IT-Struktur im Cloud-Zeitalter

Wieviel dezentrale IT ist tolerierbar?

11.12.2012
Von 
Wilfried Heinrich ist Fachautor und Geschäftsführer der Agentur denkfabrik groupcom GmbH in Köln.
Die Frage ist beinahe so alt wie die Informationstechnik. Angesichts von Trends wie Bring your own Device und Cloud Computing ist sie so aktuell wie nie zuvor.
Der Trend geht zur Zentralisierung - oder doch nicht?
Der Trend geht zur Zentralisierung - oder doch nicht?
Foto: Cmon - Fotolia.com

Wer sollte über welche Teile der Informationstechnik die Hoheit haben? Diese Frage kristallisierte sich spätestens heraus, nachdem in den 90er Jahren die Client-Server-Strukturen die Mainframe-basierte IT-Welt ablösten. Zu Zeiten der Großrechner war das noch kein Thema, weil die Maschinen in den Rechenzentren teuer waren und nur wenige Experten bereitstanden, die sie programmieren konnten. Doch dann rückten parallel zur Verbreitung der Client-Server-Lösungen Standardapplikationen von Microsoft, SAP oder anderen in den Vordergrund. Sie ließen sich ohne Programmierwissen konfigurieren. Damit begannen die Fachbereiche, ein immer größeres Interessen an einer informationstechnischen Eigenständigkeit zu entwickeln.

Das hat bis heute dazu geführt, dass Fachbereiche bis zu einem gewissen Grad ihre Applikationen selbst pflegen können und wollen. Konflikte und Abgrenzungsprobleme mit einer zentral organisierten IT sind quasi programmiert. Zentral oder dezentral? Aus Sicht von Wolfgang Twiest, Hauptabteilungsleiter und CIO von Enercity, lässt sich diese Frage sehr einfach beantworten. Vor allem wegen der Skalen- und Synergieeffekte versteht sich Twiest als überzeugter Zentralist.

Darüber hinaus nennt der IT-Fachmann eine Reihe weiterer Aspekte, die eindeutig für eine Zentralisierung sprächen. "Integrierte fachbereichsübergreifende Prozesse können nicht sinnvoll unterstützt werden, wenn es an übergreifenden IT-Anwendungen fehlt", betont er.

Dezentrale Veranwortung für SAP?

Bei der Dezentralisierung vermisst Twiest zudem "eine konsolidierende und koordinierende Hand" - vor allem, wenn es um Kern- und Strategiethemen geht. Dazu zählen eine gesamtheitlich ausgerichtete IT-Planung und Fragen der Standardisierung. Die Verantwortung für die SAP-Landschaft zum Beispiel lasse sich nur schwer dezentral angelegen, gibt der Enercity-CIO zu bedenken.

Ähnlich argumentiert Volker Dirksen, CIO beim mittelständischen Landwirtschaftsverlag in Münster. In seinen Augen gibt es keine sinnvolle Alternative zum zentralen Ansatz - jedenfalls nicht hinsichtlich der Commodity-Dienstleistungen wie Infrastruktur- und Desktop-Services. "Hier sind durch die relativ standardisierbaren beziehungsweise marktunabhängigen Aufgaben deutliche Skaleneffekte sowohl auf der Kosten- als auch auf der Nutzenseite möglich, wie sie sich bei einer Dezentralisierung nicht generieren lassen."

Das sieht nicht jeder so eindeutig. Joachim Reichel, CIO der Wacker Chemie, beispielsweise betrachtet die Angelegenheit ambivalent. Aus seiner Sicht ist es nicht möglich, die Frage nach einer alternativen Positionierung von Zentralisierung oder Dezentralisierung generell zu beantworten, weil sie eng mit der jeweiligen Geschäftsstrategie zusammenhänge. Mit Blick auf das eigene Unternehmen präferiere er allerdings den zentralen Ansatz, räumt der Wacker-CIO ein.

"Nicht zuletzt aufgrund unserer Verbundproduktion verfolgen wir die Philosophie, Prozesse möglichst einfach und an allen Standorten identisch zu gestalten", erläutert Reichel seinen Standpunkt: "Als Konsequenz arbeiten wir weltweit auf Basis der gleichen Standards." Das gelte auch in technischer Hinsicht; Religionskriege in Sachen Systementscheidungen würden bei Wacker Chemie jedenfalls nicht geführt.

Installation versus Betrieb

Thomas Mannmeusel, CIO bei Webasto SE
Thomas Mannmeusel, CIO bei Webasto SE
Foto: Webasto

Nach Einschätzung von Thomas Mannmeusel, CIO der Webasto SE, wird das ganze Thema in den meisten Fällen zu dogmatisch diskutiert. Wie der IT-Chef des Automobilzulieferers betont, ist zwischen Installation und Betrieb zu unterscheiden. Häufig würden Lösungen und Strukturen zwar zentral definiert und umgesetzt, aber dezentral betrieben beziehungsweise administriert.

Bei Webasto gebe es "globale Standards", die zunehmend von international besetzten "Competence Teams" definiert würden, erläutert Mannmeusel. Der Betrieb erfolge abhängig von der Kritikalität und den Performance-Anforderungen entweder aus der Unternehmenszentrale, aus regionalen Zentren oder auch lokal. "In Summe ziehen wir wesentlich mehr Vorteile als Nachteile aus der Zusammenarbeit in einem international verteilten Netzwerk von IT-Experten", sagt der Webasto-CIO. Dank der verteilten Struktur ließen sich etwa lokale Kostenvorteile nutzen. "Außerdem achten wir darauf, dass keine zentralen Know-how-Monopole entstehen", fügt er an.

Auf die Beziehungen kommt es an

Auch der Consultant Michael Maicher hält sich zurück mit einem pauschalen Urteil. "Ausschlaggebend sind die Rahmenbedingungen des Unternehmens", betont der Geschäftsführer des Beratungshauses Ardour. Dazu gehörten die Fragen,

  • in welchem Teil des Lebenszyklus sich das Anwenderunternehmen befindet,

  • welche geografische Verteilung von Prozessen und Aufgaben durch das Geschäftsmodell vorgegeben ist und

  • welche Abhängigkeiten die Wertschöpfung in sich aufweist.

"Auf einen Nenner gebracht, leitet sich die Antwort aus der Analyse ab, welche Beziehungsverhältnisse bei den Ressourcen bestehen und wie sie hinsichtlich der Strategie organisiert werden können", fasst Maicher zusammen. Aus Gründen des Komplexitäts-Managements empfiehlt er, möglichst autarke und für sich lebensfähige Einheiten zu organisieren: "Es sollten nur die Aufgaben zentralisiert werden, deren Synergieversprechen sich tatsächlich realisieren lassen."

Welche IT in die Fachbereiche?

Susanne Strahringer, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der TU Dresden
Susanne Strahringer, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der TU Dresden
Foto: TU Dresden

Im Zeichen des Phänomens Schatten-IT wird auch darüber diskutiert, was besser dezentral in den Fachbereichen der Unternehmen aufgehoben sei - und was nicht. Nach Ansicht von Susanne Strahringer, Professorin für Wirtschaftsinformatik an der Technischen Universität Dresden, sollte die IT-Infrastruktur grundsätzlich in zentraler Verantwortung liegen.

Diese Auffassung begründet die Wissenschaftlerin nicht zuletzt mit der Denkweise der Business-Bereiche. Die Fachabteilungen dächten eher in Funktionen und weniger in der Dimension von Lebenszyklen technischer Entwicklungen: "Außerdem werden IT-Innovationen wie etwa die Virtualisierung typischerweise nicht von den Fachbereichen getrieben. Diese sehen sich eher als Nutzer der durch technische Funktionen erzeugten Potenziale."

Im Hinblick auf die funktionalen Applikationen ist sich die Professorin der richtigen Positionierung allerdings nicht so sicher. Hier müsse sich die Ausrichtung aus den Strategien und aus der Kultur eines Unternehmens ableiten: "Tendenziell erachte ich eine dezentrale Zuordnung der Anwendungsebene durchaus als sinnvoll, zumal die Fachabteilungen durch eine punktuell höhere Eigenständigkeit ein verändertes Kostenbewusstsein entwickelt haben."

So lokal wie nötig

Der Differenzierung im Hinblick auf die Applikationen kann sich auch Dirksen anschließen - zumindest, wenn es sich um spezielle Anwendungen für regionale Bedürfnisse der internationalen Standorte handelt: "Wir treffen nicht zentral die Entscheidungen für die in den ausländischen Standorten notwendigen Softwarelösungen." Der Verlag vertrete die Auffassung, es sei nützlicher, wenn Systementscheidungen vor Ort getroffen und für die Umsetzung lokale Anbieter angeheuert würden. Die landesspezifischen Anforderungen könnten ja völlig unterschiedlich sein, eine zentrale Strategie also dem lokalen Geschäft zuwiderlaufen.

Dirksens Faustregel lautet: "Immer wenn das Geschäftsmodell zentral aufgestellt ist, sollte auch die technische Struktur eine zentrale Ausrichtung haben. Handelt es sich um sehr agile lokale Märkte mit unterschiedlichen Angeboten und Anforderungen, kann eine dezentrale Orientierung erheblich mehr Vorteile bieten."

Hauptproblem ist die Integration

Joachim Reichel, CIO bei der Wacker Chemie
Joachim Reichel, CIO bei der Wacker Chemie
Foto: Wacker Chemie

Wacker-Chemie-CIO Reichel mag sich dieser These nicht vorbehaltlos anschließen. "Möglicherweise ist im Falle einer dezentralen Umsetzung der Rollout schneller", räumt er ein, "doch dies wird im Regelfall damit erkauft, dass eine deutlich aufwendigere Integration entsteht."

Die mangelhafte Integration stelle das eigentliche Problem dar, so Reichels Überzeugung. "Und wenn wir heute mit großer Geschwindigkeit unsere Quartals- und Jahresergebnisse generieren können, dann ist dies nicht zuletzt auf die hoch integrierten Bedingungen zurückzuführen."

Gewisse Ausnahmen von der Zentralisierung sind allerdings sinnvoll. Davon ist zumindest Twiest, der IT-Verantwortliche von Enercity, überzeugt. Er denkt beispielsweise an Anwendungen, die über keine oder nur wenige Schnittstellen verfügen und deshalb durchaus in der Betreuung der Fachabteilungen liegen können. Ein Beispiel: "Die fachbezogenen Analysen sehe ich dort richtig positioniert, da hierfür gute Werkzeuge vorhanden sind und eine dezentrale Realisierung den Abstimmungsaufwand reduziert." (qua)