein ausgelagertes Call Center auf die Kundenakte zugreifen, wenn sie als Papier oder Mikrofilm irgendwo im Keller liegt?

CW extra: Inwiefern haben denn Workflow-Systeme Einzug in den Unternehmensalltag gefunden?

Zöller: Workflow lässt sich heute kaum noch als eigener Markt identifizieren. Mit Ausnahme von Staffware sind die meisten Anbieter recht klein geblieben und Workflow-Projekte außerhalb von DMS-Anwendungen sind eher die Ausnahme. Allerdings machen sich sehr viele Firmen Gedanken, wie sich Abläufe innerhalb und außerhalb ihres Unternehmens verbessern lassen und viele haben dies natürlich auch schon umgesetzt. Allerdings kommen hierfür nicht immer nur Produkte zum Einsatz, die das Etikett "Workflow" tragen. Wer Dokumente vor der Bearbeitung erfassen und in elektronischen Postkörben bearbeiten lassen möchte, dem reicht vielleicht ein DMS-Postkorb. Anwender, die Daten von System A zu System B transaktionsgesichert übertragen und im System B einen Prozess anstoßen möchten, können das mit Messaging-Systemen oder einem Transaktionsmonitor realisieren. Viele Workflow-Projekte außerhalb von DMS-Einsatzfeldern sind in Wirklichkeit Enterprise-Application-Integration-(EAI-)Projekte.

CW extra: Bei der Verarbeitung unterschiedlicher Dokumente und deren Austausch sollen Standards für Kompatibilität sorgen. Welche Rolle spielen Normen wie ODMA, DMA, WfMC heute?

Zöller: Dies sind keine Stan-dards geschweige denn Normen, sondern Spezifikationen, die mit Ausnahme der ODMA-Spezifikation 1.0 keine Verbreitung gefunden haben. Diese Spezifikationen erarbeiteten früher unterschiedliche Arbeitsgruppen, die dann später unter dem Dach der internationalen Anwender- und Anbietervereinigung "Association for Information and Image Management International" (AIIM) koordiniert wurden. DMA wurde mit Ausnahme von Hyland und Hitachi unseres Wissens nicht implementiert, die fertige Spezifikation 1.0 dümpelt seit Dezember 1997 unverändert und ungepflegt vor sich hin. Die WfMC (Workflow Management Coalition) arbeitet seit 1993 an den Spezifikationen, auch diese sind weitgehend fertig, jedoch ebenfalls ungenutzt. Der wesentliche Grund liegt wohl darin, dass der Prozess der Erarbeitung solcher Spezifikationen ein sehr langsamer Vorgang ist, weil die Interessen sehr unterschiedlicher Beteiligter unter einen Hut gebracht werden müssen.

ODMA ist eine Ausnahme, weil hiermit tatsächlich eine einfache, aber stabile Integration zwischen Desktop-Produkten wie MS Office und DMS-Systemen realisierbar war. Trotzdem verliert ODMA an Bedeutung.

CW extra: Warum?

Zöller: ODMA ist fürs Internet nicht besonders geeignet, weil es eine DLL auf einem Windows-PC erfordert, um zu funktionieren, es läuft nicht mit asiatischen Zeichensätzen und es hat noch eine Reihe anderer Nachteile. Im April 2000 hat die AIIM die bisherige finanzielle Unterstützung für ODMA, DMA und die WdMC weitgehend eingestellt, wodurch das weitere Schicksal vorgezeichnet ist.

CW extra: Als neuer Heilsbringer, der den Austausch von Dokumenten und Inhalten vereinfachen soll, wird die Extensible Markup Language gepriesen. Welche Bedeutung hat XML für DM und CM?

Zöller: XML ist kein Dokumentenstandard und demzufolge nicht imstande, Formate wie PDF, TIFF, AFP oder MS Word abzulösen. XML ist lediglich eine Metasprache, die allerdings sehr mächtig ist und mit deren Hilfe sich eine auf breiterer Basis stehende System-zu-System-Kommunikation realisieren lässt. Ich sehe XML daher als sinnvolle Technologie, wenn es zum Beispiel um Anweisungen in Prozesssteuerungen geht oder darum, Beschreibungsdaten für Dokumente zwischen verschiedenen Systemen auszutauschen. Aber auch hier gilt, dass sich die Systeme auf semantischer Basis verstehen müssen. Beispiel: Wenn ein System A den deutschen Autor "Meier" in einem XML-Tag definiert, das andere System B diesen Eintrag aber mit dem englischen "Author" sucht, hat man ein Problem mangelnder Taxonomie, das von XML nicht angesprochen wird. Ein weiteres Beispiel: Ein Dokument wird als ein fünfseitiges Multi-Page-TIFF gescannt und erhält im Laufe der Bearbeitung Annotationen im System A. Dann wird das Dokument zusammen mit beschreibenden XML-Auszeichnungen an das System B übergeben. System B kann das ankommende Dokument vielleicht sauber indexieren, weiß also alles, was zur Beschreibung des Dokumentes nötig ist. Nur: Anzeigen oder drucken kann es nicht, weil es weder etwas mit Multi-Page-TIFFs noch mit den proprietären Annotationen des Systems anfangen kann.

CW extra: Softwareanbieter sind Meister darin, neue Begriffe für alte Themen zu entwickeln und dadurch eher zu verwirren, als für Klarheit zu sorgen. Diesen Eindruck hat man auch beim Dokumenten-Management, das nun zunehmend als Content-Management angepriesen wird. Ist das nicht auch alter Wein in neuen Schläuchen?

Zöller: Bei dem Begriff Content-Management (CM) muss man unterscheiden zwischen seinen Ursprüngen aus dem Bereich Web-Content-Management (WCM) und einem sehr allgemeinen Verständnis. Letzteres umfasst vieles, was sich irgendwie mit "Inhalten" und deren Verwaltung in Verbindung bringen lässt. In diesem erweiterten Kontext sind Dokumenten-Management und Web-Content-Management nur untergeordnete Begriffe.

CW extra: Aber worin besteht denn nun der Unterschied?

Zöller: Web-Content-Management steht für Systeme, die es dem Anwender erlauben, komplexe Websites mit hochdynamischem Inhalt und einer Vielzahl von Inhaltsquellen wie ERP- und interaktive Katalogsysteme, Presseticker, Audio/Video-Objekte etc. zu verwalten. Weitere typische Anforderungen an solche WCM-Systeme sind beispielsweise die Integration mit Web-Autorensystemen und Redaktionsfunktionen oder Personalisierung für unterschiedliche Zielgruppen im Inter-, Intra- und Extranet.

Dokumenten-Management umfasst dagegen die Verwaltung unternehmensintern erstellter Dokumente, die noch Änderungen durch verschiedene Autoren unterliegen. Typische Funktionen dieser Systeme sind Genehmigungsprozesse, Versionierung und Check-Out. Zum Thema DMS gehören aber auch die elektronischen Archivsysteme mit ihrer Fähigkeit, sehr große Mengen von Objekten in Form von Dokumenten oder Altdaten revisionssicher zugriffbereit zu halten.

CW extra: Aber grundsätzlich sprechen die verschiedenen Lösungen doch dasselbe Problem an: Die Flut der elektronisch vorhandenen Inhalte in den Griff zu bekommen.

Zöller: Das schon, aber WCM, DMS und Archivierung unterscheiden sich fundamental hinsichtlich Art, Umfang und Anzahl der Objekte, die verwaltet werden, ihrer Änderungs- und Zugriffshäufigkeit, der Erfassungstechnologien, der Aufbewahrungszeiträume, der rechtlichen Anforderungen, der Nutzergruppen, der Client-Umgebungen, der Integrationsanforderungen und letztlich auch der Benutzer.

CW extra: Müssen Firmen, die Funktionen aus allen diesen drei Bereich benötigen, drei unterschiedliche Applikationen implementieren?

Zöller: Unternehmen fordern zu Recht übergreifende Konzepte, um den Systembetrieb und die Anwendungspflege zu vereinfachen. Die Übergänge zwischen DMS- und WCM-Systemen verschwimmen auch zusehends. Beispielsweise haben DMS-Hersteller wie Documentum WCM-Funktionen in ihre Produkte eingebaut. Ebenso integrieren Open Text und Lotus Portalfunktionen in ihre DMS-Umgebungen. Bei Microsoft ist es umgekehrt. Die Redmonder haben die Portalfunktionen des "Share Point Portal Servers" um DMS-Funktionen erweitert.

Andere DMS-Anbieter suchen die Integration mit WCM-Drittprodukten, zum Beispiel Filenet mit Vignette oder IBM mit Interwoven. Manche Hersteller aus dem WCM-Umfeld haben auf dem DMS-Markt akquiriert, um sich funktional zu ergänzen: Broadvision übernahm bei Interleaf und Magellan wurde von Gauss geschluckt.

CW extra: Wohin geht die technische Entwicklung von DMS?

Zöller: Erstens müssen die Hersteller ihre Produkte den neuen Architekturanforderungen anpassen: Web-Clients, n-tier-Architekturen, hohe Integrationsfähigkeit von DMS-Anwendungskomponenten sind hierfür die wichtigsten Schlagworte. Gerade auch der Integrationsaspekt spielt eine zentrale Rolle. Wir sehen zunehmend die Anforderung, dass verschiedene Hintergrundsysteme Dokumente oder sonstige Objekte vom DMS holen oder dem DMS übergeben wollen. Man kann oder will es sich aber nicht mehr leisten, ein DMS mit mehreren Hintergrundsystemen zu verbinden und beim nächsten Releasewechsel von Hintergrundsystem eins auch die Auswirkungen auf die Releasestände des DMS und der anderen Systeme berücksichtigen und anpassen zu müssen.

Zweitens werden die Objekte, die ein DMS heute verarbeitet, immer vielfältiger, ohne dass dafür an anderer Stelle etwas wegfällt: So wird es Papier noch lange geben. Auch der Eingang von Faxen nimmt zu, schneller noch steigt sogar die Zahl der E-Mails. Hier sind die Anbieter gefordert, dem Anwender Lösungen zur Verfügung zu stellen, die bei einfacher Bedienung trotzdem der Vielfältigkeit dessen Rechnung tragen, was zukünftig als "Post" hereinkommt.

* Bernhard Zöller ist Geschäftsführer der Zöller & Partner GmbH in Sulzbach/Taunus.

Typische Probleme

1. Gefährlich ist der Trend zur Vereinfachung in Form von Thesen wie: "Die Produkte sind alle gleich" oder "DMS wird Bestandteil des Betriebssystems". Aussagen wie diese klingen vielleicht plausibel, weil man die Aussage aus anderen Erfahrungen mit IT-Produkten nachvollziehen kann, sind aber im Bereich DMS grob falsch und erhöhen das Projektrisiko dramatisch. Die Produkte unterscheiden sich fundamental in Funktionalität, Skalierbarkeit, Qualität der Entwicklungsumgebung, Multi-Plattform-Fähigkeit und Integrationsfähigkeit.

Anwender sollten deshalb systematisch vorgehen: so konkret wie möglich die funktionalen und technischen Anforderungen ermitteln, Produkte anschauen, Kollegen nach deren Erfahrungen fragen. Auf der Grundlage des Anforderungskatalogs sollten die Entscheider dann zwei oder drei Produkte auswählen und sich die Dinge zeigen lassen, die sie benötigen.

2. "All-in-one"-Lösungen gibt es nicht. Die Themen Workflow, DMS, CMS, WCM, Output-Management, Portale etc. verlangen nach sehr spezifischen Funktionen. Ein Projekt ist zum Scheitern verurteilt, wenn alles unter einen einzigen "Produkt"-Hut gebracht werden soll. Unternehmen sollten daher darauf achten, welche Lösungen der Anbieter konkret installiert hat, nicht was heute als neueste Vision ankündigt wird.

3. Eine unklare Zielsetzung birgt die Gefahr, dass das DMS-Workflow-Projekt jede funktionale Lücke der vorhandenen Systeme schließen muss. Gerade das Thema Workflow lädt durch seine Unschärfe - die von den Anbietern ja nicht gerade verhindert wird - dazu ein, dem Projekt vieles von dem aufzuhalsen, was an Anwendungsbaustellen vorhanden ist. Eine frühzeitige klare Festlegung, welche Probleme gelöst werden müssen, sollen oder dürfen, beugt dem vor.

4. Ein großes Risiko steckt schließlich in der Unterschätzung der Folgen einer DMS-Einführung, etwa für die Arbeitsplatz-Ergonomie. Was bei der Einzelbelegbearbeitung noch nicht auffällt, bemerkt der Anwender, wenn er komplexe Aktenberge am PC bearbeiten soll. Statt einem zwei Quadratmeter großen Schreibtisch steht ihm jetzt nur noch ein vergleichsweise kleiner Bildschirm zur Visualisierung zur Verfügung. Statt der 3D-Sicht auf den Dokumentstapel gibt es nur 2D mit eher kümmerlichem Ersatz wie Reiterchen (Tabs), Baumstrukturen etc. Statt dem schnellen Blättern mit dem Daumen in einem 500-Seiten-Ordner muss er jetzt das Blättern am Bildschirm mit seinen Engpässen Bildschirm, Videokarte, LAN, Platten-I/O etc. lernen und akzeptieren. Das wird nur in Kauf genommen, wenn diese Nachteile durch spürbare Vorteile für den Benutzer oder das Unternehmen überkompensiert werden: Durch Wegeersparnis, einfaches Recherchieren und Weiterleiten von Dokumenten oder höhere Verfügbarkeit von Akten beispielsweise. Sind diese Vorteile in der Anwendung aber nicht relevant und sind die Dokumente dazu noch komplex und umfangreich wie Projektdokumentationen mit Tausenden von Seiten oder auch nur sehr groß - etwa A0-Zeichnungen in Konstruktionsbüros - dann drohen Performance- und Akzeptanzprobleme, die zum Scheitern des Projekts führen können.