Wenn Unternehmen schwärmen

12.11.2004
Von Andreas Neef
Unternehmen von morgen werden modular, virtuell und vernetzt sein. Statt fester Organisationsformen agiert ein Schwarm selbständiger Individuen. Und irgendwann kommunizieren wir über Implantate mit Maschinen.

Jede Zeit hat ihre Utopien. Mitte der 90er Jahre zauberte das Internet die Magie des Netzwerks in unsere Köpfe. Von da aus war es nur ein kleiner Schritt zur Vorstellung eines unabhängigen und freien Arbeitens - von überall aus, zu jeder Zeit, ohne Vorgesetzte, mit ständig wechselnden Partnern, risikofrei ohne Formalien und Fixkosten. Das Leitbild des virtuellen Unternehmens hat spätestens mit dem gleichnamigen Beststeller von William Davidow und Michael Malone einen erstaunlichen Siegeszug in der Management-Theorie und teilweise auch in der -praxis angetreten. Plötzlich herrschte überall Virtualität. Jede Arbeitsgemeinschaft, die digitale Dateien austauschte, wurde zum virtuellen Unternehmung geadelt. Die Idee traf den Nerv einer Generation, die sich aufgemacht hatte, die Wirtschaft neu zu erfinden, und die davon

träumte, mit dem Laptop am Strand zu sitzen, einen Cocktail in der Hand zu halten und gleichzeitig mit vielen Freunden im Netzwerk große virtueller Räder zu drehen. Die Träume haben sich nicht erfüllt. Der Prozess der Virtualisierung der Wirtschaft ist jedoch vorangeschritten.

Inzwischen ist die Magie der Virtualität einem nüchternen Pragmatismus gewichen. Noch immer arbeiten die meisten Knowledge-Worker in langweiligen Bürogebäuden statt in High-Tech-Teleports oder im breitbandig vernetzten Garten zu Hause. Sicher: Die Arbeitsmobilität und -flexibilität ist in den vergangenen Jahren gestiegen. Man arbeitet heute flexibel und von unterwegs, jedoch in der Regel nicht entspannt an der Costa del Sol, sondern man nutzt den zeitlichen Leerlauf im ICE3 zwischen Frankfurt und Duisburg.

Der Motor der Virtualisierung ist heute nicht mehr primär die charmante ökonomische Utopie intelligent vernetzter Kleinunternehmer, sondern es sind die Überlebensstrategien der digital aufgeppten Old Economy. Jedes Unternehmen ist heute in der einen oder anderen Weise "virtualisiert". Dies ergibt sich schon aus der intensiven Nutzung von IT und Kommunikationstechnik über alle Branchen hinweg. Die Grenzen von Unternehmen sind mit der Digitalisierung der Geschäftsprozesse insgesamt offener und fließender geworden. Das Verhältnis zu Lieferanten, Kunden und anderen Partnern hat sich verändert. Sie alle werden als aktive Elemente der Wertschöpfung betrachtet. Der Gestaltung und dem Management der Beziehungsnetze nach innen und außen wird daher in den Unternehmen verstärkt Beachtung geschenkt. Durch den Trend zum

Outsourcing, durch ständige Reorganisationsprozesse, Zu- und Verkäufe von Unternehmen, temporäre Kooperationen mit anderen Unternehmen oder durch das Offshoring ganzer Abteilungen an Dienstleister im kostengünstigen Ausland findet zudem eine schleichende Transformation statt: Unternehmen werden nicht mehr als kohärente soziale Gebilde geführt, sondern sie zerfallen in einen komplexen Verbund von Geschäftsmodulen, die dank leistungsfähiger Vernetzung je nach Bedarf und aktueller Strategie umgestaltet, ausgelagert und rekombiniert werden können.

Modularisierung, Virtualisierung und Vernetzung sind hingegen kein Selbstzweck, sondern eine Reaktion der Unternehmen auf die sich rasch ändernden Umfeldbedingungen. Globaler Wettbewerb, gesättigte Kernmärkte, Veränderungen des Konsumentenverhaltens und hoher Kostendruck zwingen die Unternehmen zu hoher Flexibilität und Reaktionsfähigkeit, um auf die Chancen und Risiken der Märkte angemessen und erfolgreich reagieren zu können.

Schnelle Reaktionszeiten gefragt

Ende des 19. Jahrhunderts brauchte es noch rund 30 Jahre, bis nach der Einführung einer Innovation am Markt ein ernst zu nehmender Wettbewerber auftauchte. In der informatisierten High-Speed-Ökonomie des 21. Jahrhunderts sind es oftmals nur noch wenige Monate.

Investitionen müssen sich dabei immer schneller rechnen. Ob sie es tatsächlich tun, wird hingegen immer ungewisser. Ob ein neuer Kinofilm ein wirtschaftlicher Erfolg wird, entscheidet sich in der Regel schon am Premierentag. In der Bekleidungsindustrie gibt es bis zu sechs Kollektionswechsel pro Jahr. Neue Handy-Features werden im Monatstakt vorgestellt und zwingen die Wettbewerber zum sofortigen Nachziehen. Beschleunigung und Komplexität sind die nicht reversiblen Begleiterscheinungen der globalen Vernetzung. Und die Unternehmen werden sich künftig auf diese Bedingungen weiter einstellen, indem sie bestrebt sein werden, den Raum ihrer Handlungsoptionen zu öffnen und beständig auszuweiten.

Von Hybriden und Symbiosen

Die Formen, in denen wirtschaftliche Aktivitäten stattfinden, werden gegenüber heute noch vielfältiger und volatiler. Die Grenzen der Organisationsformen verschwimmen weiter. Hybride Organisationen zwischen verbindlicher Rechtsform und informeller Symbiose werden zu gewöhnlichen Bausteinen des Alltagsgeschäfts. Große, mittlere und kleine Player agieren und kooperieren in einem offenen und vibrierenden Ökosystem der Wertschöpfungsbeziehungen. Wo das eine Unternehmen anfängt und das andere aufhört, wer Partner ist oder Wettbewerber, ist unter den Bedingungen von Beschleunigung und Komplexität kaum zu entscheiden. Damit Unternehmen unter diesen Bedingungen langfristig handlungsfähig bleiben, bedarf es zur Steuerung ihrer Weiterentwicklung zukunftsfähiger Organisationsleitbilder. Die Maschinen-Metapher war prägend für die hierarchische und durchgeplante Struktur der Unternehmen des Industriezeitalters. Das sozio-technische Leitbild

des Netzwerks prägte das organisatorische Denken in der sich entwickelnden Wissensökonomie der Jahrtausendwende. Der Abbau von Hierarchien und der Übergang von der starren Linien- zur flexiblen Projektorganisation waren ihre zentralen Errungenschaften. In den Wertschöpfungs-Ökosystemen der Zukunft werden hingegen Aspekte wie Selbstorganisation und Umweltadaptivität, Kreativität und verteilte Intelligenz im Zentrum der Organisationsentwicklung stehen.

Damit ist der Paradigmenwechsel von einem sozio-technischen zu einem sozio-biologischen Denken vorgezeichnet. Das Unternehmen der Zukunft gleicht insofern einem Schwarm selbstständig handelnder Individuen, die sich situativ und selbst organisiert koordinieren. Im Schwarm-Unternehmen ist der Gedanke der Flexibilität und Dezentralität ins Extrem getrieben. Konsequenterweise existieren in einer solchen Struktur keine fixierten Stellenbeschreibungen, und die vordringliche Aufgabe des Managements besteht im Setzen von Regeln und Zielen, in der Moderation und Motivation der Mitarbeiter.

Arbeiten im Kollektiv

Die operativen Strukturen und Abläufe entwickeln sich hingegen ad hoc im direkten Bezug auf die konkrete Aufgabenstellung durch Selbstorganisation der beteiligten Mitarbeiter. Statt Wissen zu managen, wird künftig die Verknüpfung von individuellen Kompetenzen zum Aufbau kollektiver Handlungsintelligenz unterstützt. Dabei kann das Management eine Menge von der Natur lernen. Nicht zufällig erwacht heute das wissenschaftliche Interesse an Konzepten wie der Schwarm-Intelligenz. Die erstaunlichen Leistungen von Termiten und Ameisen werden zu Impulsgebern für radikale Management-Innovationen.

Das Leitbild des Schwarm-Unternehmens korreliert in hohem Maße mit den heute in Open-Source-Projekten in Ansätzen erprobten Peer-to-Peer-Prinzip (P2P). Und in der Tat weist auch die Evolution der technischen Business-Infrastrukturen eindeutig in Richtung von P2P-Technologien. Im komplett auf Internet-Technologie aufbauenden Konvergenznetz der nächsten Generation (Next Generation Network) werden zentralistische Konzepte keine Rolle mehr spielen. Kooperierende Agentensysteme, Grid-Computing, Web-Services und mobiles Internet zeigen heute schon den Weg in diese Zukunft auf. Wenn man die bekannte These des Medientheoretikers Marshall McLuhan bemüht, wonach das Medium die Botschaft ist, dann lautet die Botschaft der Peer-to-Peer-Technologie an die Wirtschaft der Zukunft: Dezentralisierung, Selbstorganisation, Spontaneität, radikale Ressourceneffizienz und offene Strukturentwicklung.

Globaler Business Grid

Oder eben kürzer: Schwarm-Organisation! Dieser Strukturwandel wird auch auf der ökonomischen Makroebene eine Entsprechung finden. Branchengrenzen brechen auf. Hybrid- und Konvergenzmärkte entstehen, die nicht mehr entlang der klassischen Produkt- und Angebotsformate strukturiert sind. Es entsteht eine Art globaler Business Grid, aus dem heraus immer stärker differenzierte Geschäftsmodelle unter Einbezug der Ressourcen einer zunehmenden Anzahl von Kooperationspartnern und Dienstleistern generiert werden. Das Geschäftsleben der nächsten Dekaden in Annäherung an den globalen Business Grid wird informationstechnisch vollkommen durchdrungen sein. Die Unterscheidung zwischen virtueller Organisation und realem Geschäft wird dann keinen Sinn mehr ergeben.

Gehen wir noch einen Schritt weiter. Die Erkenntnisse und Experimente der Hirnforschung beginnen schon heute unser Menschenbild zu revolutionieren. Pionierarbeit leistet, wie so oft bei technologischen Entwicklungen, das US-amerikanische Militär mit dem Ziel, Waffensysteme in Hochgeschwindigkeit zu steuern. In 30 Jahren wird diese Fiktion eventuell schon zum Alltag gehören: funktionierender Datenaustausch zwischen Mensch und Maschine. Stellen Sie sich vor, Chipimplantate erlangen die Marktreife, mit denen sich das Denken optimieren lässt. Dies wäre wie eine Art elektronisches Doping fürs Gehirn und würde die Gesellschaft wie auch die Wirtschaft in dramatischer Weise ändern. Audiovisuelle oder haptische Impulse werden allgemein wichtiger, um die eigene Organisation in einem hochdynamischen und hochkomplexen Umfeld zu navigieren.

Schrift wird vermehrt durch Sensorik ersetzt. Kommunikations- und Entscheidungsprozesse erhalten eine neue Beschleunigung. Unternehmen gewinnen ganz neue Möglichkeiten der bidirektionalen Kommunikation mit Kunden, Partnern und Mitarbeitern. Vorläufer dieser Entwicklung sind die aktuell aus dem Boden sprießenden Agenturen für Neuromarketing, die mittels Kernspintomographie der Hirnaktivitäten versuchen, die verborgenen Wünsche der Kunden zu erkennen, Konsumentenverhalten gezielt zu beeinflussen oder die strategische Markenpositionierung anzupassen.

Im Ergebnis entsteht in der Zukunft ein "Cockpit-Unternehmen". Das Bild von Tom Cruise in "Minority Report" haftet uns noch im Gedächtnis. Der Unternehmer der Zukunft steuert durch seine Neuronen und Sinnesorgane über (holographische) Display-Leinwände komplexe Datenbestände in Echtzeit. Als zweite wichtige Entwicklungslinie zeichnet sich ab, dass die Kommunikation zwischen Geräten deutlich zunimmt und von der Häufigkeit die zwischenmenschliche weit übersteigt. Schon heute wird diese Entwicklung deutlich sichtbar. An der schnellen Akzeptanz und Weiterentwicklung der RFID-Tags, die immer mehr Branchen erfasst, lässt sich ermessen, welche Außmaße die Maschine-zu-Maschine-Kommunikation künftig annimmt. In ferner Zukunft werden mittels künstlicher Intelligenz neuronale Organisationen entstehen mit der Fähigkeit zu autonomen Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Entscheidungsprozessen. Geschäftsprozesse laufen in Echtzeit ab. Mit der Entwicklung

von "Business-Synapsen" entsteht ein "Maschinenwissen", wird ein künstliches neuronales Netz aufgebaut.

Kollege Maschine

Maschinen werden den Menschen nahezu gleichwertige "Mitarbeiter" in der Wissensökonomie. Wenn man den Megatrend der Automatisierung linear weiterdenkt, ist dies eine nahe liegende Lösung. Dabei darf aber nicht übersehen werden, dass die Komplexität des menschlichen Gehirns mit seinen etwa 100 Milliarden Neuronen und vielfältigen Wechselwirkungen untereinander von den Maschinen noch lange nicht erreicht wird. Vielmehr geht es um aufgabenspezifische Funktionen, die eine Kommunikation über Mensch-Maschine- oder Maschine-Maschine-Schnittstellen erlauben und das Wirtschaften enorm beschleunigen. "Brainscans" bei Mensch und Maschine können dann womöglich alle aufgezeichneten Ereignisse und Erfahrungen, also das gesamte Wissen, hervorrufen. Die Menschen haben durch den elektronischen Eingriff in die künstlichen Neuronennetze die Steuerungshoheit über die Unternehmen in ihren Händen. Mit wachsendem Wissen lässt die Konditionierung des Verhaltens aber

nach, und Maschinen werden in die Lage versetzt, ihre eigenen Handlungsstrategien gemäß den menschlichen Zielsetzungen zu verfolgen.

Die NeuroEconomy kommt

Die Vision der "NeuroEconomy" scheint bei näherer Betrachtung also gar nicht so unrealistisch, wie dies zunächst anmutet. Ray Kurzweil und Rodney Brooks vom MIT beispielsweise haben diesen Weg in ihren Büchern "Homo S@piens" und "Menschmaschinen" bereits dezidiert aufgezeigt. Die Informationstechnologie hat nach der Integration in die Alltagsumgebung ("Ambient Intelligence") den Sprung in den Menschen geschafft. Im Jahr 2034 sitzen die Virtuosen der Ökonomie vielleicht dann doch am Strand mit einem Cocktail in der Hand. Nur der Laptop steht als Relikt aus vergangenen Zeiten in der Vitrine des heimischen Wohnzimmers. Mitarbeiter" werden.

* Andreas Neef ist Geschäftsführer des Beratungshauses Z_punkt. Holger Glockner ist Projektleiter für strategische Trendanalysen bei Z_punkt.