Arbeitsmarkt/Systemhaus und Krankenkasse starten Joint-venture

Wenn Software-Entwickler plötzlich sozialpolitische Verantwortung bekommen

16.07.1999
Von Ingrid Weidner* Das Münchner Softwarehaus sd&m ging erstmals eine weitreichende Partnerschaft ein. Zusammen mit der AOK entstand das Joint-venture AOK-Systems. In Troisdorf bei Bonn arbeiten seit Anfang des Jahres 120 Angestellte aus beiden Organisationen an neuen Softwareprojekten.

"Die Chemie stimmte auf Anhieb." Burkhard Kehrbusch, Geschäftsführer bei sd&m, ist zufrieden mit der Kooperation zwischen seinem Softwarehaus und der AOK. Die Krankenkasse stellt Kapital, Infrastruktur und ihr Versicherungs-Know-how zur Verfügung, die Softwareschmiede Engineering- und Management-Wissen. Von den momentan 120 Mitarbeitern kommen 80 aus dem AOK-Umfeld und 40 von sd&m.

Strategisch gesehen ist die Krankenkasse ein interessanter Partner für sd&m, denn bei ihr sind ungefähr 30 Millionen Bundesbürger versichert, was einem Marktanteil von 40 Prozent entspricht. Software-Entwicklung und Einführung von Standardsoftware zählten bisher zu den Aufgaben des AOK-Bundesverbands. Dietmar Krischausky, seit 1998 neuer Geschäftsführer, sollte dessen komplette Informationsverarbeitung neu organisieren. Zusammen mit der Unternehmensberatung McKinsey nahm er den Geschäftsbereich unter die Lupe; am Ende stand der Vorschlag, eine neue Gesellschaft zu gründen.

Für ein öffentlich organisiertes Unternehmen war das ein gewagter Schritt, für die erfolgreiche IT-Dienstleistung unumgänglich. sd&m gewann den ausgeschriebenen Wettbewerb nach kleineren Projektaufträgen und langen Vertragsverhandlungen. Für das Softwarehaus ist die weitreichende Kooperation ein neues Geschäftsfeld, denn bisher beschränkte sich die Zusammenarbeit mit Auftraggebern auf einzelne Projekte. Die AOK-Systems ist eine 100prozentige Tochtergesellschaft des AOK-Bundesverbands und seiner 17 Landeskassen, sd&m ist finanziell nicht daran beteiligt. Trotzdem stellt sie einen eigenen Geschäftsführer. Für Jakob Boos von sd&m war es ein Karrieresprung vom Bereichsleiter zum zweiten Geschäftsführer. Zusammen mit Krischausky leitet er nun die Geschicke der Gesellschaft.

Auf eine Gratwanderung müssen sich die sd&m-Mitarbeiter einstellen: Einerseits sollen sie in Teams mit den neuen Kollegen zusammenarbeiten und sich integrieren, andererseits aber ihre eigene Firmenkultur einbringen. Das erfordert viel Fingerspitzengefühl und ausreichend Berufserfahrung.

Ganz einfach war es darum nicht, genügend qualifizierte Mitarbeiter für den Firmensitz in Troisdorf zu finden. Das Münchner Softwarehaus mußte bei den eigenen Mitarbeitern für die Kooperation werben. Da sich die Zusammenarbeit von der in anderen Projekten unterscheidet, war berufserfahrenes Personal besonders gefragt.

Die Software-Entwickler verpflichteten sich, für eine bestimmte Zeit nach Troisdorf zu gehen. "Nicht alle haben hurra gerufen und wollten unbedingt dorthin. Wir mußten dafür werben, aber es gab keine Zwangsabordnungen", so Dirk Taubner, Geschäftsführer bei sd&m.

Die Gehaltszahlungen gestalten sich nur für die Personalabteilungen kompliziert, denn die sd&m-Mitarbeiter erhalten ihr Einkommen weiter vom Softwarehaus. Sie werden im Rahmen einer Arbeitnehmervermittlung bei der AOK-Systems tätig sein. "Wir wollen, daß sich die Software-Entwickler auch weiter als Mitarbeiter von sd&m fühlen. Wir sollen unser technisches Wissen, Teamstrukturen und unsere Projektarbeitsweise in das neue Unternehmen einbringen, das ist Teil unseres Auftrags", erklärt Kehrbusch.

In puncto Arbeitsweise ändert sich für die Mitarbeiter nicht sehr viel, im Gegenteil. Das neue Unternehmen möchte besonders bei der Projektarbeit von den Erfahrungen bei sd&m lernen. Dazu gehören beispielsweise Projekt-Controlling, Aufwandsschätzungen und Change-Management.

Für AOK-Mann Krischausky bot die Neugründung zugleich Chancen für eine höhere Leistungsfähigkeit und ein modernes Gehaltsmodell: "Gerade für die öffentlichen Verwaltungen ist es schwierig, gute Informatiker zu finden, da das Gehalt nicht attraktiv ist. Durch die neue Unternehmensform sind wir nicht mehr an die öffentlichen Tarife gebunden."

Diese Chance nutzten 60 ehemalige Mitarbeiter aus dem AOK-Bundesverband. Ein lukratives, leistungsbezogenes Gehalt und flexible Arbeitsmodelle sind zwei gute Argumente für den Wechsel. "Im Vordergrund steht nicht mehr die Kontrolle der Arbeitszeit, sondern die Vereinbarung von Arbeitsergebnissen und die Erfassung der geleisteten Aufwände", so Krischausky.

Mit gemischten Teams auf allen Ebenen versucht die AOK-Systems die beiden Unternehmenswelten zu einer neuen zu verbinden. Wenig hierarchische Strukturen und konsequente Projektarbeit kennzeichnen das neue Unternehmen. Dabei orientieren sie sich an der sd&m-Firmenkultur.

Als gesetzlicher Krankenversicherer ist das Unternehmen stark von sozialpolitischen Entscheidungen abhängig. "Unsere Leute gucken ganz anders Tagesschau. Wenn Beschlüsse wie die Neuregelung der 630-Mark-Jobs gefaßt werden, müssen sie sich am nächsten Tag mit der Umsetzung beschäftigen", erklärt Kehrbusch. Plötzlich haben Software-Entwickler eine sozialpolitische Verantwortung. "Wenn da wirklich größere Malheure passieren würden, käme die AOK sofort in die Schlagzeilen, und das wäre äußerst schlecht für uns und den Aufbau der AOK-Systems", so Kehrbusch weiter.

Die Mitarbeiter werden übrigens auch die Wartungsarbeiten an laufenden Systemen erledigen. Momentan herrscht in Troisdorf Aufbruchstimmung. Äußeres Zeichen ist das neue Firmengebäude, das innerhalb von nur sieben Monaten geplant und fertiggestellt wurde.

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Auf eine Gratwanderung müssen sich die sd&m-Mitarbeiter einstellen, die im Zuge des Joint-ventures mit der AOK für die AOK-Systems arbeiten: Einerseits sollen sie in Teams mit den neuen Kollegen kooperieren und sich integrieren, andererseits aber ihre eigene Firmenkultur einbringen. Das erfordert viel Fingerspitzengefühl und ausreichende Berufserfahrung.

*Ingrid Weidner ist freie Journalistin in München.