Wenn die Inbox den Briefkasten ersetzt

23.12.2010
Das papierlose Büro - oft beschworen, aber nie erreicht. Auch im digitalen Zeitalter müssen Unternehmen nach wie vor viel Papier verarbeiten. Das erleichtern Posteingangslösungen, die Inhalte automatisch digitalisieren.

Noch immer decken Papierpost und Fax einen erheblichen Teil der Unternehmenskommunikation und -prozesse ab. Verträge müssen handschriftlich unterzeichnet werden, Rechnungen durchlaufen auf dem Weg zur Bezahlung unzählige Hände, und auch in vielen anderen Bereichen wird noch überwiegend auf den klassischen Postweg gesetzt.

Konzerne aus Branchen wie Telekommunikation, Finanzwesen oder Energiewirtschaft müssen pro Monat nicht selten eine sechs- oder sogar siebenstellige Zahl an Postsendungen verarbeiten. Bei der ING Diba Bank etwa fallen jährlich über 15 Millionen Dokumentenseiten an. Der manuelle Aufwand, diese Papiermengen zu sichten, zu sortieren und schnell an den richtigen internen Adressaten zu bringen, ist enorm. Hinzu kommt, dass dabei häufig sehr ähnliche, strukturierte Dokumente, etwa Formulare, erfasst und verarbeitet werden müssen - eine fehleranfällige Routinearbeit, die zudem Zeit und Geld kostet.

Vor diesem Hintergrund gehen immer mehr Unternehmen dazu über, ihren Posteingang zu automatisieren und sämtliche Unterlagen beim Eintritt in das Unternehmen zu digitalisieren. Beispielsweise setzt der Schweizer Telekommunikati- onsanbieter Swisscom auf eine digitale Poststelle. Kundenunterlagen, die zuvor zwei Tage vom Eingang bis zum zuständigen Mitarbeiter unterwegs waren, sind heute dank der Automatisierung dokumentenbasierender Prozesse innerhalb von vier Stunden beim jeweiligen Mitarbeiter.

Je strukturierter, desto einfacher

Technisch ist es möglich, praktisch alle Dokumente zu digitalisieren und in den digitalen Workflow einzuschleusen. Der mögliche Automatisierungsgrad für ein Dokument hängt dabei weitgehend von seiner Struktur ab: Je strukturierter es ist, desto einfacher ist eine automatische Behandlung. Formulare und Eingangsrechnungen eignen sich dafür besonders und können Geschäftsprozesse mittels Digitalisierung beschleunigen und effizienter machen. Softwarelösungen sind in der Lage, große Mengen Papier stapelweise zu scannen, automatisch zu klassifizieren - also zu erkennen, um welche Art von Dokument es sich handelt -, Daten auszulesen und Informationen an den Workflow zu übergeben.

Der Sachbearbeiter erhält in seiner "Inbox" einen Hinweis auf das neu eingegangene Dokument, im Idealfall direkt versehen mit einer Handlungsempfehlung. Bei Eingangsrechnungen ist es beispielsweise möglich, die Bearbeitung komplett zu automatisieren: Die eingesetzte Software erkennt durch eine Bild- und Textanalyse die Rechnungsinformationen, anhand derer der Beleg einem Vorgang zugeordnet werden kann. Stimmen Lieferant, Rechnungsnummer, Posten, Gesamtbetrag oder andere Faktoren überein, wird die Rechnung automatisch vom ERP-System freigegeben und angewiesen.

Wird ein Dokument an mehreren Stellen im Unternehmen benötigt, müssen keine Kopien mehr angefertigt werden, lassen sich die digitalen Dokumente doch von überall einsehen und bearbeiten. Der Nutzen der automatischen Posteingangsbearbeitung beruht vor allem auf geänderten Geschäftsprozessen und intelligenten Workflows. Bei der Definition der Workflows müssen auch bestehende Archive berücksichtigt werden. Es ist ratsam, diese nachzuscannen, damit ein Mitarbeiter, der eine Kundenakte bearbeitet, sämtliche Informationen dazu im elektronischen Archiv findet. Je nach Umfang kann das einen Kraftakt bedeuten, der sich aber lohnt: ein Leasing-Dienstleister hat durch die Digitalisierung seines Archivs und den Umstieg auf elektronische Workflows den Platzbedarf für Akten von 2,5 Regalkilometern auf gerade einmal vier Meter reduzieren können, weil nur noch Verträge und vertragsähnliche Dokumente langfristig archiviert werden.

Scan-Aufwand kalkulieren

Allerdings lässt sich diese Vorgehensweise nicht generell empfehlen: Hat beispielsweise eine Behörde Milliarden von Dokumenten archiviert, lässt sich ein Komplettscan kaum mit vernünftigem Ressourceneinsatz bewältigen. Das wäre ökonomisch schlecht zu rechtfertigen. In dem Fall muss eine alternative Methode überlegt werden, etwa ein "Scan on Demand", bei dem nur nachgefragte Akten digitalisiert werden.

Auf dem Weg zur digitalen Postbearbeitung müssen auch psychologische Hürden überwunden werden, denn die Veränderungen wirken sich unmittelbar auf die Arbeitsumgebung aus: Sachbearbeiter können sich nun zwar auf die Erledigung ihrer eigentlichen Aufgaben konzentrieren, aber viele Angestellte sind an Papier gewöhnt und bevorzugen den haptischen Ansatz, sie wollen "etwas in der Hand haben". Hier müssen Wege gefunden werden, um unnötige Ausdrucke oder das Anlegen von persönlichen "Handakten" zu vermeiden. Sinnvoll ist zum Beispiel vernünftiges Equipment, etwa in Form eines zweiten Bildschirms, auf dem sich A4-Dokumente vollflächig und hochkant darstellen lassen.

Messdaten sagen nicht alles

Für den Erfolg der digitalen Postbearbeitung ist neben der Integration möglichst aller relevanten Kanäle - also neben Brief auch Fax und E-Mail - die Qualität der eingesetzten Lösungen und ihre Fähigkeit zur Kommunikation mit der Unternehmens-IT entscheidend. Das beginnt beim Scanprozess: Hier sind die reinen Messdaten von Einzellösungen nicht unbedingt aussagekräftig. Die Basistechnik zur Erkennung gedruckter Zeichen (Optical Character Recognition = OCR) oder von Markierungen wie Ankreuzungen (Optical Mark Recognition = OMR) ist in den meisten Produkten von ähnlich hoher Qualität. Das heißt aber nicht, dass alle Produkte gleich hohe Erkennungsraten aufweisen: Der Schlüssel liegt in der intelligenten Verknüpfung mit vorhandenen Informationen. Wenn von einer Adresse nur 60 Prozent gelesen werden können, kommt es darauf an, inwieweit die Adressdaten durch einen Abgleich mit anderen Systemen vervollständigt werden können.

"Unternehmen, die ihre Poststelle digitalisieren wollen, stehen bei der Auswahl der Technik im Grunde genommen zwei Wege offen: Das ist zum einen der Best-of-Breed-Ansatz, bei dem unterschiedliche Bausteine zu einem funktionierenden Ganzen zusammengefügt werden, und zum anderen der Plattformansatz, bei dem ein Anbieter ausgewählt wird, der den Prozess von der Erfassung über die Klassifizierung und Indexierung bis zur Übergabe an ein beliebiges Archiv beherrscht", sagt Thomas Senger, der das Emea-Geschäft des Softwareanbieters Kofax verantwortet. Aus seiner Sicht wächst derzeit die Akzeptanz von Plattformlösungen, deren Bestandteile von Haus aus integriert seien.

Mehr Effizienz bei weniger Kosten

Letztlich lässt sich mit digitalen Poststellen-lösungen die gesamte eingehende Post automatisiert klassifizieren und extrahieren, unabhängig von der Zustellungsart und dem Dokumententyp. Die Kosten werden reduziert, weil der manuelle Aufwand geringer ist - die Postmannschaft kann mehr bewältigen, die Sachbearbeiter werden von Routineaufgaben entlastet. Insgesamt steigt die Prozessgeschwindigkeit, gleichzeitig sinkt die Zahl der Fehler. Es wird weniger Archivraum benötigt und Papier eingespart. Da Informationen schneller verfügbar sind, gewinnt das Management zudem einen zeitnäheren Einblick in die Finanzlage des Unternehmens. Im Idealfall ist sogar ein Echtzeit-Monitoring möglich. Die Verantwortlichen sehen immer, an welcher Stelle sich eine Rechnung befindet. (ba)

Alternativen: Shared-Service-Center und Outsourcing

Für dezentral aufgestellte Organisationen, beispielsweise Banken und Versicherungen, die mit zahlreichen Büros vor Ort agieren, versprechen der Aufbau eines Shared-Service-Centers (SSC) oder Outsourcing eine effizientere Postbearbeitung. Shared-Service-Center: Wenn ein Vertrag eingeht, muss dieser an verschiedenen Stellen geprüft, bearbeitet und schließlich abgelegt werden. In einer DMS-Umgebung mit digitalem Posteingang scannen die Mitarbeiter vor Ort die Post selbst, die eingesetzte Software leitet die Dokumenten-Images automatisch an das SSC, und dort werden alle weiteren Aufgaben wie Extraktion der Daten, Kontrolle oder Fehlerkorrektur übernommen. So kann ein Versicherungsvertrag, der früher Tage unterwegs war, heute binnen Stunden allen autorisierten Sachbearbeitern zur Verfügung stehen, ohne dass auch nur eine einzige Kopie angefertigt werden musste.

Outsourcing: Bei sehr hohem Postaufkommen lohnt es sich, über ein Outsourcing der Digitalisierung nachzudenken. Externe Servicefirmen übernehmen vom Scannen der Eingangspost über die Nachbearbeitung bis hin zur Einpflege in den Workflow alle Aufgaben. Die Kunden erhalten auf diese Weise direkt Images der Dokumente und können dann mit diesem "Rohstoff" die Weiterverarbeitung regeln.