Electronic Mail steht weiter im Schatten von Telex und Telefax, aber

X.400 wird sich im Binnenmarkt zur etablierten Norm mausern

22.05.1992

Electronic Mail hat sich nach Ansicht von Paul G. Maciejewski* zu einem nicht mehr wegzudenkenden Kommunikations-Instrument in der heutigen Wirtschaft entwickelt, auch wenn die Installationszahlen bisher noch keinen durchschlagenden Erfolg nachweisen. Der Autor versucht in seinem Beitrag, diese These zu untermauern und verweist dabei vor allem auf die vielfältigen Einsatzgebiete der elektronischen Post.

In Fachzeitschriften und Herstellerinformationen werden heute synonym zum Begriff Electronic-Mail-System (E-Mail, EMS) die Bezeichnungen Message Handling System (MHS), Message Oriented Text Interchange System (Motis) sowie Mailbox-System, seltener Computer Mail (CM) oder Computer Based Message System (CBMS), verwendet. Im deutschen Sprachgebrauch haben sich darüber hinaus alternativ zum Ausdruck elektronische Post die Bezeichnungen elektronisches Briefkastensystem und elektronisches Mitteilungssystem eingenistet.

Orientierung an der "Gelben Post"

Die logische Struktur eines E-Mail-Systems orientiert sich am Vorbild der "Gelben Post". Alle bei ihr vorkommenden physischen Vorgänge werden elektronisch nachgebildet: Das Erstellen, das Versenden, die Zustellung, der Zugang sowie die Ablage einer Nachricht. Dies ermöglicht den papierlosen Austausch von Nachrichten in Form von Text, Grafik, Daten, Bildern und Sprache. Als softwaregesteuertes Kommunikationsmedium erfordert ein funktionstüchtiges E-Mail-System daher das Zusammenwirken von Hard- und Software sowie einem entsprechend geeigneten Übertragungsmedium.

Die herkömmlichen "Utensilien" eines Postkunden, etwa Briefkasten, Briefpapier und Briefumschlag, werden durch eine Benutzerschnittstelle - in der Regel ein PC beziehungsweise Terminal einer Großrechneranlage - ersetzt. Diese Benutzerschnittstelle ist über Anschluß an ein beliebiges Netzmedium (LAN, öffentliche Netze) in der Lage, mit der Zentrale des Systems (Mailbox-Rechner) zu kommunizieren.

Der Mailbox-Rechner ersetzt im E-Mail-System die Funktionen des Postamtes indem er die Zuordnung der ein- und ausgehenden Nachrichten (Messages) steuert. Die von den Benutzerschnittstellen der angeschlossenen Teilnehmer ausgehenden Nachrichten werden auf ihre Adressierung hin überprüft und anschließend an den Empfänger weitergeleitet. Ist der Empfänger im Moment der Zustellung im System "online" - das heißt zu diesem Zeitpunkt an einer eingeschalteten Benutzerschnittstelle unter seiner Benutzerkennung angemeldet -, kann ihm der Mailbox-Rechner den Zugang der Nachricht mitteilen (via Bildschirm- beziehungsweise akustischer Meldung), um ihn zu deren sofortigem Abruf zu veranlassen. Im anderen Fall wird die Nachricht solange zwischengespeichert, bis der Empfänger sie zur Kenntnisnahme und einer eventuell weiteren Verarbeitung abruft.

Bei Systemen, die durch den Anschluß an ein öffentliches oder an ein kommerziell betriebenes privates Netz extern kommunizieren können, werden die Nachrichten im Rechner des versendenden Systems gegebenenfalls zur Datensicherung verschlüsselt und einer zusätzlichen Adressenprüf- und Vervonständigungsprozedur unterworfen, bevor sie über ein Modem weitertransportiert werden. Der Weg bis zum Mailbox-Rechner der Empfangsstation (wo die Nachricht wieder verschlüsselt wird) und zur Empfänger-Benutzerschnittstelle führt im Einzelfall über einen oder mehrere weiterleitende Rechner.

Unternehmen setzen E-Mail-Systeme oft als Bestandteil umfassender Bürokommunikationslösungen in Form einer geschlossenen Benutzergruppe ein. Hauptziele dieser Einsatzform sind die Rationalisierung und Beschleunigung der unternehmensinternen Kommunikation, da vor allem das Papiervolumen und die Anzahl der Telefonate durch das Versenden elektronischer Nachrichten verringert werden können. Nicht am Arbeitsplatz anwesende Mitarbeiter sind darüber hinaus in der Lage, sich nach Rückkehr "elektronisch" über eingegangene Nachrichten zu informieren. Anwendungsbeispiele für die unternehmensinterne Kommunikation über Electronic Mail sind:

- Hausmitteilungen, Memos, Terminplanungen,

- gemeinsames Erstellen von Dokumentationen,

- Dokumentenaustausch bei der Bearbeitung von Verwaltungsvorgängen,

- Steuerung von Außendienstmitarbeitern

- Nachrichtenverkehr zwischen Zentrale und Niederlassung einer örtlich verteilten Organisation.

"Offline"-Kommunikation gewährleistet Effizienz

Über Schnittstellen zu öffentlichen Netzen oder kommerziellen Privatnetzen wird Electronic Mail auch zum ortsunabhängigen Kommunikationsmedium. Im Vergleich zu Inhouse-Systemen erhöht sich jedoch bei externer Nutzung der Grad der technischen Komplexität erheblich. Fragen der Datenfernübertragungstechnik (DFÜ), Inkompatibilitäten zwischen verschiedenen Computersystemen sowie zwischen E-Mail-Software-Produkten müssen dabei berücksichtigt werden.

E-Mail-Systeme ermöglichen ferner die sekundenschnelle diskrete Kommunikation von Person zu Person unabhängig von Entfernung und Ortszeit. Diskretion und Sicherheit, die durch eine persönliche, kennwortgeschützte Mailboxadresse gewährleistet sind, können von keinem vergleichbaren Medium wie Telex, Teletex oder Telefax geboten werden. Die Möglichkeit, Nachrichten "offline" zu erstellen, sichert zudem die Wirtschaftlichkeit dieser Kommunikationsform, da die gebührenpflichtige Nutzungszeit des Übertragungsmediums nur von der möglichen Datenübertragungsgeschwindigkeit sowie vom Volumen der zu übertragenden Daten abhängig ist.

84er X.400 und F.400 garantieren Offenheit

Die von der CCITT bereits 1984 verabschiedeten Empfehlungen der Serien X.400 und F.400 enthalten die ersten internationalen Standards der Anwendungsschicht sieben des OSI-Referenzmodelles. Diese Standards ermöglichen erstmals die Anwendung der E-Mail-Technologie in Gestalt eines offenen, weltweit kompatiblen Kommunikationsdienstes. Im Detail ist dabei festgelegt, wie E-Mail-Systeme, auch wenn sie von verschiedenen Herstellern stammen, zusammenarbeiten können. Fast alle bekannten Hersteller haben inzwischen Electronic-Mail-Produkte nach X 400 entwickelt.

Die CCITT-Empfehlungen wurden 1988 korrigiert und fortgeschrieben. In diesen endgültigen Entwurf für Message Handling Systems wurden auch die neu erarbeiteten Empfehlungen der Serien X.500/F.500 mitaufgenommen. Das in ihnen definierte virtuelle Datenbanksystem (Directory) ermöglicht einen weltweiten Zugriff auf elektronische Adreßinformationen. Dieser Standard ist für den Erfolg von elektronischer Post nach X.400/F.400 von besonderer Bedeutung, da er im übertragenen Sinne ein globales "Telefonbuch" für X.400-Nutzer, wie auch für Anwender anderer moderner Kommunikationsdienste, darstellt.

Mit Telebox 400 bezeichnet beispielsweise die Telekom die von ihr betriebene Administration Management Domain (ADMD) für den Versorgungsbereich Bundesrepublik Deutschland Aufgrund der nationalen gesetzlichen Bestimmungen sowie der internationalen Regelungen ist die Deutsche Bundespost, respektive die Telekom, derzeit der einzig legitime ADMD-Betreiber in Deutschland. Das Telebox-400-System unterstützt alle Basis- und wahlfreien Leistungsmerkmale, die nach den X400/F.400-Empfehlungen in der Version 1984 von einem mit einem Infrasstrukturauftrag versehenen Anbieter wie der Telekom bereitzustellen sind.

Seit Einführung der Standards haben sich eine Vielzahl von Gremien und Projektgrupppen etabliert, um X.400-konforme Systeme aufzubauen und zu betreiben Eine dieser Organisationen ist der DFN Verein, eine Selbsthilfeorganisation der Wissenschaft in Sachen Datenkommunikation. Als zentrale Aufgabe sieht man dort die Förderung des Aufbaus einer auf OSI Normen basierenden offenen Datenkommunikations-Infrastruktur. Mit rund 15000 Teilnehmern ist im DFN eine der weltweit größten X.400-Nutzergruppen aktiv.

Kommunikationsdienste für EG-Forschungsprogramme

Das "Y-Net"-Pilotprojekt als weiteres Beispiel ist Teil des Europäischen Strategischen Forschungs- und Entwicklungsprogrammes auf dem Gebiet der Informationstechnologien (Esprit). Ziel ist, europaweite Kommunikationsdienste für Teilnehmer dieses Programmes und anderer Forschungs- und Entwicklungs-Programme der EG bereitzustellen.

In einer ersten Phase werden die Standards X.400 und FTAM (Filetransfer) benutzt. Weitere OSI Standards wie X.500 und ODA sind für die zweite Phase des Projekts vorgesehen. Das Konzept von Y-Net ist besonders auf kleine und mittlere Unternehmen, die an den EG-Programmen teilnehmen, ausgerichtet.

Das Management des vierjährigen Projekts liegt in Händen der italienischen Firma Teleo Spa, die ein kleines zentrales Team, die "Y-Net Management-Unit" (YMU), in Brüssel etabliert hat. Für den Betrieb und das Management von Y-Net-Knoten werden in jedem ES-Mitgliedsstaat sogenannte National Operational Units (NOU) eingerichtet, die von der YMU über Subkontrakte an geeignete Organisationen vergeben werden. Die NOUs sind darüber hinaus für alle Fragen der Unterstützung und Betreuung der Endbenutzer zuständig.

Esprit trägt die Kosten für Betrieb, Management und Benutzerunterstützung. Die benötigte Hard- und Software des Netzes wird im Rahmen einer Kooperation einer Gruppe europäischer Hersteller (Bull, SNI, Olivetti und Alcatel) kostenfrei zur Verfügung gestellt. Die wesentlichen Komponenten, auf denen das Netz aufbaut, sind "Service Points" (komplette Systeme) und Gateways. Die Service Points versorgen die Benutzer des Netzes mit den der Reihe nach einzuführenden für X.400, FTAM, X 500. Die Benutzer wiederum greifen auf diese Dienste über öffentliche Netze wie X.25 oder Telefon zu.

Dittes Beispiel ist die Interpak-Projektgruppe der Telekom. Sie wurde etabliert, um stark international agierenden Unternehmen umfangreiche X.400 Dienstleistungen weltweit anbieten zu können. Die Dienste werden über das internationale X.25-Netzwerk des VAN-Betreibers Infonet bereitgestellt, an dem die Telekom in zwischen zusammen mit neun weiteren PTTs beteiligt ist. Der Zugang zum Infonet ist über einen der in mehr als 30 Ländern installierten Infonet-Netzknoten möglich. Diese sind aus über 100 Ländern erreichbar.

Das Interpak-Konzept sieht den Aufbau, den Betrieb und die Wartung der internationalen Netzwerke für ihre Kunden vor.

Dadurch haben Interpak-Kunden nur einen verantwortlichen Ansprechpartner. Notice-E-Mail verfügt über alle X.400-Funktionen.

In Europa fehlen große E-Mail-Anbieter

Über Übergänge sind alle Telex- und Faxgeräte weltweit ansprechbar. Gemeinsam mit anderen Service-Providern, zum Beispiel der Postgem (Irland) und der PIT (Niederlande), bietet Interpak inzwischen in neun Ländern EDI-Services für den Austausch standardisierter Geschäftsdokumente an. Der ungeheuer schnell wachsende Informations- und Kommunikationsbedarf in unserer Industriegesellschaft stellt also ohne Zweifel ein enormes Marktpotential für elektronische Unterstützung beziehungsweise Ersetzung der überlasteten, herkömmlichen Briefpost dar. Welchen Anteil externe E-Mail-Systeme in der näheren Zukunft an diesem Markt haben werden, hängt jedoch in erster Linie von ihrem Durchsetzungsvermögen gegenüber den anderen elektronischen Kommunikationsformen ab.

In den frühen achtziger Jahren glaubte man in den USA bereits an einen durchschlagenden Erfolg von E-Mail. Die Folge: Amerikanische Anbieter investierten Millionen in die Werbung neuer Benutzer. Daß dann jedoch die Zuwachsraten eher moderat blieben, waren letztlich darauf zurückzuführen, daß E-Mail sehr viel technisches Verständnis erfordert und sich nicht besonders gut für den Versand von Bildern eignet. In Europa hingegen waren in diesem Zeitraum noch keine vergleichbaren Ansätze erkennbar.

Das Marketing der Postmonopolisten konzentrierte sich hier mehr auf den Videotext Bereich (Deutschland Btx; Frankreich Minitel) - Projekte wie Telebox wurden eher zögerlich in Angriff genommen. Große E-Mail-Anbieter fehlten daher vollständig im Markt.

Inzwischen, besonders in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, konnte sich ein anderer Dienst durchsetzen, nämlich der Fax Standard der Gruppe 3. Dieser führte zum Bau von Faxgeräten, die einen zuverlässigen und relativ schnellen Faxversand gewährleisten. Gerätepreise von unter 1000 Mark machten diese Technik derart populär, daß es inzwischen selbst für Kleinunternehmen und Selbständige fast unumgänglich geworden ist, über ein Faxgerät erreichbar zu sein.

Trotz des spürbaren Popularitätsschubes, den die E-Mail-Technik durch die internationale Standardisierung erfahren hat, wird sie den weiteren Erfolg der Faxgeräte daher auch in den nächsten Jahren nicht in Frage stellen können. Die Vorteile von E-Mail-Systemen - umfangreiche Anwendungsmöglichkeiten, Unabhängigkeit vom Datenformat, hohe Übertragungsgeschwindigkeiten und die Gewährleistung diskreter Kommunikation - werden momentan noch von der bestechenden Einfachheit der Fax-Technik übertrumpft.

Nicht nur die komplexe Technik, sondern auch die teilweise ungenügende Infrastruktur der Übertragungsmedien läßt daher einen "Ad-hoc"-Erfolg von E-Mail nicht erwarten. Das Beispiel der neuen Bundesländer verdeutlicht, daß vielerorts erst noch die Voraussetzungen für eine leistungsfähige Datenkommunikation geschaffen werden müssen.

Trotz Telex gehört E-Mail die Zukunft

Hinzu kommt, daß die Kommunikation mit vielen Entwicklungsländern auf absehbare Zeit noch mittels des technologisch mittelalterlich anmutenden Telex-Dienstes stattfinden wird müssen. Dies bestätigen auch die zwar rückläufigen, aber immer noch meßbaren Zuwachsraten dieses weltweit meistgenutzten Dienstes.

Wenn auch für E-Mail eine dem Telex oder Fax-Netz entsprechende Verbreitung noch außer Sichtweite ist, wird die Entwicklung der nächsten Jahre, zumindest europaweit, dennoch eine Vervielfachung der bestehenden X.400-Adressen mit sich bringen.

Alle Unternehmen, die im Binnenmarkt überregional agieren und auf die schnelle, zuverlässige und vertrauliche Übermittlung von Text- und Datendokumenten angewiesen sind, werden nämlich früher oder später die Vorzüge standardisierter E-Mail-Kommunikation erkennen.