Herstellerabhängigkeit fährt unweigerlich in die Isolation:

X/Open-Group fordert Softwareportabilität

07.11.1986

Für die moderne SW-Entwicklung sind Standardisierung und Portabilität das Gebot der Stunde. Unter diesem Aspekt hat sich die X/Open-Group als Interessenvertreter des Unix-Konzepts etabliert. Wolfgang Raum* beleuchtet Historie und Aktivitäten der europäischen Hersteller-Vereinigung.

Die Softwareproduktion ist dadurch geprägt, daß es nur wenige Standards im Bereich der Programmiersprachen gibt. So werden insbesondere Betriebssysteme, die die Softwareabhängigkeit stark beeinflussen, für die Isolation entworfen. Dieser Mangel an Standardisierung führt letztendlich zu einer kaum vertretbaren Unproduktivität bei den Programmierkapazitäten.

Jeder Hersteller entwickelt mit hohem Aufwand seine eigenen, von seinen Hardwareprodukten abhängigen Betriebssysteme. Und die Anwender, die oft gezwungen sind heterogene Hardwaresysteme einzusetzen, müssen ihre Anwendungssoftware auf das jeweilige Betriebssystem mit hohen Kosten umstellen oder gar völlig neu entwickeln. Die Einführung neuer Hardwaretechnologien verzögert sich. Anwendungslücken und nicht voll ausschöpfbares Wachstum sind die Folgen.

Aufgrund dieser Tatsache entstand im Markt die Forderung nach einem Standard-Betriebssystem, das einerseits herstellerunabhängig vom Einplatzsystem bis hin zum leistungsstarken, mehrplatzfähigen Supermini kompatibel ist und gleichzeitig portable Anwendungssoftware zuläßt. Die positiven Aspekte dieses Konzepts sind für alle Beteiligten offensichtlich:

- Für den Benutzer, da er weniger an einen Hersteller gebunden ist und einen breiteren Anbietermarkt vorfindet.

- Für das Softwarehaus, weil es seine Software für einen größeren Bereich von unterschiedlichen Systemen anbieten kann.

- Für Computerhersteller wagen der schnelleren Verbreitung der Hardware und der geringeren Softwareentwicklungskosten.

Unix vereint auf den ersten Blick diese Vorteile in sich. Hardwareunabhängig bietet es eine bisher unbekannte Portabilität und wird heute als ein weltweiter Industriestandard akzeptiert.

Mit dem Betriebssystemstandard Unix ist allerdings nur der erste Schritt zur Portabilität getan. Unix wird von den Anbietern individuell um anwendungs- und systemnahe Software, zum Beispiel Datenbanken, Kommunikationssoftware, Tools, Benutzeroberflächen oder Sprachen ergänzt. Und die Portabilität der Anwendungssoftware ist wesentlich , eingeschränkt, solange nicht die gesamte Anwendungsumgebung vereinheitlicht und standardisiert wird. Genau hier ist die Initiative für die X/Open-Group begründet.

Die Gruppe wurde am 31. November 1984 von fünf europäischen Computerherstellern - Bull, ICL, Nixdorf, Olivetti und Siemens durch Unterzeichnung eines "Agreement of the Open Unix Group" - gegründet. Jeder dieser Hersteller hatte zu diesem Zeitpunkt die Entscheidung getroffen, das Betriebssystem Unix für Teilbereiche einer zukünftigen Produktpalette bereitzustellen. In 1985 kamen Ericsson und Philips hinzu. Mit Digital Equipment, Sperry und Hewlett-Packard ist der Kreis inzwischen heute auf zehn Hersteller angewachsen. Gleichzeitig wird die Interessengemeinschaft weiterhin eine offene Gruppe bleiben. Der Beitritt amerikanischer Hersteller hat den Gruppeneinfluß auf dem amerikanischen Markt positiv beeinflußt und demonstriert deutlich die Internationalisierung von X/Open:

Die Mitglieder müssen führende und international auftretende Hersteller sein und über ein möglichst breitbandiges Unix-Produktspektrum verfügen. Mit dem jeweiligen Angebot soll das UNIX-Engagement des Unternehmens unterstrichen werden. Darüber hinaus wird sichergestellt, daß für eine aktive Mitarbeit in der X/Open-Group genügend Fachressourcen aus Entwicklungsbereichen zur Verfügung stehen.

Die Gruppe ist informell organisiert. Die beteiligten Unternehmen sind gleichberechtigte Partner. Die Zusammenarbeit und die Zielsetzung werden durch verschiedene "Group Agreements" klar geregelt. Zuständig sind in der Regel Führungskräfte der Unix-Produktbereiche der jeweiligen Hersteller sowie Mitarbeiter aus den Gebieten Entwicklung und Marketing. Neben einer Kostenbeteiligung hat jede Mitgliedsfirma einen Beratungs- und Dienstleistungsaufwand von acht bis zehn Mannjahren im Kalenderjahr zu erbringen. Die Schwerpunkte der Beiträge sind

- strategische Planung: Zielsetzung in der Standardisierung, Entwicklung der Gruppe, Zusammenarbeit mit weiteren Standardisierungsgremien;

- Technik: Auswahl und Definition der Standards, Adaption sowie Veröffentlichung;

- Marketing: Öffentlichkeitsarbeit.

Alle Arbeitsergebnisse stehen jedem Interessierten wie Anwendern, Softwarehäusern und anderen Computerfirmen frei zur Verfügung. Mit dem Namen X/Open ist diese "offene" Arbeitsweise gekennzeichnet.

In den gemeinsam unterzeichneten "Group Agreements" wird als Ziel der X/Open-Aktivitäten die Schaffung eines "Common Application Environment" genannt, das für Anwender und Softwarehäuser die Möglichkeit bietet, hardware- und herstellerunabhängig Anwendungen zu entwickeln. Diese einheitliche Anwendungsumgebung soll alle Komponenten umfassen, die für eine portable Software wesentlich sind: zum Beispiel Betriebssystem, Sprachen, Datenbanken, Filemanagementsysteme, Netzwerke und Kommunikation, Internationalisierung, Benutzerinterfaces und Quellcode-Transfer zwischen Systemen.

Wenn die Rede von einem X/Open-Standard ist, so sei darauf hingewiesen, daß die X/Open-Group keinen neuen Standard schaffen will, sondern international bestehende und vorn Markt breit akzeptierte Standards - definierte oder De-facto-Standards - auswählt und festschreibt. Die Ergebnisse - der X/ Open-Standard - werden in sogenannten "Portability Guides" veröffentlicht.

Als erste grundlegende Entscheidung wurde festgelegt, Unix System V von AT&T als Betriebssystemstandard zu übernehmen bzw, die "System V Interface Definition" (SVID), wie sie im Jahre 1985 von AT&T veröffentlicht wurde. Die erste Ausgabe des Portability Guide erschien im Juni 1985. Sie beschreibt im wesentlichen die Schnittstellen zu Unix, definiert das Datenmanagement und legt den Sprachumfang für wichtige Programmiersprachen fest.

Definiert sind derzeit die Sprachen "C", Fortran und Cobol. Die C-Definition basiert auf dem "Unix System V Programming Guide" von AT&T. Der X/Open-Standard für Cobol orientiert sich am ANSI-Standard X3.23-1974, Fortran entspricht ANSI Fortran 77-X3.9. Die Standardisierung der Zugriffsverfahren geht bei X/ Open über die System-V-Definition hinaus. In einem ersten Schritt wurde die indexsequentielle Dateiverwaltung, die Isam-Zugriffstechnik, festgeschrieben.

Selbstverständlich ist mit dem vorliegenden Portability Guide die angestrebte "einheitliche Anwendungsumgebung" noch nicht vollständig definiert. In der zweiten Ausgabe des Portability Guide - die Ausgabe erfolgt im November 1986 - werden schwerpunktmäßig Unix-Kommandos, Terminal-Interfaces, Interprozeß-Kommunikation, Schnittstellen zu Utilities sowie Schnittstellen zu relationalen Datenbanksystemen definiert. Zur Definition, Manipulation und Abfrage relationaler Datenbanken orientiert man sich an der Datenbanksprache SQL. Als Inhalt des folgenden Portability Guide sind Themen wie Transaktionsverarbeitung, und Kommunikation geplant.

Definition und Festschreibung von Standards ist die eine Seite. Die Durchsetzung im Markt und das Auslösen einer Marktnachfrage ist der andere Aspekt. Der Erfolg von Standards ist nicht nur eine Frage der Technik, sondern wird auch durch die Service-Infrastruktur bestimmt. Beispielsweise ist der unterschiedliche Erfolg von "Bildschirmtext" in den verschiedenen Ländern nicht auf die Technik, sondern auf den jeweiligen Servicegrad zurückzuführen. Gelingt es, die strategische Tragweite von Merkmalen wie "Standards", "Offene Systeme" und "Portabilität" im Markt bewußt zu machen und Anwendern sowie Softwarehäusern mit dem Portability Guide den praktischen Orientierungsrahmen zu liefern, so ist der Erfolg von X/ Open vorgezeichnet.

Der größte durch X/Open initiierte Nutzen wird auf der Seite der Anwender liegen. Portable, hardware- und herstellerunabhängige Anwendungssoftware bringt dem Endkunden vielfältige Vorteile, zum Beispiel eine wachsende Verhandlungsstärke gegenüber den Anbietern. Der Anwender wird freier in der Wahl seines Herstellers, da er sicher ist, immer alternative Hardware einsetzen zu können, ohne erneut in Software investieren zu müssen - was bisher den Herstellerwechsel fast unmöglich machte. "Zukunftssicherheit von Software-Investitionen in einem wachsenden Anwendungs-Softwaremarkt" umreißt zusammenfassend den Hauptnutzen für den Anwender.

Softwarehäuser, die ihre Pakete am X/Open-Standard ausrichten, finden mit ihren Anwendungen, die sie vielleicht bisher nur für eine spezielle Hardware anbieten konnten, Zugang zu neuen Hardwaremärkten und zusätzlichen Vertriebskanälen.

Die Verbreitung von Unix-Systemen entsprach in einigen Marktsegmenten nicht den Erwartungen und dem möglichen Potential. Begründen läßt sich das mit der - nunmehr der Vergangenheit angehörenden - Unsicherheit über die sich als Standard durchsetzende Unix-Version sowie mit der Tatsache, daß umfassende Lösungen fehlten. Die Einführung des X/Open-Standards, die Realisierung der Portabilität, die Verfügbarkeit "Offener Systeme" sowie die breiten Unix-Produktfamilien der Gruppenmitglieder und deren überzeugendes Engagement zugunsten von Standards zielen darauf, die bisherigen Markthindernisse im Unix-Markt zu beseitigen.

Die ersten Erfolge zeichnen sich bereits ab. Unabhängige Benutzergruppen empfehlen beispielsweise X/Open, und große europäische Behörden spezifizieren ihre Ausschreibungen nach dem X/Open-Standard.

Last, but not least sei darauf hingewiesen, daß X/Open keine Einrichtung ist, die den Wettbewerb - auch den zwischen den Mitgliedern - beschränken wird, sondern eher der Motivationsfaktor für mehr und qualifizierteren Wettbewerb ist. Unterschiede und Differenzierungspotential liegen im Bereich des Produktspektrums, in der Bereitstellung umfangreicher Anwendungssoftware, in der Kundenorientierung und in der Bandbreite des Beratungs- und Dienstleistungsangebots.

* Wolfgang Raum ist Leiter des Produktbereichs Dezentrale Systeme der Nixdorf Computer AG, Paderborn, und Mitbegründer der X/ Open-Group.