Orwell -Anklänge im Forschungslabor

Xerox: Kopplung von Videos und Sound im Büro der Zukunft

26.10.1990

Früher haben vor allem Ingenieure darüber nachgedacht, was man mit Computern alles machen könnte. Nun sind auch Sozialwissenschaftler und Psychologen auf den Geschmack gekommen. Was dabei herauskommt, wird manch einem eher unangenehm berühren.

Hätte man raten müssen, was sich hinter den Backsteinmauern der Regent Street 61 im englischen Cambridge versteckt, die Vermutung "Anwaltskanzlei" hätte nahe gelegen. Der tatsächliche Inhaber der Liegenschaft heißt Rank Xerox und hat dort, eingeklemmt zwischen Läden und Büros, den EuroParc untergebracht, die europäische Filiale seines Forschungslabors Parc (Palo Alto Research Center, siehe Kasten).

Die Videokamera am Hauseingang verdient an sich noch keine große Beachtung - solche Dinger sind ja heute schon all Privathäusern installiert. Aufmerksam wird der Besucher erst angesichts der Tatsache, daß einen auch im Emfangsraum und in allen umliegenden Büros elektronische Augen anglotzen: Das ist eine Szenerie wie aus George Orwells Roman "1984"!

Video-Installation für Forschungszwecke

Den Xerox-Leuten ist die Verwunderung der Besucher inzwischen so vertraut, daß sie im Gespräch "Big Brother" ganz von sich aus aufs Tapet bringen - und rasch nachschicken, die Video-Installation diene hier in erster Linie Forschungszwecken.

Tatsächlich versuchen die Wissenschaftler, die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Technik, insbesondere zwischen Mensch und Computer, einzuordnen und zu verstehen. Das erklärte Ziel dieser Anstrengungen ist, die Nützlichkeit und Brauchbarkeit von Informationssystemen zu steigern. Und zu den Informationssystemen der Zukunft gehört eben nach Ansicht der Xerox-Forscher nicht nur der obligate Personal Computer, auf dem die normale Arbeit erledigt wird, sondern zusätzlich ein Video-Bildschirm. Darauf kann man auf Tastendruck sehen, was die im ganzen Haus verteilten Kameras im Focus haben.

"Wir wollen damit nicht die Leute ausspionieren", beteuert Tom Moran, ehemaliger Architekt, studierter Psychologe, Doktor der Computerwissenschaften und zur Zeit Direktor des Forschungsinstituts. Dahinter stecke vielmehr die Idee, informelle Kontakte unter den Mitarbeitern zu fördern. Wie man sich das vorstellen soll, erläutert sein Kollege Bob Anderson anhand eines Video-Bildschirms, der in vier Fenster unterteilt ist. Das erste zeigt eine Sekretärin an ihrem Arbeitsplatz; in zwei weiteren sieht man Forscher in den Büros, während das vierte Fenster Einblick gewährt in den Gemeinschaftsraum, wo sich im Moment niemand aufhält. Was langweiliger daherkommt als das Fernsehprogramm - das man übrigens auch einschalten kann -, hat hauseigenen Untersuchungen zufolge einen durchaus hohen Informationswert. Besucher und Forscherteam starren eine Weile auf die Mattscheibe.

Ach, da ist ja Paul", ruft Anderson plötzlich und zeigt mit dem Finger auf den Ausschnitt mit dem Gemeinschaftsraum, wo eben eine Person eingetreten ist. "Das erinnert mich daran, daß ich ihm noch etwas sagen muß." Ein Video-System im ganzen Haus, um täglich ein paar Erinnerungen aufzufrischen und den Kollegen vom Büro neben auf einer Mattscheibe zu sehen? Das kann doch nicht Sinn und Zweck der teuren Einrichtung sein!

Natürlich darf man das nach Ansicht der Xerox-Forscher nicht so eng sehen: "Die Kameras könnten ja irgendwo installiert sein", erklärt Anderson, "wenn's sein muß, am andern Ende der Welt."

Dann versucht der Soziologe, der vom Polytechnikum Manchester zum EuroParc-Team gestoßen ist und vor kurzem ein Buch über Unternehmensethnographie geschrieben hat, die versteckten Feinheiten solcher Systeme näherzubringen.

"Die heutige Geschäftswelt", holt Anderson aus, "funktioniert doch weitgehend nach bürokratischen Regeln: Sitzungen und Termine strukturieren den Arbeitstag; es bleibt wenig Zeit für informelle Kontakte.

Neue Technologien sollen soziale Kontakte fördern

Wir suchen deshalb nach Technologien, mit denen man das ändern könnte." Den Einspruch, daß Technik die bürokratischen Strukturen eher noch zementiert und zur Verarmung sozialer Kontakte beigetragen habe, wartet Anderson gar nicht erst ab - er ist ihm selber geläufig. "Es genügt eben nicht", doziert er, "Computernetze zu installieren und herkömmliche Videokonferenzen zu veranstalten. All dies ist viel zu starr. Wir brauchen neue Technologien, welche die sozialen Kontakte fördern. Das können beispielsweise Technologien sein, die eine spontane Diskussionsrunde ergeben, wie wir sie manchmal in der Teepause erleben. Es ist ja längst bekannt, daß sehr viele gute Ideen solchen informellen Gesprächen entspringen. Mit einem Computernetz kriegen Sie so etwas nie und nimmer hin; dazu muß man die Leute sehen."

Die Xerox Forscher hakten deshalb zuerst beim Medium "Video" ein und fragten sich, wie gut dieses unsere Körpersprache zu übertragen mag. Dabei stellten sie rasch fest, daß es beispielsweise schwierig ist, allein mit Blicken und Gesten am Bildschirm jemanden auf sich aufmerksam zu machen. Was fehlt, ist der Ton. Womit eine wichtige Sparte der Forschungstätigkeit am EuroParc angesprochen wäre. Der Spezialist auf diesem Gebiet, Bill Gaver, hantiert mit Synthesizer und Computer, um Sound-Effekte herauzutüfteln, die drei Arten von lnformationen ökonomisch weitervermitteln sollen: erstens die Meldung, daß etwas passiert, zweitens einen charakteristischen Hinweis auf das, was passiert und drittens einen Eindruck von der Größenordnung des Geschehens.

Am Anfang befaßte sich Gaver vor allem mit Sound-Effekten, welche die normalen Tätigkeiten der Computerarbeit unterstreichen. Das Öffnen eines Textdokuments könnte zum Beispiel mit einem Geräusch untermalt werden, das tönt, wie wenn man eine Broschüre auf das Pult legen würde. Ein Zischen im Lautsprecher könnte das Zusammenlegen zweier Dokumente charakterisieren, während ein hohler Ton dem Computerbenutzer anzeigen würde, daß er eben eine Datei gelöscht beziehungsweise in den elektronischen Abfalleimer geworfen hat. Je wichtiger oder folgenreicher die Tätigkeit, desto lauter das Geräusch. Das Löschen großer Datenbestände würde also ein donnerndes Echo auslösen. Da moderne Computer mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen können (man nennt das Multitasking), könnte ein synthetisches Hintergrundgeräusch darauf hinweisen, daß das System mit einer bestimmten Aufgabe beschäftigt ist. Wenn sich der Benutzer in diese Anwendung einschaltet, wäre das Geräusch deutlicher hörbar, als wenn er sich, elektronisch gesehen, von ihr entfernt.

Solche Hintergrundgeräusche zu entwerfen, ist keine leichte Aufgabe: Sie sollten den Benutzer auch über längere Zeiten nicht irritieren, aber doch so gut wahrnehmbar sein, daß er sofort merkt, wenn sie lauter werden oder verschwinden. Man kann die Situation mit jener eines Restaurants vergleichen: Die dauernde Geräuschkulisse stört die individuellen Gespräche der Gäste nicht; trotzdem nehmen diese sofort wahr, wenn sich etwas Wesentliches ändert. Für Bill Gaver, der an der University of California eine Doktorarbeit über Alltagsgeräusche geschrieben hat, ist das Sound-Engineering jedenfalls eine große Herausforderung.

Geräusche aus Lautsprechern untermalen im EuroParc aber nicht nur die Arbeit am Computer. Sie werden auch eingesetzt, um das Geschehen in der futuristischen Büroumgebung zu unterstreichen. Wenn es aus den Boxen gurgelt und brodelt wie kochendes Wasser, weiß jeder, daß es "Time for Tea" ist. Das Klopfen mit einem Hammer wiederum kündigt ein Meeting an. Ist dieses einmal im Gang, erschallt aus den Lautsprechern ein - natürlich synthetisches - Gemurmel von Leuten.

Sound und Video kombiniert ermöglichen natürlich auch Plaudereien oder Sitzungen am Bildschirm. Im gleichen Haus mag das wenig Sinn ergeben - zumindest nicht in der Theorie. Die Praxis zeigt aber, daß es dennoch geschätzt wird: Für zwei Sekretärinnen des EuroParc, die vorher das gleiche Büro teilten und nun auf verschiedenen Stockwerken tätig sind, sind die häufigen Kontakte am Bildschirm ein kleiner Trost dafür, daß sie räumlich voneinander getrennt wurden.

Die uneingeschränkte Begeisterung der EuroParc-Leute - es fiel kein einziges kritisches Wort - macht nachdenklich. Da sind doch wirklich alle Ingredienzien vorhanden, um ein perfektes Orwellsches Szenario zu veranstalten! Versuchshalber möchten die Xerox-Forscher lies sogar in die Tat umsetzen: elektronische Identitätskarten sollen dem zentralen Computer laufend den genauen Aufenthaltsort jedes Mitarbeiters mitteilen!

Nun geben Tom Moran und seine Leute zwar zu, daß die Assoziation zum Großen Bruder naheliegt. Aber gleichzeitig weisen sie darauf hin, daß das Individuum jederzeit die Freiheit habe, sich vor elektronischer Observanz zu schützen.

Stufenweiser Schutz vor ungebetenen Besuchern

Technisch wird dieser Schutz mit dem bereits erwähnten Sound-System realisiert. Die Idee dafür entnahmen die Forscher dem alltäglichen Geschehen in einem herkömmlichen Betrieb. Wer dort herumspaziert und in fremde Büros schaut, wird von den Anwesenden in der Regel wahrgenommen. Um das Gleiche bei einem Video-Spaziergang zu erreichen, hat Bill Gaver auf dem System das Geräusch einer knarrenden Tür installiert. Wenn es im Lautsprecher an der Decke knarrt, heißt das, daß sich jemand auf die Kamera im Zimmer geschaltet hat. Die Anwesenden können das Geräusch ignorieren oder, wenn sie neugierig sind, mit dem Finger den Sensor-Bildschirm berühren, worauf der Computer angibt, wer sich eingeschaltet hat.

Unterschiedliche Knarr-Geräusche teilen mit, ob die Tür offen, geschlossen oder mit einem Schild "Bitte nicht stören" versehen ist. Wer Ruhe braucht, muß also das Schild nicht nur vor seine wirkliche Tür hängen, sondern auch dem Videosystem einspeisen. Wenn dann ein Kollege "elektronisch" vorbeischauen möchte, ertönt bei diesem ein von Gaver entworfenes "Bitte-nicht-stören"-Geräusch. Natürlich kann sich der Kollege darüber hinwegsetzen - aber dann wird er durch ein deutliches Klopfen im Lautsprecher als Störenfried angekündigt. Die Erfahrungen haben gezeigt, daß sich mit einem solchen Sound/Videosystem ein stufenweiser Schutz vor ungebetenen Besuchern realisieren läßt: Der gewünschte Grad an Privatsphäre wird in der Regel genauso respektiert wie bei den Signalen, die jemand durch die Stellung seiner Bürotüre mitteilt. Versuchspersonen geben diesem System weitaus bessere Zensuren als dem gewöhnlichen Telefon, dessen undifferenziertes Klingeln als sehr störend empfunden wird.

"Gescheite Dinge mit dummer Technologie"

Bis solche Installationen das Leben in unseren Büros mitprägen, wird es allerdings noch eine gute Weile dauern. Allein der technische Aufwand dafür ist gigantisch: Kameras und Monitore in jedem Büro, das Ganze total verkabelt und via Computer miteinander vernetzt. Im EuroParc mit seinen bloß zwei Dutzend Angestellten jedenfalls füllt die dazu nötige Elektronik einen ganzen Raum. Für die Xerox-Forscher ist dies eine Nebensache - genauso wie der Orwell-Aspekt. Ihnen geht es darum herauszufinden, was man mit Technologie überhaupt machen kann. Daß dabei die Grenzen noch längst nicht erreicht sind, ist Tom Morans Schlußwort zu entnehmen: "Wir machen heute mit dummer Technologie gescheite Dinge, um morgen mit gescheiter Technologie brillante Dinge zu machen." Ob damit alle Betroffenen einverstanden sind, steht allerdings auf einem andern Blatt.

Felix Weber ist freier Wissenschaftsjournalist in Zürich

Einfach den Deckel auf das Objektiv

Was die von den Forschern im EuroParc angestrebte Video und Sound-Kommunikation für Folgen haben könnte, ist erst ansatzweise bekannt. Das hängt natürlich auch stark davon ab, wie weit man die Sache treibt. Diesbezüglich ist alles offen: Vorschriften oder gar Gesetze gibt es zur Zeit noch keine.

Entsprechend kühn bewegen sich die Soziologie-Technokraten auf diesem Neuland: Sie ziehen selbst so extreme Möglichkeiten wie das Aufzeichnen sämtlicher Aktivitäten oder die automatische Erkennung von Personen in Betracht. Im Moment scheitern diese beiden Maßnahmen zwar noch an der Technik: Videoaufzeichnungen brauchen sehr viel Platz, und die Technik der Bilderkennung und Zuordnung steckt noch in den Anfängen.

Doch was nicht ist, kann ja noch werden. Wer sorgt dann dafür, daß der "Große Bruder", der heute schon von Ferne winkt, nicht bald leibhaftig in den Büros und Verwaltungen auftaucht? Die Rezepte, welche die Xerox-Forscher dafür haben, scheinen mir weit weniger raffiniert zu sein als die Hochtechnologie, die den ganzen Zauber erst ermöglicht.

"Man muß halt dafür sorgen, daß die Leute Vertrauen haben und daß dieses nicht mißbraucht wird", erklärt Bob Anderson und zieht einen Vergleich zur Post: "lch übergebe meine Briefe der Post doch auch im Vertrauen, daß diese nicht geöffnet werden."

Und was empfiehlt Anderson jenen, die nicht mehr so recht glauben mögen, daß immer alles mit rechten Dingen zu- und hergeht? "Die sollen einen Deckel auf das Objektiv der Videokamera stecken und das Mikrophon ausschalten." Und, so müßte man hinzufügen, hoffen, daß keine andere Kamera das Geschehen trotzdem aufzeichnet... Felix Weber

High-Tech-Forschungsküche

Wenn es um die Computerzukunft ging, hatten die Forscher des US-Multis Rank Xerox schon immer die Nase vorn. Was man heute unter moderner Benutzerführung versteht - ein Bildschirm mit einprägsamen Symbolen, die man mit der Computermaus anklicken kann - wurde vor mehr als zehn Jahren im Xerox Parc (Palo Alto Research Center), in Kalifornien, ausgetüftelt. Aber Xerox war (und ist) eben ein Mischbetrieb, und so kam es, daß andere, wie Apple die guten Ideen zuerst aufgriffen, kommerzialisierten und damit das große Geld machten. Doch das ist eine andere Geschichte...

Jedenfalls hat dies Xerox nicht davon abgehalten, weiterhin viel Geld in die Forschung zu stecken - ganz im Gegenteil: vor zwei Jahren eröffnete das Unternehmen in der englischen Universitätsstadt Cambridge eine zweite Forschungsstätte, den EuroParc. Dort werden nun in erster Linie die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Computer studiert oder, vereinfacht gesagt, die Büroarbeitsplätze der Zukunft ersonnen. Dabei sollen auch spezifisch europäische Gesichtspunkte - vor allem natürlich im Hinblick auf EG92 - berücksichtigt werden.

EuroParc beschäftigt zur Zeit 14 vollamtliche Forscher drei wissenschaftliche Berater sieben Werkstudenten und ein halbes Dutzend Leute in der Administration. Neben eigentlichen Computerwissenschaftlern sind auch Psychologen, Linguisten und ein Typograph vertreten.

Cambridge wurde als Standort auserkoren, weil die dortige Universität einen ausgezeichneten Ruf genießt. Die Xerox-Forscher pflegen enge Kontakte mit dem Computer-Labor der Universität und der Abteilung für angewandte Psychologie.

Von den Ergebnissen wird nur ein kleiner Teil als Firmengeheimnis unter Verschluß gehalten. Die meisten Arbeiten werden publiziert und sind damit Fachkollegen auf der ganzen Welt zugänglich. (F.W.)