Werbeaussagen entpuppen sich allzuoft als Potemkinsche Dörfer

06.09.1985

Im Werbe-Verhalten der DV-Hersteller scheint sich in den vergangenen Jahren wenig geändert zu haben. Nach wie vor versuchen die Anbieter von DV-Systemen, potentielle Käufer mit Lobliedern auf ihre Produkte "einzulullen". Überprüft man jedoch die flotten Werbesprüche genauer, so entpuppen sich diese häufig als "Potemkinsche Dörfer", stellt Rudolf Nechutniss, DV-Chef der Maschinenfabrik Voith, fest. Ein faireres Verhalten der Anbieter dem Benutzer gegenüber fordert auch Kurt Geiser von der Bremer Lagerhaus AG. Eine Lobeshymne auf die Werbepraktiken der Hersteller stimmt dagegen Dr. Peter Naumann von der Raiffeisen Haupt-Genossenschaft aus Hannover an: Er kann in den DV-Anzeigen "keinen verbalen Übertreibungsfaktor" entdecken.

Dr. Peter Naumann

Abteilungsdirektor Systementwicklung, Raiffeisen Haupt-Genossenschaft, Hannover

Der Computer-Markt hat seine eigenen Gesetze. Dementsprechend sind auch die Methoden und Instrumente, die von DV-Herstellern in der Werbung eingesetzt werden, nicht mit den sonst üblichen Maßstäben zu messen. So wird man sich zumindest in Deutschland schwertun, einen Werbespot von IBM oder einem anderen Großen im Rundfunk oder Fernsehen zu erhaschen. Auch die sonst so beliebte Werbung in Tageszeitungen oder Zeitschriften ist nicht gerade der Fall für alteingesessene DV-Hersteller; selbst in Fachzeitschriften wie der COMPUTERWOCHE ist eine Anzeige von IBM, Siemens oder Nixdorf relativ selten zu finden.

Mikrocomputer-Hersteller, Softwarehäuser und Produzenten IBM-kompatibler Peripherie bedienen sich häufiger der Anzeigen als Werbemittel, um ihren Produkten, vor allem aber sich selbst am Markt einen höheren Bekanntheitsgrad zu verschaffen. Die typische DV-Anzeige kennt dabei auch nicht den in der allgemeinen Werbung gern angewandten verbalen Übertreibungsfaktor. Sie ist relativ sachbezogen und informativ, denn schließlich wird der Fachmann angesprochen, und der hat tieferen Einblick in die Stärken und Schwächen der einzelnen Produkte, beziehungsweise er verschafft ihn sich. So benutzten die bekannten Unternehmen, wie die obengenannten, wenn sie überhaupt eine Anzeige schalten, diese in erster Linie für gezielte Hinweise auf spezielle Produkte im Mikro-Markt (zum Beispiel IBM PC), im Peripherie-Sektor (zum Beispiel Siemens-Bildschirme) oder in der Software-Entwicklung (zum Beispiel Nixdorf: Unix und "C"), jedoch kaum im Mainframe-Sektor. Und praktisch jede Anzeige enthält dann den Hinweis auf Kontaktstellen für nähere Informationen, dient also nur als Anknüpfer für das persönliche Gespräch.

Zusammenfassend könnte man sagen, daß die großen DV-Hersteller Fernsehen, Radio und Zeitungen sicher nicht für besonders werbewirksam halten. IBM, Siemens, Nixdorf und andere machen keine Werbung, sie machen Marketing. Wenn man fragen sollte, wo der genaue Unterschied zwischen Marketing und Werbung eigentlich liegt, so kann man bei den DV-Herstellern lernen, wie vielfältig das Spektrum an Marketing-Instrumenten sein kann, um insbesondere Werbung in indirekter Form - manchmal kaum als solche spürbar - zu betreiben. IBM beispielsweise wirbt nicht für seine Produkte, IBM wirbt höchstens für seinen und mit seinem Namen. Bei IBM, und das gilt genauso für die übrigen, teilweise schon angesprochenen Großen, lernt man erst einmal etwas über die Größe, Zuverlässigkeit, den vordersten Rang und die Kontinuität des Unternehmens in der technologischen Weiterentwicklung, bevor man zum eigentlichen Produkt kommt. Das ist auch richtig so, denn egal, welche Anlage man kauft (oder mietet), eines ist fast immer von vornherein sicher: In drei bis vier Jahren steht das Ding nicht mehr da. Mit der Frage, was danach kommt, fangen die Probleme ja eigentlich erst an.

Die Schwerpunkte in den Werbepraktiken liegen heute außerhalb der Standardmedien, wenn wir uns weiterhin auf die Großen der Branche konzentrieren. Der Markt ist gekennzeichnet durch das starke Vordringen der Minis und Mikros, der Netzwerktechniken und der Bürokommunikation bei gleichzeitigem Rückgang im Mainframe-Sektor. Im Mini- und Mikrobereich war und ist die Konkurrenz für die Alteingesessenen auf dem Markt ungleich größer und auch härter als bei Großrechnern. Auch die Vergleichbarkeit ist dort einfacher. Für IBM zum Beispiel reicht damit die reine Image-Werbung nicht mehr aus, insbesondere da man im "kleinen" ähnlich wie im "großen" Bereich das Problem des im Wettbewerb nicht gerade niedrigen Hardware-Preises hat. So geben die großen Hersteller ihren Kunden schon bei der Unternehmensplanung oder bei der Erstellung einer DV-Strategie Hilfestellung.

Dies wird begleitet durch eine permanente und durchweg exzellente, weil auch individuelle Informationspolitik insbesondere für das Management des Kunden. Aussagen bezüglich technischer Entwicklung und Leistungsfähigkeit sind immer noch vergleichsweise recht zuverlässig, da man weiß, wie wichtig gerade dies für viele Kunden ist. Service-Netz und das Angebot an qualifizierten Dienstleistungen sind sicherlich nach wie vor Werbung ganz für sich. IBM wirbt um den Kunden als Ganzes und betreibt eine Abwehrwerbung beim Kunden gegen das Eindringen von Mitbewerbern in eigene Marktsegmente, wie den Bereich Mikros und Minis, mit Hinweis auf die Vorteile einer herstellerhomogenen Hardware-Welt. Man ist dann aber auch gar nicht ängstlich, alle Service-Leistungen wie Unterstützung und Informationen radikal zusammenzustreichen wenn der Kunde in bestimmten Segmenten fremdgeht.

Große Teile dieser Werbepraktiken im weitesten Sinne sind auch bei Nixdorf zu finden. Sie erreichen allerdings noch nicht in jedem Fall den IBM-Qualitätsstandard. Dort steht ein anderes Werbemittel ganz vorn: die Werbung mit dem Angebot an Anwender-Software. Die Erfahrung, daß beim Kunden für mittlere und kleinere Systeme oft die Programmierkapazität fehlt, hat man in ein umfassendes Angebot an anwenderbezogener Individualsoftware umgesetzt. Man wirbt mit der Software und liefert die passende Hardware dazu. Hier muß der Kunde, insbesondere wenn er in der DV-Welt nicht ganz zu Hause ist, schon auf Unterschiede zwischen Kundenwerbung und Realität aufpassen. Nixdorf folgt zwar auch in der Realität seinem Werbeslogan: "Wir lassen den Kunden mit seinen Problemen nicht allein", das kann aber mit nicht geplanten Kosten verbunden sein.

Dies ist sicher nur ein kleiner, aber auch signifikanter Ausschnitt aus dem Werbepraktikum großer Hersteller.

Zusammenfassend erscheint vor allem wichtig, daß die wesentlichen Werbepraktiken vor allem der großen DV-Hersteller noch angenehm indirekt auf den Kunden einwirken. Dabei ist die Diskrepanz zwischen Werbe-Information auf der einen Seite und harter Realität auf der anderen Seite im DV-Bereich im Vergleich zu manchen anderen Branchen zumeist noch erfreulich gering.

Kurt Geiser,

Hauptabteilungsleiter EDV-prozeßgesteuerte Systeme, Bremer Lagerhausgesellschaft, Bremen

Oftmals stellt man sich die Frage, ob die Werbung in der Computer-Industrie als Motor der Umsatzsteigerung der einzelnen Unternehmungen oder als Information für den potentiellen Käufer, den sogenannten End-User, oder als reines marktdirigistisches Medium - im negativen und positiven Sinne gleichermaßen - angesehen werden kann.

Die Produktpalette der Hardware-Hersteller wie auch der Software-Produzenten ist so vielseitig und unterschiedlich, daß der Angesprochene den Überblick verliert. Produkte wie Mikrocomputer, Speichermedien, Terminals, Betriebssysteme, Datenbanken und Datenbanksprachen, Programmiersprachen, Expertensysteme und Netzwerke werden angepriesen und angeboten. Und hier beginnt das Dilemma. Da in der Computer-Industrie ein Produkt niemals alleine für sich funktionsfähig ist, hat sich der Empfänger der Werbebotschaft mit einer Kombination verschiedenster Produkte auseinanderzusetzen.

Da jeder Hersteller aber nur seine Produktpalette anpreist, sie selbstverständlich über alles lobt - ein ganz legitimes Verhalten übrigens, solange das Lob der Wahrheit entspricht -, bleibt es dem Interessenten überlassen, die Produkte zu kombinieren.

Wären die Anbieter fair und würden neben ihren Produkten gleichzeitig die dafür notwendigen anderen Produkte als "Installationshinweis" zumindest erwähnen - soweit nicht alles selbst im eigenen Unternehmen hergestellt wird -, würde dies auch vertrauensfördernd wirken.

Beispielsweise die abgedroschene Floskel "kompatibel zu XY", meistens zur IBM, reicht nicht aus, denn äußerst selten sind Geräte ohne entsprechende Softwareanpassung voll kompatibel. Selbst die Werbung eines Anbieters für seine eigenen neuen Produkte erwähnt nicht die notwendigen Veränderungen an bestehenden Systemen. Dies könnte man als Benutzer beziehungsweise als Käufer aber am ehesten erwarten.

Phrasen wie "Die Zukunft ihrer XY-Maschine hat sich verdoppelt" tragen keinesfalls zu einer transparenteren Präsentation der Computerprodukte bei. Im Gegenteil: Durch das Nicht-Erwähnen von Tatsachen wird beim Benutzer solcher Systeme der Eindruck einer absoluten Funktionsfähigkeit erweckt. Da erfahrene Anwender den Werbesprüchen ohnehin keinen Glauben schenken, halten sie sich Spezialisten. Diese haben die Aufgabe, aus den angepriesenen Produkten eines oder mehrerer Hersteller ein "System" zusammenzubauen, das mit dem bereits installierten harmoniert oder - wenn es neu ist - den Benutzeranforderungen gerecht wird. Da größere Systeme auch nicht so einfach mal zur Probe installiert werden, kann das sehr teuer kommen.

Ganz zu schweigen davon, wenn Softwareprodukte bereits installierten Systemen hinzugefügt werden müssen, ohne deren Auswirkungen vorher genau zu kennen. Mir fällt dabei immer wieder der Vergleich mit dem Medikamentenmißbrauch ein, wenn ein Patient ohne Kenntnis von Nebenwirkungen oder Anwendungsbeschränkungen

mehrere Medikamente gleichzeitig einnimmt. Siechtum, monatelanges Unwohlsein, schlimmstenfalls der Tod können die Folgen sein. Ich überlasse es dem Leser, diese der Medizin entnommenen Begriffe auf betriebswirtschaftliche und unternehmenspolitische Auswirkungen zu übertragen.

Ich frage mich, warum kann die Werbung nicht klarer die Produkte anpreisen, die Kombinationsverträglichkeit mit eigenen Produkten oder Produkten anderer Hersteller darstellen? Damit könnte der Interessent gezielter und geradliniger sich einem Produkt nähern, und für beide, Anbieter und Käufer, käme das Geschäft schneller zustande. Wenn man dann auch noch vorher erführe, was das "Ding" kostet, wäre ein weiterer Schritt in Richtung "Vertrauensbildung zwischen Hardware-/Software-Hersteller einerseits und Benutzer/Käufer andererseits getan. Solange dies jedoch nicht geschieht, gilt immer noch der weise Spruch "Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser". Letzteres geht, gewollt oder ungewollt, voll und ganz zu Lasten der Benutzer. Wenn sich die Produkte der Hersteller in ihrer dargestellten Qualität so gleichen würden wie die Werbespots, die sie anpreisen, hätten wir wahrscheinlich hard- und softwaremäßig die totale Kompatibilität. Schön wär's.

Rudolf Nechutniss

Prokurist Rechnungswesen und Organisation, Maschinenfabrik J. M. Voith GmbH, Heidenheim

Beim Vertrieb von Organisatiòns- und Kommunikationsmitteln kam die Information über das Produkt wesentlich verstärkt werden durch die Information über die möglichen Anwendungen oder bei bereits eingeführten Produkten über realisierte Problemlösungen.

Damit sind für die hier interessanten Produkte - unabhängig, ob sie zur Hard- oder Software gehören - zwei Zeitzustände (vor oder nach der Produkteinführung) für die Beurteilung von Werbeaussagen zu betrachten.

In den letzten 20 Jahren hat es Produktankündigungen ohne vorzeigbare Hardware gegeben, die einen Auftragseingangsboom bei bestimmten Anbietern auslösten.

Danach trat durch Lieferterminüberziehungen, Produktemängel und beiderseits fehlende Erfahrung der Frust bei den Anwendern in den Fachabteilungen ein.

Von den Bestellern würde sicherlich niemand eine kleine Wohnung nur nach Prospekt und unbesichtigt mieten oder kaufen, um hinterher festzustellen, daß seine bisherigen Möbel nicht passen. Es muß also der Werbepsychologie und -strategie bestimmter Hersteller gelungen sein, zum Kauf oder zur Miete der "Katze im Sack" derart zu motivieren oder besser zu animieren. Inzwischen hat sich im Verhalten der Hersteller wenig, im Verhalten vieler Anwender jedoch alles geändert.

Ich stelle mich der Kritik der Hersteller, die mir vor allem Unlogik bei meiner Feststellung vorwerfen werden. Denn wie heißt es so schön in der Werbetheorie: "Werbung berücksichtigt und folgt dem veränderten Verhalten des Verbrauchers".

Wir haben es hier aber nicht mit Verbrauchern, sondern mit Anwendern zu tun, die weiterhin - wie seit 20 Jahren - nach Problemlösungen suchen. Diese Benutzer können die erworbene "Katze im Sack" nicht einfach wegwerfen wie der Verbraucher sein Hemd oder das Waschpulver wegen unrichtiger Werbeaussagen.

Die Werbeaussagen für den Markt der Informationsmittel sind heute wie gestern nur durch Anwendungen zu prüfen und entpuppen sich dabei häufig als "Potemkinsche Dörfer".

Schlägt man einmal die Prospekte und sonstigen Medien auf, dann dürften die Vernetzungen der Hardware unterschiedlicher oder eines Herstellers, die Anschlüsse beliebiger Peripherie an die CPUs, die Umstellung auf andere Betriebssysteme, die Kommunikation unterschiedlicher Betriebssysteme miteinander sowie die Einbeziehung der Bürokommunikation in die Informationsverarbeitung keine Probleme mehr darstellen.

Falls die User dann trotzdem noch vor ungelösten Aufgaben stehen, so geht es ihnen genauso wie uns: Wir prüfen nämlich Werbeaussagen durch Kontakte zu anderen Anwendern oder durch eigene Versuche auf ihre Praxistauglichkeit. Vor dem eigenen Versuch sollte jedoch der sachlich und juristisch abgesicherte Vertrag stehen, der ein kostenloses Rücktrittsrecht einräumt - sonst sitzt man wieder auf der "Katze im Sack".