Wider das Klischee vom Computer als Droge

05.04.1985

Die "Droge" Computer sollte nicht überbewertet werden, denn Überbewertung führt zu unberechtigten Erwartungen und falschen Hoffnungen, die dann nur allzuleicht in unsachliche Feindlichkeit umschlagen können. Man hat das auf anderen Gebieten deutlich erfahren.

Die Welt ist informationssüchtig geworden. Das Wort Information, vor 80 Jahren noch kaum gebraucht - es ist aber ein sehr altes Wort-, ist in aller Munde. Nicht nur, daß tatsächlich für alles, was geplant, getan und beurteilt werden soll, ständig mehr Information erforderlich ist, weil sowohl die Komplikation der inneren Strukturen immer größer wird als auch die Interdependenzen ständig wichtiger werden. Der Mensch schreit nach immer mehr Information, beschafft sich immer mehr Information (Zeitung und Radio und Fernsehen und Computer) und speichert immer mehr Information (Bücher, Schriften, Photos, Dias, Filme, Platten, Bänder). Er verspricht sich alles von der Information und er delektiert sich an ihr. Sie ist wirklich fast zu einer Droge geworden.

Dabei sind die Sinnesorgane mit dem genau Umgekehrten befaßt: mit der Reduktion der aufgenommenen Information, von Millionen Bits pro Sekunde auf die weniger als 25 Bits pro Sekunde, die das menschliche Bewußtsein bewältigen kann. Auch der Computer ist seinem Wesen nach nicht Informationserzeuger (herstellen kann er höchstens Redundanz: Weitschweifigkeit), sondern Informationskompressor und sogar Vernichter. Er macht aus vielen Summanden eine Endsumme, er rechnet die Determinante aus ihren n2 Elementen, er sucht einen Schachzug aus der Fülle der Möglichkeiten aus oder wenige Angaben aus einer riesigen Datenbank. Er arbeitet Programme ab, indem er sie und die eingegebenen Daten Schritt für Schritt löscht und knapp vor der völligen Vernichtung noch schnell das Ergebnis ausdruckt. Das muß nicht für alle Computervorgänge wahr sein, aber es ist absolut wahr, daß eine logische Schaltung Information reduzieren, niemals aber erzeugen kann.

Es gibt weitverbreitete Gegensätze zwischen den Erwartungen und Vorstellungen - nicht nur der Laien - und der wirklichen Stärke und Chancen der Informationsverarbeitung, die die Medien abbauen helfen sollten. Leider aber hätscheln sie nicht nur die Gegensätze, sondern sie liefern auch noch den Dünger, der sie zum Blühen bringt: Sie kultivieren die Klischees. Die Welt ist nämlich nicht nur informationssüchtig, sie ist auch klischeesüchtig und die Medien fördern das. Man braucht bloß ein Interview zu geben und dann zu zählen, wie viele klischeefreie Äußerungen in der Wiedergabe als Klischees erscheinen. Und dazu kommen die Fragen, die aus Klischees bestehen und Klischees als Antwort verlangen.

Ein herrlicher Fall für eine solche Betrachtung ist die "Fünfte Generation" (1), an der sich die "Japanische Herausforderung (2) an Hand der "Künstlichen Intelligenz" (3) manifestiert. Ich habe, wie man sieht, drei Klischees zu einem Satz kombiniert. Die Zählung nach Generationen liebe ich nicht besonders. Sie ist weder nützlich noch eindeutig; nur die "Fünfte" ist definiert, nämlich durch alles, was uns demnächst ins Haus stehen soll. Die "Japanische Herausforderung" freilich ist eine Realität. Man kennt sie von den Photoapparaten, Elektronikgeräten, Taschenrechnern und Autos. Sie wird bis zu beliebig großen Anlagen reichen, denn die Japaner wissen, wie man produziert und verkauft. Wir nicht - wie der klassische Fall der Firma Eumig beweist, deren Technik internationales Niveau hatte. Ob das geplante Aufgebot an Programmen der "Künstlichen Intelligenz" (in Japan waren sie zur Bewältigung der Schrift, der chinesischen Ideogramme im besonderen, lebenswichtig) so erfolgreich sein wird wie das Hardwareangebot, bleibt zu sehen.

Ich setze "Künstliche Intelligenz" in Anführungszeichen, denn im Deutschen ist dieser Begriff ein Widerspruch in sich selbst, da etwas nur entweder künstlich oder intelligent sein kann - es sei denn, man versteht Intelligenz als "intelligence" wie Intelligence Service, der zwar mit Intelligenz betrieben wird, aber alles andere als ein Intelligenzdienst ist.

Natürlich kommt etwas Gescheites heraus, wenn intelligente Programmierer versuchen, etliches, was der Geist leistet, als Ablaufmodell zu formulieren. Um wenig Geld kann man sich heute einen elektronischen Schachpartner kaufen (nicht einen Meister - so weit sind wir noch nicht). Und selbstverständlich ist es möglich, chinesische Schriftzeichen zu erkennen und - zum Beispiel auf Japanisch - vorzulesen (keine Meistervorlesung - so weit sind wir noch nicht). Wo aber braucht man das wirklich? Viel seltener, als es ausschaut. Die heutige Welt ist reich an Lösungen, zu denen Probleme gesucht werden.

Man verstehe diese Argumentation richtig: Sie geht nicht gegen den Fortschritt von Forschung und Technik, diesen brauchen wir und von ihm leben wir (und die Japaner leben noch besser von ihm, wo sie ihn noch besser organisieren). Es geht gegen übertriebene Erwartungen und falsche Hoffnungen. Es geht gegen das Herumwerfen mit Klischees, wo die einfache Wahrheit abenteuerlich und sensationell genug ist.

Auch der Ausdruck "Expertensystem" ist ein Klischee, das die Hoffnung erweckt, ein Computersystem könne den Experten ersetzen. Es kann in Wirklichkeit nur den entbehrlichen Experten ersetzen, denn der unentbehrliche tut immer wieder etwas, das im Gegensatz zu den Ergebnissen der Programme steht. Aber auch der beste Experte kann ein System brauchen, das ihn bei der Arbeit unterstützt (wenn es ihn wirklich unterstützt). Solch ein "System für Experten" ist ja meistens auch gemeint, und was lieferbar und nützlich ist, gehört in diese Kategorie.

So wie heute jeder Tapezierer seinen Laden Polstermöbel-Center nennt, so kündigt man jedes Anwendungsprogramm als Expertensystem an; künstlich intelligent ist es ja ex officio. Gewiß, hier übertreibe ich schon wieder, aber ich will etwas deutlich machen und dies ist in dieser überreizten Welt nur mit Übertreibung möglich - und das war schon wieder eine Bemerkung zur Informationssucht. Denn Übertreibung ist Ausstattung mit Information, die zum Zweck der Wahrheitsfindung reduziert werden muß.

Unsere vergeßliche Zeit weiß kaum mehr, daß der Computer mit einem Expertensystem der Pionierzeit seine bisher größte Niederlage erlitten hat, nämlich mit der automatischen Übersetzung natürlicher Sprachen. Damals sollte der Dolmetscher durch den Computer ersetzt werden und es gab gewaltige Projekte dafür. Die Amerikaner übersetzten schließlich täglich die Pravda mit einem Übersetzungssystem. Heute ist davon keine Rede mehr. Es geht nicht ohne den Experten, so weit sind wir noch nicht. Der israelische, in Wien geborene Philosoph Y. Bar-Hillel, der sich zweimal verwandelt hatte, nämlich vom Feind zum Verfechter und wieder zurück zum Feind der automatischen Übersetzung, gab ein vortreffliches Beispiel für die Hindernisse. Der englische Satz "The box is in the pen" enthält ein Wort mit zwei Bedeutungen: "pen" kann nämlich Feder heißen oder Gehschule. Für den Dolmetscher ist die Entscheidung klar, denn er hat sofort ein Bild der vom Satz ausgedrückten Situation vor sich, der Computer hat es nicht. Selbstverständlich kann man Programme entwerfen, die das Problem lösen - dieses Problem und beim nächsten geht die Arbeit weiter.

Wieder geht die Argumentation selbstverständlich nicht gegen Forschung und Entwicklung. Mit der Zeit wird schon klar, für welche Aufgaben der Computer zur Unterstützung der Experten und wo er vielleicht an Stelle der Experten eingesetzt werden kann. Es geht gegen übertriebene Allgemeinerwartungen und ihre Auslösung durch sorglose Sprache. Zum Beispiel kann der komplexe Vorgang der Auffindung von geologischen Lagerstätten durch eine Kombination von Programmen und Meßgeräten erheblich verbessert und beschleunigt werden und hier kommt man bis zu einem System, das den Namen Expertensystem verdienen mag -und ein solches betreibt natürlich niemand ohne Experten.

Der Computer sollte nicht überbewertet werden, man sollte ihn aber auch nicht falsch beschuldigen. Wenn alle unberechtigten Erwartungen und falschen Hoffnungen aus dem Bild entfernt sind, bleiben genügend berechtigte Erwartungen und notwendige Entwicklungen übrig, um Generationen von Informatikern und viele andere zu beschäftigen. Die Frage ist, ob wir all diese Arbeit richtig zu organisieren, richtig einzufädeln verstehen.

Noch nie war irgend eine Technik ein Job-Killer. Das ist wieder ein Klischee, nur diesmal aus der Kiste der Soziologen und der Möchte-gern-Soziologen. Weil nämlich keine Technik auf die Bewältigung des von ihr vorgefundenen Arbeitsumfangs beschränkt bleibt, sondern auch neue Anwendungsfelder findet. Die gesamte Geschichte der Technik und der gesamte Beschäftigungsstand Europas sind Beweise dafür. Die menschenleere Fabrik ist Schreibtisch Science-fiction. Wir werden froh sein müssen, wenn uns der Ansturm neuer technischer Möglichkeiten nicht Überlastet oder gar in den Zusammenbruch treibt.

Der Computer ist ein Arbeitsverwandler und ein schneller noch dazu.. Das wird uns Schwierigkeiten machen. Der Computer verlangt außerordentliche Schul- und Fachausbildung. Vielleicht kehren wir einmal vor dieser Tür?

Es ist sinn- und wirkungslos, den Computer zu beschuldigen. Wenn überhaupt wer zu beschuldigen ist, dann sind das wir selbst. In seiner Perfektion verstärkt er unsere Imperfektion und in seiner Objektivität läßt er falsche lächerlich erscheinen.