Komplexe Analysen

Wenn Pythagoras mit Big Data hantiert

31.05.2013
Von Helmut  Schröder und Jens Uwe Kretzschmar
Zugegeben: Zu Zeiten von Pythagoras, also ein halbes Jahrtausend vor Christus, hat man noch nicht so direkt an Big Data gedacht. Trotzdem gab der griechische Mathematiker schon wichtige Hinweise auf den Trend.
Foto: michelangelus - Fotolia.com

Die Zahl ist das Wesen aller Dinge." Der griechische Mathematiker und Naturphilosoph Pythagoras wusste um die Wichtigkeit von Zahlen. Er ist nicht allein: Auch die Wissenschaftler des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO) wissen genau, wie essenziell Zahlen gerade für den Versicherungsmarkt sind. Tagtäglich beschäftigen sie sich damit, Unmengen von Daten zu beinahe ebenso vielen Gesundheitsthemen auszuwerten. Dabei werden sie von IBMs Smarter Analytics-Technologie unterstützt.

Ahnungslos bei Antibiotika

Bereits einfachste Analysen beantworten schwierige Fragen.
Bereits einfachste Analysen beantworten schwierige Fragen.
Foto: Klinikum Augsburg/Ulrich Wirth

Jeder von uns hat mit Sicherheit schon einmal Antibiotika verschrieben bekommen. Bei denjenigen Menschen, die älter als fünf Jahre sind, lag die Wahrscheinlichkeit dafür, innerhalb eines Jahres Antibiotika zu bekommen, im Jahr 2010 bei rund 30 Prozent. Kinder unter fünf Jahren jedoch erhalten in 70 Prozent der Fälle ein solches Bakterizid verabreicht - oft auch in Fällen, die überhaupt nicht für Antibiotikaeinsätze geeignet sind, beispielsweise bei viralen Infekten.

In knapp der Hälfte der Fälle wurden darüber hinaus sogenannte Reserveantibiotika verschrieben. Diese sollten normalerweise nur bei bekannten Resistenzen der Krankheitserreger verwendet werden, da sonst ihre Wirksamkeit durch Resistenzbildung gemindert werden kann. Solche Zusammenhänge lassen sich von den Versicherern nur zum Wohle der Versicherten nutzen, wenn entsprechende Statistiken verfügbar sind und vor allem die Technik vorhanden ist, diese Daten auch auszuwerten.

Darum besitzt die AOK, mit rund 24 Millionen Mitgliedern die größte Krankenversicherung Deutschlands, ein eigenes wissenschaftliches Institut, das WIdO. Bereits seit 1976 ist es für die Datenanalyse der Versicherung zuständig.

Heilende Daten

Im täglichen Analysestrom des WIdO sammeln sich schnell Datenmengen im Big-Data-Bereich an. Denn er umfasst unter anderem diverse Klassifikationen und Kataloge. Hierzu zählen sowohl medizinische als auch pharmakologische und abrechnungsrelevante Klassifikationen. Die sind zudem in komplexe Kategorien eingeteilt wie ICD-10-GM oder ATC-Klassifikation mit Tagesdosenangaben. Hinzu kommen die unterschiedlichsten Abrechnungsziffern bei der ambulanten Krankenversorgung. All das muss zunächst einmal gesammelt und zeitlich eingeordnet werden. Erst danach kann das Institut die unterschiedlichen Versorgungsleistungen analysieren.

Zahlen, Zahlen, Zahlen

In reinen Zahlen ausgedrückt, ist die Leistung des WIdO noch beeindruckender: Sechs Millionen Behandlungsfälle jährlich in 2000 Krankenhäusern mit 55 Millionen Diagnosen, 18 Millionen Eingriffe, 55 Millionen Entgeltinformationen. Zusätzlich muss das Institut noch 370 Millionen Behandlungsfälle bei gut 140.000 niedergelassenen Ärzten verarbeiten, nicht zu vergessen die 400 Millionen Arzneimittelverordnungen aus den 20.000 Apotheken, die sich auf ein Sortiment von rund 50.000 Arzneimitteln beziehen. Dazu kommen noch über zwölf Millionen Arbeitsunfähigkeitsfälle mit 140 Millionen "Kranktagen" von 10,8 Millionen Arbeitnehmern in über 1,3 Millionen Unternehmen, die alle bei der AOK versichert sind.

Daten, Daten, Daten

Um die Versorgung zu verbessern, werden im WIdO-System Daten analysiert von (Ausschnitt):

  • 24 Millionen AOK-Versicherten mit

  • sechs Millionen Behandlungen/Jahr,

  • 55 Millionen Diagnosen,

  • 18 Millionen Prozeduren,

  • 55 Millionen Entgeltinformationen,

  • 140.000 ambulant tätigen Ärzte mit:

  • über 370 Millionen Behandlungen,

  • über 1,3 Milliarden Abrechnungsziffern,

  • über 800 Millionen codierten ICD-10-Diagnosen,

  • 3,6 Millionen OPS-Codes.

  • 12 Millionen Arbeitsunfähigkeiten.

Wissen, wer morgen krank ist

All diese Daten helfen den Wissenschaftlern des WIdO dabei, für die Gesundheitsversorgung wichtige Korrelationen aufzudecken. Dabei sorgen bereits einfachste Analysen dafür, dass vermeintlich schwierige Fragen beantwortet werden können: Welche und wie viele Versicherte müssen in nächster Zeit vermutlich ins Krankenhaus? Wie oft geht, im Vergleich zu einem regulären Patienten, ein chronisch Kranker zum Arzt? Wo müssen Patienten häufiger wiederholt behandelt werden?

Weiterführende Analysen sind möglich, wenn etwa Daten aus den verschiedenen Leistungsbereichen miteinander verknüpft und analysiert werden. Dabei besteht innerhalb des AOK-Wissenschaftsinstituts eine große Schwierigkeit: Jeder Sektor - also die Arzneimittelversorgung, die Kliniken, die ambulante Versorgung und die Arbeitsunfähigkeit - besitzt eine separate Datenverwaltung. Sie alle müssen aufwendig miteinander verbunden und synchronisiert werden. Diese Verknüpfungen sind jedoch sehr wichtig, da sie Rückschlüsse auf gesellschaftliche Gesundheitszustände erlauben.

Gezielte Reaktion

Beispielsweise können die Wissenschaftler des Instituts feststellen, wo in Deutschland bestimmte Arzneimittel unverhältnismäßig oft verschrieben werden. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass örtliche Gegebenheiten die Gesundheitsrisiken erhöhen. Oder es kann ein Zeichen für fehlendes Wissen bei den Versorgern beziehungsweise Ärzten sein.

ADHS häufig auf dem Land

In ländlichen Gebieten wird beispielsweise deutlich häufiger ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung) bei Kindern und Jugendlichen festgestellt und behandelt als in Städten. Durch gezielte Fortbildungen für die Mediziner auf dem Land kann der Versicherer auf richtige Diagnosen und Behandlungen hinwirken.

Das WIdO plant, in Zukunft mehr solche komplexen und vielschichtigen Analysen anzubieten. Dafür wird eine umfassende Regelwerkssammlung aufgebaut, die bei der Analyse der Behandlungspfade der Versicherten helfen und vor allem die Gruppierung erleichtern soll. Diese Gruppierungen - das WIdO spricht von Profilen - bilden die Grundlage einer ökonomischen Versorgungsplanung. Es sind jedoch modernste Datenbank- und Analyse-Tools nötig, um solche aufwendigen Analysen überhaupt durchführen zu können. Daher musste sich das WIdO auf die Suche nach neuen Analyselösungen machen.

Fündig wurden die Wissenschaftler bei IBM. Deren "Smart Analytics System" ist eine vorkonfigurierte Lösung, die genau an die Analyse von Daten, wie sie das WIdO fordert, angepasst ist. Es handelt sich um eine Data-Warehousing-Plattform, die auch für die Zusammenführung von Daten unterschiedlicher Systeme geeignet ist - beispielsweise der verschiedenen Sektoren des WIdO. Jeder Bestandteil des Smart Analytics System ist auf die jeweilige Arbeitslast ausgerichtet und mit den anderen Komponenten abgestimmt. Diese skalierbare Hard- und Softwarelösung hilft, die passenden und vor allem fundierten Entscheidungen zu treffen.

Wichtig für die Analyse von Sachverhalten ist natürlich immer die Geschwindigkeit, mit der Ergebnisse aus Big-Data-Recherchen gewonnen werden. Die Wissenschaftler des WIdO nutzen hier eine massive Parallelverarbeitung. Das in dem Smart Analytics System integrierte Datenbankprogramm unterstützt Datenbankpartitionierung. Diese Technik soll eine effiziente Aufgabenverteilung sowie ein hohes Abfragetempo garantieren - selbst bei sehr großen Datenmengen.

Eine Minute für Millionen Daten

In Zahlen ausgedrückt: Die Antwortzeit bei einer Abfrage von mehr als 24 Millionen Versichertenkonten der AOK lag im Test bei unter einer Minute. Der Big-Data-Einsatz bei der AOK hat so einen weiteren Effekt: Die AOK-Wissenschaftler können jetzt für ganz Deutschland neue und schnelle Dienste anbieten. Somit bewahrheitet sich tatsächlich das Zitat von Pythagoras. Die Zahl ist das Wesen aller Dinge - selbst im Gesundheitswesen. (ph)