Wie Microsoft sich neu erfindet

27.11.2001
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Gerhard Holzwart begann 1990 als Redakteur der COMPUTERWOCHE und leitete dort ab 1996 das Ressort Unternehmen & Märkte.  Ab 2005 verantwortete er den Bereich Kongresse und Fachveranstaltungen der IDG Business Media GmbH und baute „IDG Events“ mit jährlich rund 80 Konferenzen zu einem der führenden Anbieter von ITK-Fachveranstaltungen in Deutschland aus. Seit 2010 ist Gerhard Holzwart geschäftsführender Gesellschafter der h&g Editors GmbH und ist in dieser Funktion als Event Producer, Direktmarketingspezialist und ITK-Fachredakteur tätig.        

Antitrust-Verfahren ohne Ende, Marketing-Rummel um Windows XP und Web-Services. Die aktuellen Schlagzeilen über Microsoft lenken von einer Entwicklung ab, die mindestens genauso interessant sein dürfte: Notgedrungen diversifizieren die Redmonder wie kaum ein anderes IT-Unternehmen in neue Märkte - Ausgang (noch) ungewiss.

Wer nicht für uns ist, ist gegen uns! Kein anderer Repräsentant der Gates-Company verkörpert diese am Firmensitz des Unternehmens in Redmond weit verbreitete Ansicht bekanntlich besser als der langjährige Microsoft-Vize und seit Januar vergangenen Jahres als CEO amtierende Steve Ballmer. Unvergessen bleibt beispielsweise Ballmers Ausbruch im Kartellverfahren vor rund vier Jahren, als er der damaligen US-Justizministerin Janet Reno Nachhilfe in Sachen freies Spiel der Marktkräfte gab: "Frau Reno, scheren Sie sich zum Teufel!

Microsofts CEO Steve Ballmer: "Was die Kunden brauchen, ist mehr Windows und noch mehr Windows."
Microsofts CEO Steve Ballmer: "Was die Kunden brauchen, ist mehr Windows und noch mehr Windows."

Was die Kunden brauchen, ist mehr Windows und noch mehr Windows!"

Konjunkturlokomotive Windows XP?

Nach dem weltweiten Launch von Windows XP am 25. Oktober müsste die Menschheit demnach wieder einmal glücklich sein. Nie zuvor bekamen die Kunden so viel Windows fürs Geld. Aber auch bei Microsoft und den PC-Herstellern, die dringend auf einen Katalysator für ihr flaues Gechäft angewiesen sind, kann man sich nach den ersten Verkaufszahlen alles in allem die Hände reiben: Demnach fanden in den USA binnen der ersten drei Tage nach der Produktvorstellung rund 300000 CDs ihren Abnehmer. Das Ergebnis liegt damit, so Microsoft, knapp unter den vergleichbaren Werten bei der Einführung von Windows 98, aber deutlich über denen bei der Premiere von Windows 95 im Sommer desselben Jahres, als die Anwender auf beiden Seiten des Atlantiks zum seinerzeit publicityträchtigen Sturm auf die Computerläden angesetzt hatten.

Vieles spricht dafür, dass Microsofts neues PC-Betriebssystem wieder ein kommerzieller Erfolg wird - ungeachtet der Tatsache, dass sich die Marktforscher in den zurückliegenden Wochen eher zurückhaltend zu dem Thema geäußert haben (siehe auch Zusatzartikel "XP-Prognosen der Auguren"). Auch an der kartellrechtlichen Front gibt es streng genommen nichts Neues, obwohl der mit dem US-Justizministerium ausgehandelte Vergleich vergangene Woche überraschend am Veto einiger US-Bundestaaten scheiterte. Für weitere Feindbilder im Sinne der eingangs geschilderten Wahrnehmungs-Gepflogenheiten im Microsoft-Headquarter dürfte somit gesorgt sein; und das Antitrust-Verfahren sowie die Bemühungen um eine außergerichtliche Einigung wurden spätestens jetzt zur Never-ending-story.

Doch der anhaltende juristische Kleinkrieg, in den die Gates-Company mit den Behörden in Washington D.C. verstrickt ist, und der Big Bang, den sich die PC-Industrie und damit die IT-Branche insgesamt durch Windows XP (jedenfalls bis zu den Terroranschlägen am 11. September) erhofft hatte, sind gar nicht das entscheidende Thema. Viel spannender ist, dass seit Monaten die wohl größte Produktoffensive in der Microsoft-Geschichte läuft, die Beobachter bereits zu der pointierten Feststellung veranlasste, die Redmonder wollten "die Gerichtsakten mit ihren Quellcodes überschreiben". Womit man dann zunächst doch wieder bei Windows XP ist. Aber es geht dabei primär nicht - jedenfalls aus Sicht von Microsoft - um ein weiteres Produktbundling, das neue Monopolvorwürfe nach zieht, sondern um ein für den Softwaregiganten völlig neues Geschäftsmodell: Programme werden nicht mehr nur auf Basis eines Lizenzmodells mit Hilfe von CDs verkauft,

sondern als Service via Internet vertrieben. Anders formuliert: Rund eine Milliarde Dollar an Entwicklungskosten sollen sich mittelfristig durch entsprechende Abo- und Transaktionsgebühren armortisieren und, wie viele Kritiker mutmaßen, den langerersehnten Traum von Microsoft-Gründer Bill Gates wahrmachen, nicht nur den Markt für PC-Software, sondern auch das Internet zu kontrollieren.

Passport: Big Brother im Internet?

Die Rede ist vor allem vom umstrittenen, in Windows XP fest integrierten Authentifizierungsdienst "Passport", mit dem Web-Surfer Namen, Adresse, Bankverbindung und Kreditkartennummer direkt bei Microsoft hinterlegen und sich dann mit nur einem User-Namen und einem Passwort bei vielen anderen mit Microsoft verbandelten Internet-Shops und -Dienstleistern anmelden können. Man kann auch sagen: müssen. Denn beim neuen Windows-Release kommen die Anwender neben dem klassischen Browser auch in den Genuss zahlreicher Multimediafunktionen, etwa für den Musik- und Videoempfang, dem Instant Messaging, also das Versenden kurzer Nachrichten über das Web, sowie einer speziellen Shopping-Software. Bei all dem gilt: Vorher bei Passport registrieren lassen, sonst läuft nichts! Und darüber schweben quasi seit mehr als einem Jahr die bisher allerdings nur als Blaupause der Microsoft-Entwickler existierenden .NET Myservices (früher Hailstorm), eine Art XML-basierter Middleware

respektive Entwicklungsumgebung, mit der Serviceanbieter im Internet künftig verhältnismäßig einfach, kostengünstig und unabhängig vom jeweiligen Endgerät des Nutzers ihre Dienste implementieren können.

Abgesang auf das klassische Lizenzmodell

Das Entscheidende für die Gates-Company ist: Durch die Registrierung bei Passport ließe sich künftig an vielen Internet-Transaktionen mitverdienen, die Abhängigkeit vom bisherigen Lizenzgeschäft wäre gebrochen. Nicht umsonst lehnte sich CEO Ballmer schon vor Monaten mit einer für das bisherige Business-Modell seiner Company waghalsigen Äußerung aus dem Fenster: "Das Business, wo man Software auf einer CD verkauft, wird verschwinden." Doch hinter der gewohnt kessen Lippe, mit der der Microsoft-Frontmann das kommende .NET-Zeitalter einläutete, steckt mehr. Ein "möglicherweise interessantes und alle bisherigen ASP-Modelle in den Schatten stellendes Vertriebskonzept", so Gartner-Analyst Tom Bittman vergangene Woche auf der ITxpo in Cannes. Gleichzeitig aber auch, wie der Branchenkenner sinngemäß zu bedenken gab, eine tickende Zeitbombe in der Microsoft-Bilanz.

Um zu verstehen, was damit gemeint ist, sollte man kurz die jüngere Historie des Unternehmens bemühen. Ende 1999 war Microsoft mit einem Börsenwert von 407 Milliarden Dollar das teuerste Unternehmen aller Zeiten, so wertvoll wie IBM und der Ölriese Exxon, die seinerzeit an dritter beziehungsweise vierter Stelle rangierten, zusammen. Das inzwischen Berühmtheit erlangte Urteil von Richter Thomas Penfield Jackson in erster Instanz des Kartellverfahrens sowie ein im Vorjahresvergleich dramatischer Einbruch beim Umsatzwachstum von 36 auf 16 Prozent machten das Millenniumsjahr 2000 für die Redmonder zum Katastrophenjahr. Der Kurs der Microsoft-Aktie stürzte - natürlich auch im Sog der allgemeinen Dotcom-Ernüchterung - bis Dezember 2000 um zwei Drittel ab, mehr als 300 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung lösten sich in Luft auf.

Konsequenzen aus dem "Katastrophenjahr"

Dass sich die Microsoft-Aktie inzwischen nach einem weiteren turbulenten Börsenjahr wieder bei rund 65 Dollar "stabilisiert" hat, tut der für die Gates-Company eigentlich niederschmetternden Diagnose keinen Abbruch: Mehr als 95 Prozent Marktanteil bei PC-Programmen reicht nicht, um weiterhin Zuwächse wie in der Vergangenheit zu erzielen. Die Musik spielt nach Ansicht von Gartner-Experte Bittman in Zukunft vielmehr bei Enterprise Software, vor allem aber im vorwiegend Consumer-ortientierten Geschäft mit Internet-Dienstleistungen. Bewahrheitet sich dies, hat Microsoft mit seiner derzeitigen Umsatzstruktur mehr als ein ernsthaftes Problem (siehe Abbildung). Auch IDC-Chefanalyst Dan Kusnetzky stellte schon vor Monaten angesichts der zahlreichen .NET-Ankündigungen lapidar fest: "Das auf den Verkauf von Softwarelizenzen und -Upgrades gestützte Geschäftsmodell stößt an seine Grenzen."

Ob jetzt im kommenden Jahr 160 Millionen oder nur 140 Millionen PCs mit dem vorinstallierten neuen Windows-Release samt Zusatzprogrammen ausgeliefert werden, dürfte demnach strategisch nur noch kurz- oder mittelfristige Auswirkungen auf die Geschäftsentwicklung von Microsoft haben. Für den De-facto-Monopolisten geht es vielmehr darum, in den zukünftigen Wachstumsmärkten möglichst schnell eine vergleichbare Position einzunehmen und diese langfristig zu sichern. Die alte Vision "Information at your fingertips", die Bill Gates bereits 1990 bei der Markteinführung von Windows 3.0 verkündete, könnte dann, wie Kritiker befürchten, Wirklichkeit in der Form werden, als man in Redmond bei jedem Mausklick, mit dem eine Transaktion im Web ausgelöst wird, die Hand aufhält.

Beeindruckend ist in jedem Fall, mit welcher Entschlossenheit die Gates-Company in den zurückliegenden eineinhalb Jahren die Weichen für die Märkte von morgen gestellt hat. Allerdings hat man dabei oft auch auf die Methoden der Vergangenheit zurückgegriffen. Den früheren "Browser-Krieg" mit Netscape ersetzen nun Themen wie Instant Messaging sowie Audio- und Videosoftware. So hat Microsoft seine eigenen Tools "MSN Messenger" und "Media Player" mit Windows XP gekoppelt - zum Nachteil entsprechender Konkurrenzpodukte wie "Instant Messenger" (AOL/Time Warner) und "Real Player" (Real Networks). Das Motiv ist eindeutig: Nachdem der eigene Online-Dienst Microsoft Network (MSN) mit weltweit rund sieben Millionen Abonnenten etabliert ist, soll Branchenführer AOL (derzeit rund 30 Millionen Nutzer) mit Hilfe des .NET-Konzeptes zur mehr oder weniger offenen Feldschlacht um die Macht im Internet herausgefordert werden.

Aber auch sonst handelt man in Redmond derzeit nach dem Motto: Viel Feind, viel Ehr! So gilt neben AOL nach wie vor Sun Microsystems als Hauptgegner. Die Programmiersprache Java der Kalifornier wird von Windows XP nicht mehr unterstützt. Die Scott-McNealy-Company konterte und rief mit dem Liberty-Konsortium eine 33 Firmen umfassende Hersteller-Allianz ins Leben, die ihrerseits ein Verfahren zur Identifikation von Kunden im Internet kreieren und damit Passport überflüssig machen soll.

X-Box schließt offene Endgeräteflanke

Ein nicht unbedeutender (neuer) Kriegsschauplatz, den Microsoft eröffnete, ist auch die Übernahme des auf kleinere und mittelständische Kunden spezialisierten ERP-Anbieters Great Plains zu Beginn dieses Jahres, mit dem Microsoft nach Ansicht von Fachleuten seinem im Rahmen der .NET-Strategie ins Visier genommenen Mietmodell via Internet Mehrwert durch das Angebot betriebswirtschaftlicher Standardsoftware geben möchte.

Es gibt kaum ein IT-Marktsegment mehr, in dem Microsoft keine strategische Ambitionen hat.
Es gibt kaum ein IT-Marktsegment mehr, in dem Microsoft keine strategische Ambitionen hat.

Mehr als eine Zäsur in der Firmengeschichte Microsofts dürfte auch der 15. November gewesen sein, an dem das Unternehmen - abgesehen von einigen unbedeutenden Peripherieprodukten in der Vergangenheit - seine Premiere als Hardwareproduzent feierte. Der Verkaufsstart der Spielekonsole "X-Box" in den USA ergänzt zum einen die Liste der Microsoft-Wettbewerber um weitere klangvolle Namen wie Nintendo und Sony, ist zum anderen aber auch notwendig, um den eigenen Ansprüchen gerecht zu werden. Denn .NET kann im Sinne von Microsoft nur funktionieren, wenn die entsprechenden Services auf jeder Art von Endgerät funktionieren. Was liegt also für Gates, Ballmer & Co. näher, als mit der X-Box quasi die (Firmen)Kunden von morgen, nämlich Kinder und Heranwachsende, nach bewährtem Muster anzusprechen? Ein auf dem Windows-Quellcode basierendes Betriebssystem sowie angedachte Features,

mit denen ab dem kommenden Jahr mit Online-Games auf die Konsole geladen werden können, sprechen Bände. Wenn das Geschäft mit X-Box floppt, könnte Microsoft somit mehr als ein Imageverlust sowie die Abschreibung allein von Marketing-Kosten in Höhe von 200 Millionen Dollar drohen.

Seifenblase "Settop-Box" geplatzt

Risiken gibt es aber auch noch anderswo. Zum Beispiel im Geschäft mit Mobiltelefon- und Organizer-Betriebssystem "Stinger", wo sich Microsoft auf einen langen und kostspieligen Wettbewerb mit den in diesem Bereich führenden Anbietern Nokia und Psion eingelassen hat, und wo man neben dem inzwischen guten Standing im Handheld-Markt ("Pocket-PC") die letzte noch offene Endgeräteflanke schließen will. Ganz zu schweigen von dem seit Jahren andauernden Engagement bei Kabelfernseh- und TK-Gesellschaften, das Microsoft geraume Zeit beachtliche Beteiligungsgewinne einbrachte, nun aber von Quartal zu Quartal hohe Verlustabschreibungen nach sich zieht - allein 980 Millionen Dollar in der jüngsten Berichtsperiode.

"Teure Settop-Boxen" kommentierte ein Wallstreet-Insider unlängst die Tatsache, dass sich Microsoft - wie viele andere IT-Hersteller auch - trotz jahrelangem Rühren der Werbetrommel kräftig mit der Annahme die Finger verbrannt hat, das TV-Gerät werde sich im Consumer-Bereich als Zugangsgerät zum Internet durchsetzen. Und so könnte, bis zum Beweis des Gegenteils, womöglich auch für die neuen Aktivitäten der Gates-Company die vernichtende Prognose des Merrill-Lynch-Analysten Henry Blodget zutreffen, der im Februar dieses Jahres zur Begründung seiner Herabstufung der Microsoft-Aktie "kaufen" auf "akkumulieren" trocken zu bedenken gab: "Es ist unstrittig, dass Microsoft der Gewinner des PC-Zeitalters war. Aber es ist mindestens ebenso unwahrscheinlich, dass es ein Unternehmen ein zweites Mal schafft, nach einer technologischen Revolution erneut marktbeherrschend zu sein."