Willkommen im Dschungel

11.10.2006
Von Achim Born
ECM erweist sich für Anwender und Anbieter gleichermaßen als schier undurchdringlicher Urwald. Während die erste Gruppe Gefahr läuft, sich in der Menge und Vielfalt der Daten zu verlieren, geht es für die zweite Gruppe ums Überleben.
Wachsendes Engagement: Die Experton Group geht davon aus, dass die ECM-Etats in diesem Jahr aufgestockt werden.
Wachsendes Engagement: Die Experton Group geht davon aus, dass die ECM-Etats in diesem Jahr aufgestockt werden.

Der effiziente Umgang mit Informationen zählt mehr und mehr zu den Schlüsseltechnologien in den Unternehmen. Schließlich steigt der Druck zur Verschlankung dokumentenzentrischer und personalintensiver Prozesse sowie Abläufe. Enterprise-Content-Management (ECM)-Systeme und Dokumenten-Management-Systeme (DMS) gelten deshalb als ideale Basis für die geordnete Verwaltung unterschiedlicher Dokumentinformationen.

ECM-Bereiche und -Anwendungsfelder

Die wichtigsten ECM-Komponenten und -Technologien lassen sich in fünf Hauptkategorien einordnen, von der

l Erfassung (Capture) und

l Verwaltung (Manage) über

l Speicherung (Store) und

l Ausgabe (Deliver) bis zur langfristigen

l Sicherung (Preserve).

Die bisherigen Anwendungsfelder

l Dokumenten-Management,

l Collaboration/Groupware,

l Web Content Management,

l Records Management (Archiv- und Ablageverwaltungssysteme) und

l Workflow/Business Process Management (BPM).

ECM, so die gängige, auf den Branchenverband AIIM International zurückgehende Definition, beinhaltet alle Techniken, mit denen Daten und Dokumente erfasst, verwaltet, gespeichert, bereitgestellt und archiviert werden können zu dem Zweck, die Prozesse im Unternehmen zu unterstützen. Organisatorisch zielt ECM auf die Verknüpfung von strukturiertem und unstrukturiertem Content zu für das Unternehmen nützlichem Wissen und relevanten Informationen ab. "Diese Sicht auf Infrastruktur und Prozesse wird die Unternehmen gerade in diesem Jahr besonders beschäftigen", ist Anke Hoffmann, Senior Advisor bei der Experton Group, überzeugt.

Komplexität wie bei ERP

Es wird eine einheitliche Plattform für alle Informationen angestrebt, bei der Dokumente schneller gefunden, Redundanzen verringert und Prozesse optimiert werden. Die Analystin geht weiter davon aus, dass dem ECM-System inzwischen ein ähnlich hoher Stellenwert im Unternehmen zukommt wie einem funktionierenden Enterprise-Resource-Planning (ERP)-System. Der Aufbau einer ECM-Architekur ist ähnlich komplex und aufwendig wie der eines ERP-Systems.

Es gibt jedoch einen entscheidenden Unterschied: "ECM ist nicht ein einziges Produkt", mahnt Dr. Ulrich Kampffmeyer. Für den Geschäftsführer der Hamburger Beratungsfirma Project Consult umreißt der Begriff vielmehr eine Strategie, die drei wesentliche Ideen prägt: ECM ist eine integrative Middleware, ihre Komponenten dienen unterschiedlichen Anwendungen als unabhängige Dienste, und ein einheitlich strukturiertes Repository führt alle Typen von Informationen zusammen. Hierzu werden die unterschiedlichsten Techniken und Komponenten zu einem Paket zusammengeschnürt, wobei diese zumeist auch als eigenständige Lösung nutzbar sind. Die Bandbreite reicht hier von Input-Komponenten (Capture, Erfassung) über die Weiterleitung und inhaltliche Erschließung der erfassten Informationen durch Management-Komponenten (Dokumenten-Management, Collaboration, WCM, Record Management, Workflow-/Geschäftsprozess-Management) bis hin zum Speichern (Store) in Repositories, Dateisystemen, Speichergeräten und Ähnlichem). Entsprechend vielfältig bis verwirrend ist denn auch die Begriffswelt, die eifrige Marketiers und Marktanalysten zur Umschreibung der Angebote erfanden.

Optimierung geplant

Ungeachtet der analystischen und marketingorientierten Betrachtungsweise boomt das Geschäft mit ECM und artverwandten Techniken, wie eine Trend-Kurzbefragung der Experton Group aus dem Frühjahr dieses Jahres deutlich macht. Darin gaben 81 Prozent der befragten deutschen Unternehmen an, eine Optimierung ihres Systems zu planen. "Viele Unternehmen, mit denen wir sprechen, zeigen ein deutliches Engagement für ECM-Lösungen", so Analystin Hoffmann "Deshalb rechnen wir mit einem Marktwachstum zwischen acht und zehn Prozent für dieses Jahr."

Es geht um Marktanteile

Nicht jeder Hersteller wird von der erfreulichen Marktentwicklung profitieren. Dies ist zum einen dem Umstand geschuldet, dass sich, wie beschrieben, unter dem ECM-Dach ein Sammelsurium diverser Techniken und deren Anbieter einfindet. Zum anderen steht der Markt seit geraumer Zeit im Licht einer turbulenten Konsolidierung, bei der große und kleinere Hersteller für Milliarden- und Millionen-Dollar-Beträge ihre Unabhängigkeit verlieren.

Richtig viel Geld (1,6 Milliarden Dollar) nahm IBM in die Hand, um sich nach einer Reihe kleinerer Übernahmen im ECM-/DMS-Markt nun zuletzt mit Filenet einen der Pioniere einzuverleiben. Der Deal hatte damit beinahe die Größenordnung des 2003 erfolgten Kaufs von Dokumentum durch EMC. Vor Jahresfrist rundete die Akquisition des Input-Spezialisten Captiva das Portfolio des als Anbieter von Speicher-Equipment gestarteten Unternehmens ab. OpenText wiederum betrieb ungeachtet des Sich-Zierens der Braut eine Hochzeit mit Hummingbird voran. Diese hatte sich selbst vor rund sechs Jahren gegen den neuen Eigner beim Buhlen um PCDocs durchgesetzt.

Hierzulande waren beide Firmen - Open Text mit der Übernahme von Ixos und Gauss Interprise, Hummingbird mit dem Kauf von Reddot - ebenfalls aktiv. Stellent, um ein weiteres Beispiel anzuführen, erwarb die kleineren Technologieschmieden SealedMedia und Bitform. Bescheidenere Deals wie der Kauf der hiesigen Ebydos, eines Spezialisten für elektronische Rechnungsverarbeitungslösungen im SAP-Umfeld, durch Readsoft aus Schweden runden das Bild einer übergreifenden Konsolidierung ab.

IT-Schwergewichte kommen

"Es geht inzwischen mehr um Marktanteile als um den Zukauf weiterer Funktionalität", beobachtet Kampffmeyer einen gravierenden Strategiewechsel in der Politik der Unternehmen. Der langjährige Beobachter der DMS-Szene macht zugleich darauf aufmerksam, dass im Unterschied zu den frühen Jahren die heute führenden Hersteller dem Bereich der Standard-IT-Komponenten, Hard- und Software entstammen und nicht mehr als dem ursprünglichen DMS-Markt kommen. Neben IBM und EMC hat der Berater hier insbesondere Oracle und Microsoft auf der Liste stehen. Aus der Phalanx der traditionellen Anbieter sieht er bestenfalls noch Open Text in einer führenden Position.

Ähnlich wie Kampffmeyer rechnet Forrester-Analyst Kyle McNabb fest mit einer weiteren Marktkonsolidierung - zumal er die Position kleinerer Spezialanbieter durch wachsende ECM-Funktionen gerade durch Infrastrukturanbieter wie Microsoft und Oracle gefährdet sieht. Funktionen, die früher allein über ein separates DMS erhältlich waren, werden zunehmend integraler Bestandteil in Standardofferten.

Mangelnde Integration

Ein Rettungsanker für die bedrängten Hersteller könnte in der Spezialisierung liegen. Reinen ECM-Anbietern, die nicht mit den großen Infrastrukturanbietern wetteifern können, empfiehlt Forrester-Mann McNabb, sich auf Content-zentrierte Anwendungen zu fokussieren. Als hilfreich könnte sich auch der Umstand erweisen, dass heute noch kein Hersteller alles in einer vollständig integrierten Lösung liefern kann. Auch wenn manches Herstellerportfolio schon recht gut bestückt ist, so Kampffmeyer, sind es doch unterschiedliche Produkte, die der interessierte Käufer aus einer Hand erwirbt.

Suites können wiederum nicht in allen Gebieten mit den Spezialisten mithalten. Und selbst wenn ein Applikationshersteller wie beispielsweise SAP der eigenen Kundschaft gleich mehrere DMS/ECM-Angebote zur Auswahl bietet, eignen sich solche doch in der Regel allein für die anfallenden Aufgaben in homogenen Umgebungen. Im Unterschied zur Walldorfer Software bietet Microsoft trotz der hohen Wertschätzung durch die Analysten kein vollständiges ECM-Produkt an und konzentriert sich in erster Linie auf Kollaborations- und Workflow-Aspekte. Vor diesem Hintergrund bieten sich kleineren Anbietern im Microsoft-Umfeld weiterhin viele Möglichkeiten, Speziallösungen für Archivierung, elektronische Akte (Record Management) und Ähnliches anzubieten.

Weiterhin gute Chancen eröffnet den kleineren Anbietern gerade hierzulande das schnell wachsende Segment der ECM/DMS-Lösungen für kleine und mittlere Unternehmen (KMUs). Sie können hier mit ihren typischen Stärken Kundennähe und Vertriebspartnernetz punkten. Ihr größtes Problem stellt daher auch weniger die Größe der internationalen Konkurrenz dar, sondern vielmehr die Herausforderung, die DMS/ECM-Thematik überhaupt erst im Mittelstand zu popularisieren.

Bedarf im Mittelstand

"90 Prozent aller mittelständischen Unternehmen haben noch gar keine ECM-Lösung", meint etwa Jürgen Biffar, Vorstand des Anbieters Docuware aus Germering. Aufgrund der zunehmenden funktionalen Abrundung des Lösungsangebots kombiniert mit dem Preisverfall auf der Hardwareseite für den Fall, dass das Thema auch für kleinere Firmen an Attraktivität gewinnt. Zumal Unternehmen früher oder später automatisch damit in Berührung kommen, so Kampfmeyer, da ECM-Funktionen in anderen Systemen quasi mitgeliefert werden.

Die Experton Group ist in jedem Fall davon überzeugt, dass sich ungeachtet der Konsolidierung eine Vielzahl kleinerer und mittelständischer Anbieter neben den großen Suite-Anbietern wie Microsoft, SAP oder Oracle wird behaupten können. Als eine zunehmend ernsthafte Alternative zu den proprietären Lösungen entpuppen sich zudem die immer leistungsstärker werdenden Open-Source-Produkte wie die ECM-Software Alfresco oder das im Web-Content-Management-Bereich angesiedelte Typo3, das von Open-ECM in einer mit der Dokumenten-Management-Software von d.velop integrierten Version vermarktet wird. Kurzum: Auch wenn alte Triebe abgehackt werden, wachsen im ECM/DMS-Dschungel stetig neue nach.

Achim Born ist freier Journalist in Köln.