Noch prägen TCPIP-Lösungen den LAN-Sektor

X.400: DFN forciert jetzt die Entwicklung von Produkten

19.04.1991

*Ralf Leithaus ist Mitarbeiter der Marketing & Verlag GmbH Technic Support in Berlin.

Wissenschaft und Forschung stehen immer mehr in Zeichen nationaler, aber auch internationaler Kooperation. Der Austausch von Gedanken und Ideen in wissenschaftlichen Projekten ist heute ohne geeignete Kommunikations-Infrastrukturen nicht mehr denkbar. Deshalb setzt der DFN-Verein in diesem Zusammenhang auf den offenen Standard X.400. Ralf Leithaus* beschreibt im folgenden Artikel die X.400-Strategie des DFN in Theorie und Praxis.

Der Einsatz zeitgemäßer Datenkommunikationsmittel ist in der Wissenschaft unverzichtbar. Noch immer werden Projekte mit Beteiligung mehrerer Autoren an den einzelnen Standorten vorbereitet, per Post oder Telefax verschickt, handschriftlich mit Bemerkungen versehen, aufbereitet und wieder zurückgeschickt. Dieses Verfahren führt zu langen Laufzeiten, großem Verwaltungsaufwand und vermeidbaren Belastungen wie etwa der Mehrfacherfassung von Texten.

Einfacher geht es heutzutage mit E-Mail. Autoren schreiben ihre Texte mit einem elektronischen Textsystem, versenden sie per elektronischer Post, verbessern direkt im empfangenen Text und senden die verbesserten Texte zurück.

Konferenz via E-Mail einberufen

Konferenzen, Workshops oder Seminare werden zum Beispiel bei der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung (GMD) routinemäßig mit Hilfe elektronischer Briefe vorbereitet. Einladungen zu Konferenzbeiträgen, Annahme, Kritik und Abstimmung der Konferenzbeiträge erfolgen ebenfalls über E-Mail. Auch verfügen viele Datenbanken und Fachinformationszentren über eine Schnittstelle zu E-Mail, so daß sich benötigte Informationen durch einen kurzen elektronischen Brief automatisch abrufen lassen. Die GMD nutzt für diese Aufgaben den Message-Handling-Verbund des Deutschen Forschungsnetzes (DFN).

Die Teilnahme an der elektronischen Nachrichtenübermittlung setzt neben dem Zugang zu einem Netzwerk die entsprechende Software (Message Handling System-MHS) voraus, die Erstellung, Bearbeitung, Versenden, Empfang, Wiedervorlage und automatisches Beantworten oder Weiterleiten von elektronischen Nachrichten ermöglicht. Diese Software muß Normen oder Standards erfüllen, um die Datenübermittlung zwischen möglichst vielen Systemen auch unterschiedlicher Hersteller zu gewährleisten. Diesbezüglich hat sich der Anwender zwischen verschiedenen Protokollwelten zu entscheiden: zum Beispiel zwischen OSI und TCP/IP.

E-Mail-Wahl zwischen ISO-OSI oder TCP/IP?

Die OSI-Normen der ISO sollen den Weg für eine offene Kommunikation auf Basis elektronischer Medien ebnen, unabhängig von herstellerspezifischen Hard- und Softwarekomponenten. Auf der anderen Seite hat das nicht auf internationalen Normierungsbemühungen, sondern auf Beschaffungsrichtlinien des amerikanischen Verteidigungsministeriums beruhende TCP/IP insbesondere in USA eine weite Verbreitung gefunden und ist zu einem Defacto-Standard geworden.

Im Bereich der teils öffentlich, teils privat finanzierten Weitverkehrsnetze (WANs) haben OSI-Netzwerkdienste bereits die Führung übernommen. Anders sieht es bei den lokalen Netzwerken aus: Die frühe Verfügbarkeit der Internet-Produkte und deren günstige Kosten im Vergleich zu OSI-Produkten haben dazu geführt, daß Internet-Dienste in diesem Bereich nach wie vor eine dominierende Rolle spielen. Trotzdem hat auch in diesem Sektor bei Anwendern und Herstellern ein Bewußtseinswandel zugunsten langfristiger strategischer Überlegungen eingesetzt, der durch zunehmende Favorisierung von OSI-Diensten geprägt ist. Den größten Zulauf verzeichnen dabei OSI-basierte Anwendungsdienste für E-Mail.

Kommunikationssysteme lassen sich grob in zwei Teilbereiche gliedern: in das Transportsystem, welches für die korrekte Übertragung der Daten zuständig ist, und das darüberliegende Anwendungssystem, das dem Benutzer unterschiedliche Dienste anbietet, darunter auch E-Mail. Während im Internet Bereich elektronische Post über den Anwendungsdienst SMTP (Simple Mail Transfer Protocol) abgewickelt wird, kommen in der OSI-Welt normierte Message-Handling-Systeme zum Einsatz, die die X.400-Empfehlungen der CCITT erfüllen.

Beim Verein zur Förderung eines Deutschen Forschungsnetzes (DFN) und damit auch bei seiner Mitgliedseinrichtung, der GMD, ist die Wahl auf X.400 gefallen. "Abgesehen von einer besonders reichhaltigen Funktionalität, ist X.400 in ein ganzes Bündel von telematischen Diensten eingebettet. Die Übergänge zu komplexen Dokumentenstrukturen, Multimedia Dokumenten oder etwa zu elektronischer Finanzabwicklung sind wohldefiniert, so daß X.400 eine von vielen Anwendungen in einer Multi-purpose-Landschaft ist", unterstreicht Rüdiger Grimm, Mathematiker bei der GMD, die Vorteile des Standards. Ebensolche Flexibilität zeige X.400 auch hinsichtlich des Datentransports, der reibungslos über die in Europa gängigen X.25-Netze möglich sei.

Ein weiterer wichtiger Aspekt für die Verwendung von X.400, so Grimm, sei seine Sicherheitsarchitektur, die in die Architektur des Datentransports (OSI Security Architecture) eingebettet ist. So gibt es Sicherheitsdienste die der Nachrichtendienst selbständig zugunsten der Benutzer ausführt, und andere, die der Benutzer unabhängig vom Transferdienst ausführen kann. In weiteren gängigen E-Mail-Systemen (zum Beispiel SMTP) ist Sicherheit nur ein hinzugefügter Dienst, der vom Endanwender aktiv unterstützt werden muß.

Von besonderer Bedeutung ist aber, daß der DFN mit X.400 auf eine international anerkannte Norm und eine zukunftsträchtige Technologie setzt, der eine große Verbreitung bevorsteht, während TCP/IP nicht normiert ist und abgelöst werden soll. So haben in den Vereinigten Staaten Ministerien (darunter auch das DoD) und zivile Behörden (Nasa) bereits die Weichen in Richtung OSI gestellt und die Förderung von TCP/IP zugunsten von OSI-Komponenten aufgegeben.

Daß in Deutschland, genauer gesagt im DFN, mit rund 15 000 Teilnehmern eine der weltweit größten Nutzergruppen für das Message Handling nach X.400 aktiv ist, kommt nicht von ungefähr. Der DFN-Verein forciert die Durchsetzung von X.400 durch breit angelegte Aktivitäten. Er ließ X.400-Produkte (Ositel/400 für Unix System V und Ucla/Mail400 für IBM/MVS) entwickeln und unterstützt Entwickler bei der Implementierung von X.400 -Produkten auf anderen Rechnersystemen. Im DFN-MHS-Verbund werden für verschiedene Betriebssysteme derzeit folgende X.400-Produkte eingesetzt:

EAN (Unix auf VAX), DFN-EAN (VMS), DFN-EAN (Unix auf Cadmus, VAX und Sun), Komex (BS2000), Note400 (VM), Profs400 (VM), MRX400 (VMS) HP400 (HP / UX), Ositel/400 (Unix auf Cadmus, HP/UX und Sun), Ositel / 400 (Unix und Ultrix auf VAX), DG400 (AOS/VS) Ucla/Mail400 (MVS), Sunlink MHS (Unix auf Sun), Mailway (Unix auf Sun), Targon-Mail (Unix auf Targon), Mail/VE (NOS / VE), Mail.X (Sinix), Akom (BS2000) und GTC-400 (Xenix).

Die umfangreiche Unterstützung durch die Anbieterseite ist einer der Gründe für den deutIichen Aufwärtstrend von X.400. So hat sich die Anzahl der Installationen im DFN von 121 im Dezember 1988 auf 260 im Februar 1991 mehr als verdoppelt. Wie intensiv das Message Handling nach X.400 genutzt wird, läßt sich aus dem Datendurchsatz am zentralen X.400-Relay des DFN-Vereins ablesen: Dort wurden in der zweiten Hälfte 1990 im Inland über 400 000 und in das Ausland fast 50 000 Nachrichten vermittelt. Diese Zahlen umfassen nur den Sendeanteil und enthalten nicht die Nachrichten, die direkt adressiert wurden, ohne das ReIay zu benutzen.

Das vom DFN-Verein betriebene X.400-Relay erfüllt gleichsam die Funktion eines Verteilpostamtes. Obwohl es hauptsächlich zur Vermittlung von Nachrichten ins Ausland vorgesehen ist, wird es zur Zeit noch sehr stark für die Vermittlung von Inlandsinformationen in Anspruch genommen. Über die erwähnten Dienstleistungen hinaus sorgt der DFN-Verein durch die Vergabe der Private-Domain-Namen (PRMD) für eine nutzerfreundliche Adressierung, die statt kryptischer Zeichenfolgen selbsterklärende Adreßattribute verwendet.

Der DFN-Verein als Selbsthilfeorganisation der Wissenschaft in Sachen Datenkommunikation sieht es als seine zentrale Aufgabe, den Aufbau einer auf OSI -Normen basierenden offenen Datenkommunikations-Infrastruktur zu fördern. Wissenschaftler, die aufgrund ihrer bisherigen bisherigen Gewohnheiten und Erfahrungen auf herstellerabhängige Lösungen schwören, sollen von der offenen Lösung überzeugt werden.

Ziel: Sicherung freier Teilmärkte

Die Unterstützung normierter Datenkommunikationsdienste ist nicht nur für die heterogene Rechnerlandschaft in der Wissenschaft wichtig, sondern hat auch große wirtschaftspolitische Bedeutung. Ziel ist, den Erhalt freier Teilmärkte und die damit verbundene Herstellerunabhängigkeit auch langfristig zu sichern.

Fazit: Die wachsende Akzeptanz gegenüber X.400 läßt sich nicht nur durch größere Funktionalität in bezug auf SMTP erklären oder damit, daß X.400 auf einer international anerkannten Norm beruht. Eine wichtige Rolle spielt auch die Tatsache, daß X.400 bereits für sehr viele Rechnersysteme verfügbar ist, eine Tatsache, die sicher auch bald für andere OSI-Dienste wie FTAM und X.500 zutreffen wird. Am Beispiel X.400 wird die Bereitschaft der Anwender, bei entsprechender Unterstützung von Anbieterseite OSI-Diensten den Vorzug gegenüber TCP/IP zu geben, besonders deutlich. X.400 setzt ein Signal in Richtung offene Kommunikation, dem rasch weitere OSI-Anwendungsdienste folgen werden.