E-Mail zunächst nur im kommerziellen Sektor

X.400 hat den Durchbruch bislang noch nicht geschafft

19.04.1991

*Dr. Rüdiger Both ist Senior Consultant des Geschäftsbereiches Telecom bei Cap Gemini SCS in München.

Das A und O bei der Renlisierung einer E-Mail-Lösung ist die frühzeitige Analyse der betrieblichen Anwendungen. Sinn oder Unsinn einer Implementation sollten vorab kritisch hinterfragt werden. Rüdiger Both* stellt in seinem Artikel einen entsprechenden Fragenkatalog auf, der E-Mail mit anderen Formen der elektronischen Datenübertragung vergleicht.

Der Terminus Electronic Mail beschreibt ein rechnergestütztes System zur asynchronen Übermittlung von Dokumenten beliebiger Form und beliebigen Inhalts. Asynchron arbeitende Systeme besitzen die Fähigkeit, die zu übermittelnden Informationen zwischenzuspeichern. Die Beteiligten der Kommunikation sind nicht zeitlich gebunden, also nicht "synchronisiert". Die Kommunikationspartner können Personen oder Verarbeitungssysteme sein.

Die Evolution der Infrastruktursysteme

Zunächst einige grundsätzliche Überlegungen: Die Geschichte der modernen Industriegesellschaften ist identisch mit der Evolution ihrer Infrastruktursysteme. Diese-über lange Zeiträume vor allem Systeme des physischen Transports von Waren und Gütern-wurden in ihrer Nuancierung zunehmend komplettiert und schließlich dominiert durch die informationstechnische Komponente, sprich: die Übermittlung von Informationen.

Der Informationsaustausch selbst, insbesondere der zwischen privaten Kommunikationspartnern, kann durchaus als Selbstzweck existieren, stellt jedoch im Kontext mit wirtschaftlichen Zusammenhängen Vorgänge dar, die Warenströme vorbereiten, begleiten und auch nachbereiten.

Die Anforderungen an die Methoden des Informationsaustausches und die Kriterien ihrer Qualifizierung entsprechen denen des Warenaustausches: Schnelligkeit, Verfügbarkeit, Zuverlässigkeit, flächendeckende Erreichbarkeit von Adressaten und Partnern, benötigter Aufwand und Wirtschaftlichkeit, einfache Handhabbarkeit und generell die Akzeptanz des Systems bei den potentiellen Nutzern.

Der physische Transport der Nachrichten wurde komplementiert durch die elektrische Übermittlung etwa via Telex und Telegramm. Allen Übertragungsarten gemeinsam war und blieb jedoch die Verwendung von Papier als Träger der Information. Der Medienbruch im Zuge der Weiterverarbeitung der Information war Bestandteil des Systems. Der elektronische Nachrichtenaustausch wurde eine mögliche, auch potentiell wirtschaftliche Alternative durch die Durchdringung vor allem des wirtschaftlichen Bereiches mit informationstechnischen Systemen.

Zunächst allerdings stand der "elektronischen Post" die Realität der proprietären Verarbeitungssysteme entgegen. Electronic Mail gab es in zumeist limitierter Funktionalität nur innerhalb von Herstellerwelten. Prädestiniert für den Versuch, Ordnung in das E-Mail -Wirrwarr zu bringen, waren die beiden international bedeutendsten Standardisierungsgremien ISO und CCITT.

Wesentliche Vorarbeit für die Kommunikation in offenen, herstellerunabhängigen Systemen hatte die ISO mit der Entwicklung des OSI-Referenzmodells geleistet. Die für E -Mail nötige Ausprägung der Ebene 7 des Referenzmodells war das Ergebnis einer Zusammenarbeit zwischen der ISO und der CCITT sowie der europäischen

ECMA (European Computer Manufacturers Association). Als Ausdruck der Bedeutung, die dem Thema beigemessen wurde, kann gewertet werden, daß die CCITT-Empfehlungen der Serie X.400 (bis X.430) der erste internationale Standard der Anwendungsschicht-der Ebene 7-waren. Die Verabschiedung der X.400-Empfehlungen für E-Mail erfolgte im Jahre 1984. Sie wurden 1988 entsprechend dem vierjährigen Sitzungsturnus der CCITT korrigiert und fortgeschrieben.

Parallel zur Arbeit der CCITT als Fortsetzung der früher aufgenommenen Standardisierungsaktivitäten entstand in der ISO der Standardentwurf 10021 für ein Message Oriented Text Interchange System (Motis). Der Entwurf ist in seinen wesentlichen Teilen identisch beziehungsweise kompatibel zu den X.400-Empfehlungen der CCITT. Im Jahre 1988 wurde im übrigen auch der Begriff Message Handling System (MHS) als generische Bezeichnung für ein normenkonformes "Meldungsübermittlungssystem" geprägt.

Vor dem Hintergrund der zunehmenden Bedeutung von offenen Systeme und offener Kommunikation sowie aufgrund der relativ frühzeitigen Verfügbarkeit stabiler Standards engagierten sich viele Hersteller in der Entwicklung von E-Mail Produkten auf der Basis des X.400-Standards. Heute fehlt in der Liste der Anbieter kaum ein bekannter Namen des IT-Busineß.

Dennoch hat der X.400 Standard gegenwärtig noch nicht die erwartete Verbreitung gefunden. Die Gründe dafür sollen durch eine anwendungsorientierte Betrachtung der Problematik erarbeitet werden. In diesem Zusammenhang stellen sich die im Kasten aufgeführten Fragen:

Bei der Frage, welche Partner Dokumente austauschen, kann zum heutigen Zeitpunkt mit einiger Berechtigung davon ausgegangen werden, daß E-Mail ganz wesentlich im kommerziellen Sektor genutzt wird. In diesem Bereich treten die Vorteile schneller als im privaten zutage, hier zahlt sich ein beschleunigter Informationsfluß eher aus.

Die Kommunikationsbedürfnisse kommerzieller Organisationen erstrecken sich auf zwei Felder, die interne Kommunikation und die Kommunikation mit externen Partnern. Beispiele für die interne Kommunikation sind:

- Hausmitteilungen, Memos, Terminplanungen,

- gemeinsames Erstellen von Dokumentationen,

- Dokumentenaustausch bei der Bearbeitung von Verwaltungsvorgängen, aber auch

- Steuerung von Außendienstmitarbeitern oder

- Nachrichtenverkehr zwischen Zentrale und Niederlassung einer örtlich verteilten Organisation.

Kennzeichnend für die interne Kommunikation ist, daß nur Partner miteinander kommunizieren, die einer einheitlichen Organisation angehören. Ein Zwang zur Vereinheitlichung der Kommunikationsprozeduren besteht nur innerhalb dieser einheitlichen Organisation. Diese Vereinheitlichung kann notfalls auf dem Verordnungsweg durchgesetzt werden. Anders stellt sich die Situation dar, wenn Dritte in den Kommunikationsprozeß involviert sind wie es zum Beispiel beim Austausch von Geschäftsbriefen beim Zahlungsverkehr mit Kunden und Lieferanten sowie dem Bestellwesen der Fall ist. Für diesen Anwendungsfall besteht ganz eindeutig die Notwendigkeit, möglichst international genormte Übertragungsprotokolle zu nutzen, um für beliebige Partner offen zu sein.

Wirft man einen Blick auf die Dokumente, die bei interner und externer Kommunikation anfallen, so stellen sie sich als ausgesprochen heterogen dar. Ganz allgemein betrachtet, kann ein Dokument aus den Elementen Text, Grafik, Bild und Daten beziehungsweise einer Kombination einzelner Elemente bestehen. Die folgende Aufstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, gibt aber einen Eindruck von der möglichen Komplexität verschiedener Dokumente:

Textdokumente können aus einer sinnvollen Aneinanderreihung von Buchstaben bestehen, aber auch durch unterschiedliche Schriftarten, Kursiv- oder Fettdruck, Unterstreichen oder Hinterlegen lesbarer gemacht werden.

Text und Grafik findet sich in Formularvordrucken wieder, aber auch bei der Darstellung von Firmenlogos, technischen Zeichnungen oder bei Unterschriften.

Text und Bild enthalten Dokumente, die beispielsweise Marketing- und Produktinformationen zu Außendienstmitarbeitern oder Kunden transportieren.

Text und Daten findet man in allen Dokumenten, die im Bestell- und Rechnungswesen ausgetauscht werden.

Grafik ist das bestimmende Element bei handschriftlichen Mitteilungen und Zeichnungen aber auch bei Dokumenten, die nicht selbst an einem eigenen System (PC) erzeugt, sondern über einen Scanner erfaßt wurden.

Zwei oder drei Dokumentenformen

Sicher fallen innerhalb einer Organisationseinheit nicht beliebige Arten von Dokumenten an. Vielmehr wird sich die Komplexität auf zwei, drei Dokumentenformen beschränken lassen (Text für Memos, Text und Daten für Bestellungen). Es bedarf aber einer genauen Analyse der betrieblichen Anforderungen, wenn ein automatisiertes System der Dokumentenbe- oder -verarbeitung zum Einsatz kommen soll.

Welcher Art ist die Weiterverarbeitung übertragener Daten ?

Betrachtet man die genannten Dokumentenformen, so stellen sich die in Frage 3 aufgeworfen mögliche Formen der Weiterverarbeitung wie folgt dar:

- Textdokumente werden am Bildschirm dargestellt, als Hardcopy abgeheftet oder modifiziert beziehungsweise erweitert und weiterübermittelt.

- Text und Grafik wird in der Regel am Bildschirm dargestellt und als Hardcopy abgeheftet.

- Text und Bild werden in der Regel am Bildschirm dargestellt, erweitert / modifiziert und als Hardcopy verteilt.

- Text und Daten werden am Bildschirm oder als Hardcopy dargestellt. Die Daten werden in der Regel weiter verarbeitet und lösen Reaktionen eines DV-Systems aus.

- Grafikdokumente werden (heute) nur am Bildschirm oder als Hardcopy dargestellt.

Diese kurze Charakterisierung soll verdeutlichen, daß der überwiegende Teil von Dokumenten lediglich der Nachrichtenübermittlung dient. Eine Verarbeitung dieser Dokumente besteht in der Präsentation am Bildschirm und der Erzeugung einer Hardcopy. Der Fall, daß Texte modifiziert und erweitert werden, ist zwar nicht unüblich, stellt jedoch nicht den überwiegenden Teil der Anwendungen dar. Lediglich die Kombination aus Text und Daten erfordert zwingend eine Möglichkeit zur DV-technischen Weiterverarbeitung. Bei der Auswahl dokumentenverarbeitender Systeme muß nach dem Gesagten die Anwendung und hier im speziellen die Weiterverarbeitung der Dokumente zwingend im Vordergrund stehen.

Nach den Erkenntnissen der vorangegangenen Abschnitte ist die Frage nach dem benötigten Equipment falsch gestellt. Sie müßte eigentlich lauten: "Welches Equipment deckt die Anforderungen meiner Organisation am besten ab?" Spätestens in diesem Moment wird klar, daß es zur Dokumentenerstellung und -versendung Alternativen zu X.400 gibt, die überdies billiger sind.

Der reinen Textübermittlung dient das Telex-Netz. Die Übertragungsrate von

50 Bit/s ist allerdings unakzeptabel langsam, Dokumente werden nicht elektronisch gespeichert (es sei denn, sie wurden auf einem PC erzeugt und über einen Telex-Adapter übertragen; in diesem Fall besitzt zumindest die sendende Seite eine elektronische Kopie), dafür ist aber ein Dialog zwischen Sender und Empfänger möglich. Das Equipment besteht aus herkömmlichen Telex-Stationen, die im Bedarfsfall durch Adapter für PCs beziehungsweise LANs ergänzt werden.

Die Übermittlung von Text und Semigrafik mit einer Datenrate von 2400 Bit / s ist durch das Teletex-Netz abgedeckt. Als Endgeräte kommen Teletex-Stationen zum Einsatz, die elektronisch erzeugte und gespeicherte Daten von Speicher zu Speicher übertragen. Alternativ können Mehrplatz-Systeme (Unix) oder PC-LANs über Adapter an das Netz angeschlossen werden.

Nur grafische Weiterverarbeitung

Text und Bild beziehungsweise Grafik übermittelt als einziger der Fax-Dienst. War dafür früher nur ein Fax-Gerät zugelassen, das mit dem kompletten Dokument "gefüttert" werden mußte, so sind heute Kombinationen aus PC und Scanner, PC und Faxgerät oder LANs mit einem Gateway aus PC und Fax beziehungsweise Scanner von der ZZF bereits zugelassen. Somit können Dokumente elektronisch erzeugt, dargestellt und mit Datenraten von bis zu 9600 Bit / s übertragen werden. Die Tatsache, daß der Faxdienst Dokumente als Pixelgrafik überträgt, erlaubt nur eine grafische Weiterverarbeitung. Es sind jedoch erste Versuche unternommen worden, mittels OCR-Software Pixeltexte in ASCII-Texte umzusetzen.

Für die Realisierung von Text- und Datendokumenten ist heute in international genormter Form nur die X.400-Spezifikation (in Kombination mit Formatbeschreibungen wie Edifact) geeignet. Dieser Dienst erfordert einen oder mehrere User Agents und einen Message Transfer Agent. Das erforderliche Equipment setzt sich also typischerweise aus PCs, die über ein LAN verbunden sein können, und einer leistungsfähigen Multiuser -Maschine (zum Beispiel Unix-System, VAX) zusammen. Das die MTAs verbindende Netz ist wahlfrei, in der Regel werden jedoch X.25-Netze (Datex-P) genutzt, die Daten mit von bis zu 64 Kbit / s übertragen.

Die Frage, wie es um die Verbreitung dieses Equipments heute und in Zukunft bestellt ist, läßt sich-ohne Ursachenforschung betreiben zu wollen-durch einen Vergleich beantworten:

- Telex ist weltweit der meistgenutzte Dienst. Seine Zuwachsraten sind rückläufig. Für den Dienst spricht jedoch weiterhin die international gegebene Verbreitung und Verfügbarkeit.

- Teletex hat die Anforderungen bei weitem nicht erfüllt, besitzt jedoch einen Übergang zum Telex-Netz.

- Fax-Geräte gibt es überall in der Welt, da das Fernsprechnetz das unterlegte Medium darstellt. Der Fax-Dienst verfügt heute über die größten Zuwachsraten (und bezüglich der Endgeräte über den größten Preisverfall).

- X.400-Anwendungen setzen auf die überall verbreiteten PCs und die weniger häufig installierten Multiuser-Systeme auf. Da die unterlegten Netze entweder paket- oder leitungsvermittelt sein können, besteht auch künftig weltweit die Möglichkeit, Text- und Datendokumente auszutauschen.

Fazit: Als oberstes Gebot bei der Realisierung von E-Mail ist die genaue Analyse der Anwendungen zu nennen. Sie sollte Aufschluß darüber geben, ob eine DV-technische Weiterverarbeitung von Daten und damit die Nutzung von X.400-Anwendungen notwendig ist. Für alle anderen Anwendungsfälle wird voraussichtlich der Fax-Dienst genügen. Und sollte Bedarf für alle Dienste und Netze existieren, bietet sich eine Integration dergestalt an, daß PC-Arbeitsplätze durch ein LAN gekoppelt und an einen Unix-Server angebunden werden.