Supply-Chain-Management (SCM)/Der SCM-Markt aus der Sicht von August-Wilhelm Scheer

"Wir hätten ein zweites i2 werden können"

08.03.2002
Wenn es um die Verbindung der logistischen und der produktionsnahen Prozesse geht, hat August-Wilhelm Scheer ein Wort mitzureden - als Professor an der Universität des Saarlands und als Aufsichtsratsvorsitzender der von ihm gegründeten IDS Scheer AG, Saarbrücken. Mit dem Hochschullehrer und Unternehmer sprach CW-Redakteurin Karin Quack.

CW: In den 80er Jahren waren Sie jemand, der die Idee des Computer-integrated Manufacturing entwickelte und vorantrieb. Mittlerweile redet niemand mehr von CIM. Heute ist Supply-Chain-Management ein heißes Thema, aber auch hier sind installierte Systeme mit der Lupe zu suchen. Skeptiker befürchten deshalb, dem SCM könne ein ähnliches Schicksal beschieden sein wie dem CIM.

Scheer: Ich habe damals das erste deutschsprachige Buch über CIM geschrieben und stehe immer noch zu 80 Prozent der Inhalte. Der Begriff CIM ist heute eher negativ besetzt, aber die Idee, eine Verbindung zwischen Logistik und Engineering zu schaffen, wird - wenn auch unter anderem Namen - weitergesponnen. Product-Lifecycle-Management und Engineering-Database bezeichnen Teilkomponenten dessen, was wir damals mit CIM verfolgt haben.

Nur den großen Wurf haben die Unternehmen nicht hinbekommen - zumal Anfang der 80er Jahre die Technologie noch nicht so weit war.

CW: Ist Supply-Chain-Management der legitime Nachfolger von CIM?

Scheer: SCM übernimmt große Teile des CIM-Gedankens - allerdings nicht vollständig, weil das Schwergewicht eindeutig auf der Logistik liegt. Außerdem gibt es für SCM keine derart umfassende Definition, so dass sich viele unterschiedliche Projekte unter diesem Begriff subsumieren lassen. Und die Unternehmen gehen in den seltensten Fällen mit dem Riesenanspruch an das Thema, sofort die gesamte Lieferkette bis zu den Lieferanten des Lieferanten einzubinden. Vielmehr fangen die meisten damit an, zunächst einmal Transparenz in ihr internes Netz von Lieferbeziehungen zu bringen, was schon schwierig genug ist.

CW: Wer beschäftigt sich heute mit der Abbildung unternehmensübergreifender Lieferketten?

Scheer: Das sind die Unternehmen, die sich den größten Vorteil davon versprechen, also insbesondere solche, deren Produkte eine kurze Verfallszeit haben. Ein Halbleiterhersteller beispielsweise kann nicht auf Lager fertigen, weil die Produkte nach drei Monaten nicht mehr absetzbar sind.

CW: Brauchen die Unternehmen dazu eine dedizierte SCM-Software, oder lässt sich diese Transparenz auch mit einfachen Mitteln realisieren?

Scheer: Das kommt darauf an, wie aufwändig die Planung und wie komplex die dafür notwendigen Berechnungen sind. Ein System, wie SAP oder i2 Technologies es anbieten, enthält nicht nur die Netzverbindungen, sondern auch eine Reihe von teilweise sehr raffinierten Algorithmen, beispielsweise Prognosealgorithmen, mit denen sich der Input in das logistische System verbessern lässt, oder Steuerungsalgorithmen für die Produktionsplanung. So etwas kann man nicht mit Excel-Spreadsheets machen.

CW: Sind SCM-Systeme in der Lage, die Funktionen eines Produktionsplanungs- und Steuerungssystems zu übernehmen?

Scheer: Auf längere Sicht werden, so glaube ich, Planungswerkzeuge wie "APO" oder besser "Mysap SCM" herkömmliche Komponenten wie das R/3-Modul "PP" ersetzen.

CW: Gilt das nur für die SAP-Welt ?

Scheer: Manugistics könnte sich ähnlich entwickeln. i2 hingegen konzentriert sich stärker auf die Planungsebene und benötigt deshalb viele Schnittstellen in die Steuerungssysteme.

CW: Sie sagten, Sie stehen immer noch zu den Inhalten der CIM-Idee. Warum haben Sie dann vor fünf Jahren Ihren Leitstand aufgegeben - zugunsten von APO, das es damals noch nicht gab?

Scheer: Wir kannten die SAP schon sehr lang. Wir hatten zusammen ein Auftragssteuerungs-System entwickelt, das erstmals die R/3-Technik enthielt, und wir waren bereits ein wichtiger Implementierungspartner der SAP. Deshalb wussten wir auch, was dort entwickelt wurde. Unsere Überlegung war: Können wir es uns leisten, ein Produkt weiterzupflegen, mit dem wir der SAP Konkurrenz machen und unsere Kooperation gefährden? Wir hätten unseren Kunden erklären müssen, warum wir SAP-Software implementieren und gleichzeitig ein Konkurrenzprodukt im Umfeld der Fertigungssteuerung anbieten. Nach langen Diskussionen und mit Tränen in den Augen haben wir uns schließlich entschlossen, durch unsere Entwicklerkapazität der SAP zu helfen, ihr Produkt schneller in den Markt zu bringen. Und dass uns dies gelungen ist, wird die SAP gern bestätigen. Unter dem Strich haben wir nicht nur unsere Entwicklungsarbeit bezahlt bekommen, sondern wir sind auch als ein im Vergleich beispielsweise zu Accenture eher kleines Unternehmen einer der wichtigsten weltweiten Einführungspartner für Mysap SCM geworden.

CW: Haben Sie es nie bereut, Ihre eigene Entwicklung aufgegeben zu haben?

Scheer: Nein. Sicher kann man bedauern, dass es so wenig originäre Software aus Deutschland gibt. Vielleicht hätten wir ein zweites i2 werden können. Auch i2 war ja zunächst einmal SAP-Partner, bevor sie Konkurrenten wurden. Ich glaube nicht, dass wir in Deutschland gegen die SAP reüssiert hätten. Deshalb haben wir klug entschieden.

CW: SCM-Systeme einzuführen, ohne die Prozesse zu überarbeiten, gilt als Unfug - schlimmer als die Implementierung eines Enterprise-Resource-Planning-Systems ohne vorheriges Geschäftsprozess-Re-engineering. Wieso eigentlich?

Scheer: Der Erfolg liegt nicht in der gelungenen Softwareeinführung, sondern in den neuen Prozessen. Das belegt auch das viel zitierte Beispiel der Fischerwerke (siehe CW 13/01, Seite 54). Dort wurde die Supply Chain zunächst einmal vereinfacht: Unter anderem strich Fischer das Zentrallager, reduzierte die Anzahl der Auslieferungsläger und nahm die Lagerstufe beim Handel aus der Kette, so dass statt fünf nur noch drei Stufen vorhanden sind. Das Scheitern vieler E-Business-Projekte hat ebenfalls anschaulich gemacht, dass Organisation und Inhalte wichtiger sind als Technologie.

CW: Für die Standardisierung der Inhalte, sprich: der Prozesse, gibt es heute eine Reihe von Referenzmodellen, darunter die Supply Chain Operations Reference (Scor) des Supply Chain Council. Ist das eine reine Kopfgeburt oder bereits praxisrelevant?

Scheer: Wir haben das Scor in unserem Modellierungswerkzeug Aris implementiert und entwickeln auf Basis dieser Referenz derzeit ein System, das den Produkt- und Logistikdatenaustausch zwischen Intel und Siemens unterstützt. Standards nicht nur auf der technischen, sondern auch auf der inhaltlichen Ebene zu definieren, halte ich für einen enormen Schritt in die richtige Richtung. Hardware und Software sind reine Werkzeuge, ein Modell wie Scor oder das für die Hightech-Industrie entwickelte Rosettanet definieren, wie Prozesse inhaltlich gestaltet werden können - über Länder- und Sprachgrenzen hinweg.

CW: Weshalb brauchen die Branchen neben Scor noch eigene Prozessstandards?

Scheer: Das Referenzmodell von Rosettanet beispielsweise reicht tiefer - bis in die Beschreibung von Dokumenten mit Hilfe von XML. Darüber hinaus sind Branchenstandards per se sinnvoll, denn jeder Anwender interessiert sich nur für einen Teil der angebotenen Spezifikationen. Der Aufwand, aus den angebotenen 100 Prozent die benötigten zehn oder 15 herauszufiltern, ist möglicherweise so hoch, dass das Unternehmen doch lieber anfängt, sein eigenes System zu entwickeln.