Web

Bessere Auftragslage macht Siemens-Bereich ICN Mut

"Wir hängen nicht am Tropf der Siemens AG"

25.11.2003
Siemens ICN hat nach neun verlustreichen Quartalen wieder positiv abgeschnitten. Spartenleiter Thomas Ganswindt und Finanzchef Michael Kutschenreuter sprachen mit der CW über das erhoffte Ende der Durststrecke.

MÜNCHEN (COMPUTERWOCHE) - Der krisengeschüttelte Konzernbereich Information and Communication Networks (ICN) der Siemens AG hat nach neun verlustreichen Quartalen wieder positiv abgeschnitten. Thomas Ganswindt, ICN-Vorstandsvorsitzender, sowie Finanzchef Michael Kutschenreuter sprachen mit den CW-Redakteuren Peter Gruber und Gerhard Holzwart über das erhoffte Ende der Durststrecke im Markt.

CW: Herr Ganswindt, Sie wurden als einer von mehreren Kandidaten für die Nachfolge von Volker Jung als IC-Chef im Zentralvorstand gehandelt. Jetzt ist die Wahl auf Klaus Kleinfeld gefallen. Sind Sie enttäuscht?

ICN-Chef Thomas Ganswindt sieht zwar insgesamt eine Stabilisierung des Marktes, aber noch keine großen Wachtumsimpulse. Fotos: Joachim Wendler
ICN-Chef Thomas Ganswindt sieht zwar insgesamt eine Stabilisierung des Marktes, aber noch keine großen Wachtumsimpulse. Fotos: Joachim Wendler

GANSWINDT: Nein. Ich habe damit gerechnet, zu Ende bringen zu können, was ich angefangen habe. Schließlich bin ich vor zwei Jahren angetreten, um den Konzernbereich ICN zu restrukturieren, damit er für die Zukunft gut gerüstet ist. Diese Arbeit ist nicht abgeschlossen. ICN hat zwar ein sehr gutes viertes Quartal geschafft, ist aber noch nicht da, wo ich den Konzernbereich gerne sehen würde. Ziel ist, dass wir durch Innovationen nachhaltig eine Ergebnisqualität erreichen, wie sie im Rahmen der Siemens AG gewünscht und gefordert wird.

CW: Mit Ergebnisqualität sprechen Sie wohl die Umsatzrendite von acht bis elf Prozent an, die Konzernchef Heinrich von Pierer für das Geschäftsjahr 2004 vorgegeben hat. Wie realistisch ist diese Vorgabe angesichts eines bestenfalls ansatzweise genesenden Markts?

GANSWINDT: Die acht bis elf Prozent sind ernst gemeint. Herr von Pierer hat allerdings darauf hingewiesen, dass sich ICN in einem schwierigen Marktumfeld bewegt. Es wäre unrealistisch zu meinen, das Ziel im laufenden Fiskaljahr erreichen zu können. Da müsste am Markt schon etwas passieren, was ich im Moment nicht sehe.

CW: ICN hat nach neun verlustreichen Quartalen endlich wieder schwarze Zahlen geschrieben. War das ein bilanzielles Schönrechnen, oder steckt darin bereits die Nachhaltigkeit, die von Pierer fordert?

KUTSCHENREUTER: Das ist ein sauberes operatives Ergebnis von 57 Millionen Euro. Im Gegensatz zu unserer Konkurrenz haben wir alles eingerechnet, inklusive Restrukturierungskosten und einmaligen Einsparprojekten (One-offs). Wir würden uns sicher keinen Gefallen tun, wenn das Ergebnis nicht nachhaltig wäre. ICN will positiv bleiben und wird das auch schaffen, wenn keine weiteren unvorhergesehenen Turbulenzen im Markt eintreten.

CW: Sind in dem Ergebnis auch die Kosten für Personalmaßnahmen enthalten? Immerhin mussten bei ICN insgesamt 20.000 Mitarbeiter gehen. Ihre Wettbewerber weisen diese Restrukturierungskosten gesondert aus?

KUTSCHENREUTER: Ja. Sie werden darüber hinaus, wie bei unseren Konkurrenten auch, noch gesondert genannt.

CW: Was haben Sie außer dem Mitarbeiterabbau zur finanziellen Sanierung unternommen?

KUTSCHENREUTER: Wir haben ein konsequentes Asset-Management betrieben - sprich, unsere Forderungen und Lagerbestände massiv reduziert. Weitere Ansatzpunkte zur Kostenreduzierung waren auch Design-to-Cost-Maßnahmen sowie die Optimierung unserer Einkaufsorganisation und -prozesse. Insgesamt haben wir unsere Kosten um 3,5 Milliarden Euro reduziert.

GANSWINDT: Es war für den Konzern auch sehr wichtig, dass ICN in den zurückliegenden zwei schwierigen Geschäftsjahren immer einen positiven Cashflow hatte. Wir hängen also nicht am Tropf der Siemens AG.

CW: Ihr Konzernbereich liegt im abgelaufenen Geschäftsjahr mit einem Umsatzminus von 21 Prozent im Branchentrend. Woher nehmen Sie den Optimismus, dass die Abwärtsspirale im Markt ein Ende hat?

GANSWINDT: Es gibt zwei Indikatoren, die uns sagen, dass jetzt wirklich der Boden erreicht ist. Erstens zeigen die Auftragseingänge in den letzten Monaten eindeutig eine Stabilisierung. Zweitens unsere Sales-Pipeline, unsere Einschätzung also, was an Projekten zu erwarten ist und wie hoch unsere Chancen sind, die Aufträge zu gewinnen. Auch hier ist eine Stabilisierung erkennbar. Leider sind momentan aber noch keine großen Wachstumsimpulse in Sicht.

CW: Ihren Angaben ist zu entnehmen, dass Kunden wieder investieren. Gilt das sowohl für Carrier als auch Unternehmen?

GANSWINDT: Im Bereich der Unternehmensnetze beobachten wir tatsächlich zunehmende Investitionsaktivitäten. Triebfeder sind Produktivitätsgewinne, die die Kunden durch die Einführung neuer Technik erzielen wollen. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt. Wegen des Jahr-2000-Effekts wurde noch vor der Jahrtausendwende groß investiert. Infolgedessen gab es in den letzten drei Jahren kaum Bedarf. Jetzt kommen wir aber wieder in die Zyklen hinein, wo Komponenten abgeschrieben werden und Ersatzinvestitionen nötig sind.

Bei den Carriern ist die Lage schwerer einzuschätzen. Allerdings beobachten wir, dass unsere Kunden sehr daran interessiert sind, in Segmenten zu investieren, die Umsatzwachstum versprechen. Insbesondere im Festnetz, weil man dort die Umsatzströme stabilisieren und neue Wachstumspotenziale erschließen möchte. Mit signifikanten Zuwächsen wie früher ist aber nicht zu rechnen.

CW: Folglich kann ICN nur zulegen, wenn Sie dem Wettbewerb Marktanteile abjagen?

GANSWINDT: Wir planen ein Wachstum, das über dem des Marktes liegt. Das ist in der Tat nur über Marktanteilsgewinne zu realisieren. Wenn Sie sehen, wie die Volumina in dieser Industrie zurückgegangen sind, dann fühle ich mich im Vergleich zu den Wettbewerbern relativ wohl, weil ICN viel weniger verloren hat. Das stimmt mich zuversichtlich, weil wir Potenziale haben, um Marktanteile zu erobern.

CW: Welche Potenziale?

GANSWINDT: Erstens hat ICN den Vorteil, Teil der Siemens AG und ihrer weltweiten Vertriebsorganisation zu sein. So konnten wir selbst in Zeiten massiver Investitionskürzungen auch in schwierigen Regionen Aufträge akquirieren. Zweitens haben wir ein attraktives Produkt- und Lösungsportfolio mit Next-Generation-Switching, -Access und -Optic. Nicht in allen, aber in einigen dieser Segmente sind unsere Produkte führend. Auch deshalb haben wir die Aufträge bekommen.

CW: Ihre Wettbewerber Alcatel, Lucent oder Nortel agieren aber ebenfalls weltweit und verkaufen im Gegensatz zu Siemens nicht nur Kommunikations-, sondern auch Datentechnik.

GANSWINDT: ICN konzentriert sich im Enterprise-Geschäft ganz bewusst auf die Themen Sprache sowie die Konvergenz zwischen Sprach- und Datennetzen, nicht aber auf Datennetzinfrastruktur. Hier bieten wir Lösungen gemeinsam mit unseren Partnern an.

CW: Wer sind Ihre Partner?

GANSWINDT: Das sind im Enterprise-Segment Cisco, Enterasys und Extreme. Im Carrier-Umfeld ist es vor allem Juniper.

CW: Wie kann die Partnerschaft mit Cisco funktionieren, wenn ICN im Enterprise-Geschäft mit seinen Kommunikationssystemen gegen die Avvid-Produkte von Cisco konkurriert?

GANSWINDT: Wir glauben schon, dass Cisco in Siemens einen wertvollen Partner sieht, wie wir das umgekehrt auch tun. Cisco ist aber auch ein harter Wettbewerber, der aggressiv im Markt auftritt. Allerdings haben wir einen etwas anderen Ansatz. Während Cisco eher auf proprietäre Lösungen setzt, meinen wir, dass die Zukunft Standardplattformen gehört. Dafür werden wir Applikationen entwickeln. Der Kunde wird am Ende entscheiden, was der richtige Weg ist.

CW: Mit welchen Innovationen ist in nächster Zeit zu rechnen?

GANSWINDT: Da hat sich ICN ein ambitioniertes Programm vorgenommen. Unser "Lifeworks"-Konzept wird Firmennetze mit den Netzen der TK-Anbieter verbinden und die darauf laufenden Anwendungen überall verfügbar machen. Damit stehen Anwendern immer die gleichen Kommunikationsdienste zur Verfügung, egal, wo sie diese nutzen. Eine der neuen Lifeworks-Applikationen ist "Openscape", eine auf dem Windows 2003 Server von Microsoft basierende offene Softwaresuite. Openscape sorgt für benutzerdefinierbare Verknüpfungen zwischen allen verfügbaren Kommunikationsressourcen der Anwender - unabhängig von den jeweils installierten Kommunikationsanlagen.

CW: Können Sie den produktivitätssteigernden Effekt von Lifeworks präzisieren?

GANSWINDT: Es gibt mehrere Studien zu diesem Thema. So kommt etwa eine aktuelle Untersuchung von Accenture zu dem Ergebnis, dass Unternehmen durch die Einführung von Echtzeit-Kommunikationsanwendungen in ihre Prozesse zwischen 30- und 50-prozentige Produktivitätszuwächse erzielen können.

CW: Wie stark wird Lifeworks zum Umsatz im diesem Geschäftsjahr beitragen?

GANSWINDT: Unser mittelfristiges Ziel ist, den Großteil unseres Umsatzes aus Lifeworks-Produkten zu generieren. Aber bei fast 300 Millionen Ports der Vermittlungstechnik EWSD im Feld wird das Legacy-Geschäft auch weiterhin einen signifikanten Anteil ausmachen. Wir müssen aber auch zu neuen Geschäftsmodellen kommen wie zum Beispiel Services.

CW: Wie sehen Ihre Geschäftsmodelle in diesem Segment aus?

GANSWINDT: Auch hier ist zwischen den Bereichen Carrier und Enterprise zu trennen. Im Enterprise ist das Dienstleistungsgeschäft mit einem Anteil von 50 Prozent heute schon sehr dominant. Da sind wir natürlich stark im Bereich der produktbezogenen Services tätig, aber es gibt in diesem Segment auch das weite Feld der Professional Services.

CW: Was verstehen Sie darunter?

GANSWINDT: Ford ist so ein Beispiel. Wir managen für den Autobauer die gesamten Kommunikationssysteme. In solchen Aufträgen sehen wir große Wachstumschancen. Unsere mittelfristige Vorstellung ist, mit Services mehr zu verdienen als mit Equipment.

CW: Gilt das auch für das Servicegeschäft mit Netzbetreibern? Ihre Konkurrentin Patricia Russo, Chefin von Lucent, wittert hier große Chancen.

GANSWINDT: Ich teile die Meinung von Frau Russo, dass diese Dienstleistungen ein attraktives Wachstumsfeld sind. Allerdings wird das Geschäft mit Equipment noch auf längere Sicht die maßgeblichen Umsätze einbringen. Die Aussichten sind aber trotzdem sehr ermutigend. Wir haben unser Carrier-Servicegeschäft im November letzten Jahres mit einer eigenen Gewinn- und Verlustverantwortung aufgestellt und in jedem Quartal Ergebniszuwächse über Plan erzielt. Das größte Wachstumspotenzial liegt in den Professional Services.

CW: Kommt sich ICN mit dieser starken Serviceausrichtung nicht mit SBS ins Gehege?

KUTSCHENREUTER: Wir wollen sicher nicht zu einer zweiten SBS mutieren. Außerdem konzentriert sich SBS auf die Schwerpunkte Financial, Manufacturing und Government. ICN fokussiert sich dagegen auf die Telekommunikation. Ich sehe darin keinen Konflikt, sondern eine Komplettierung des gesamten Siemens-Angebots.