IT-Hersteller rudern zurück

Weniger Begeisterung für Telefonieren via Internet

17.11.2000
MONTE CARLO (hi) - Die alte TK-Welt ist tot, so oder ähnlich klangen noch vor Jahrefrist die markigen Sprüche der IP-Marketiers. Die erste Euphorie ist mittlerweile verflogen, und kaum einer glaubt mehr an die schnelle Verschmelzung von öffentlichen TK- und IP-Netzen. Das neue Schlagwort der Stunde ist nun die Konvergenz der Netzapplikationen.

Das Internet und die TK-Netze explodieren, immer neue Carrier vergraben immer schnellere Glasfasernetze. Erste Anbieter wie etwa Cable & Wireless planen die Ablösung der alten leitungsvermittelten Telefonnetze durch Voice over IP (VoIP). Auf dem IDG Executive Forum in Monte Carlo diskutierten Manager der TK- und IT-Industrie darüber, inwieweit die in letzter Zeit viel propagierte Konvergenz von Telefon und Datennetzen nun wirklich eintritt.

Dabei wurde relativ schnell deutlich, dass im Lager der großen Datenausrüster, darunter auch Marktführer Cisco, von der einstigen Euphorie in Sachen Sprachübermittlung im Internet nicht mehr viel zu spüren ist. Nach dem Hype der ersten Stunde räumen die IP-Propagandisten mittlerweile freimütig ein, dass sie die Bedeutung der Quality of Service (QoS) als den Aktivposten der Telefonnetze unterschätzt hätten. Dabei verstehen TK- und IT -Manager unter QoS etwas unterschiedliches: Während die TK-Welt die Quality of Services als möglichst verzögerungsfreie Übertragung von Sprache definiert, meinen die Datennetzwerker damit lediglich den Versand von Paketen über alle verfügbaren Strecken mit größtmöglicher Bandbreite innerhalb einer Toleranzzeit.

Angesichts dieser unterschiedlichen Definitionen glaubt niemand mehr an eine schnelle Konvergenz der Netze. Die IT-Manager räumen mittlerweile sogar ein, dass der Gedanke des Telefonierens über das öffentliche Internet ein Wunschdenken war. Um die hierbei erforderliche QoS zu realisieren, so überraschte John Doyle, Ciscos europäischer Chief Science Officer, die Zuhörer, dürfe ein IP-Netz maximal zu 15 Prozent mit Datenverkehr ausgelastet sein. Da im öffentlichen Internet, so Doyle weiter, zudem die Gefahr von Verkehrsspitzen nicht auszuschließen sei, wäre die Telefonie letztlich nur über dedizierte IP-Verbindungen zu realisieren.

Ein öffentliches Bekenntnis, das Volker Jung, Mitglied des Siemens Executive Board, gern vernahm. "Wo ist dann der Unterschied zu den alten, leitungsvermittelten Telefonnetzen?", streute er Salz in die offene Wunde der VoIP-Verfechter. Zudem, so stichelte Jung in Richtung Microsoft, wolle er das Telefonieren nicht einem Betriebssystem anvertrauen, das für seine Abstürze bekannt sei. Ferner argumentierte der Siemens-Manager, habe das IP-Lager wohl die Schwierigkeiten des Call-Processing unterschätzt.

Als Beleg für diese These führte er unter anderem an, dass Cisco vehement versuche, Siemens-Ingenieure abzuwerben, um so in der neuen Deutschland-Zentrale in Hallbergmoos Know-how in Sachen Sprachtelefonie anzusammeln. Überzeugt vom Wissensvorsprung der TK-Player glaubt Jung denn auch, dass Unternehmen wie Alcatel, Lucent und andere das Internet der nächsten Generation aufbauen und nicht Cisco. Allerdings räumt auch Jung ein, dass die Tage der alten Telefonanlagen gezählt seien. Die Zukunft gehöre den softwarebasierten Anlagen.

Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Managern sieht der Siemens-Mann dabei den Mehrwert nicht unbedingt in der Verschmelzung der Inhouse-TK- und Datennetze, sondern mehr in der Konvergenz auf der Applikationsebene. Noch skeptischer als die Hersteller waren die anwesenden Anwender in Sachen IP-Telefonie. Zwar begrüßen sie unter Kostenaspekten den Gedanken, künftig softwarebasierte PBX-Anlagen zu installieren, doch gleichzeitig ermahnten sie die Hersteller, das Thema Ausfallsicherheit nicht zu vernachlässigen. Gleichzeitig forderten viele Anwender endlich einen Beweis dafür, dass die neue Generation der IP-basierten Anlagen wirklich so leistungsfähig ist wie die traditionellen Geräte. Entsprechend häufig war denn auch zu hören, dass man an den Einsatz der Anlagen in kleinen Umgebungen mit um die 100 Telefonen durchaus glaube (Vgl. CW Nummer 44, Seite 47) - bislang fehle aber der Nachweis, dass die Technologie das Potenzial habe, Unternehmensnetze mit Zigtausenden von Telefonen, Faxgeräten etc. zu stemmen.

Kopfzerbrechen bereitet den Usern im Zusammenhang mit den Soft-PBX zudem die Frage nach der Interoperabilität. Nach den schlechten Erfahrungen in der alten TK-Welt erwarten sie von den VoIP-Verfechtern Standards, die eine Herstellerabhängigkeit vermeiden. Wenig Verständnis zeigten die Teilnehmer auf der IDG-Konferenz für die These von Cisco-Manager Doyle, die Anwender würden bei VoIP ähnlich wie beim Mobilfunk eine schlechtere Sprachqualität hinnehmen. Dies, so die einhellige Meinung, sei nicht tolerierbar, wenn die IP-Telefonie außer Kosteneinsparungen keine Vorteile biete. Zudem hinke der Vergleich mit dem Mobilfunk, da das Handy die schlechte Sprachqualität mit dem Vorteil der Mobilität mehr als ausgleiche. Bei aller Skepsis war aber das Gros der Anwender davon überzeugt, dass langfristig die Sprachübermittlung über IP auch in der Praxis ein Thema sein könnte. Allerdings, so die Einschränkung, müssten die Hersteller vorher noch zwei Punkte berücksichtigen: Ein effizientes Management der IP-Netze und die Gewährleistung von Service-Level-Agreements.

Insgesamt waren die Diskussionen auf dem IDG Executive Forum nicht mehr von der Frage geprägt, wer die Gewinner und Verlierer in der neuen VoIP-Welt sind. Ein Punkt, der darüber hinaus John Gallant, Executive Vice President & Editorial Director bei der amerikanischen CW-Schwesterpublikation "Network World", auffiel, war die unterschiedliche Herangehensweise von Europäern und Amerikanern an das Konvergenzthema. Gallant faszinierte dabei besonders, dass für die Europäer die Frage nach den entsprechenden Applikationen und die Vorteile für den End-User im Vordergrund stünden, während die Amerikaner mehr über die Innovation als solche diskutieren würden.

Die Rolle der Carrier in der IP-WeltSie galten als die Verlierer in der neuen IP-Landschaft: Die klassischen Telcos, so die Prognose, würden angesichts der kostengünstigeren IP-Telefonie vom Markt gefegt. Eine Vorhersage, mit der die Analysten gehörig daneben lagen. Entsprechend stolz erklären heute hochrangige TK-Manager wie etwa Gerd Tenzer, Vorstandsmitglied der Telekom, es sei keinesweg ausgemacht, dass IP die klassischen TK-Netze ersetze. Nach seiner Überzeugung werden die klassischen Carrier die Netze der nächsten Generation aufbauen. In diesen, so ihr Credo, ergänzen sich IP- und TK-Welt. Das Überleben der alten Carrier hat zumindest in Europa weniger die Überlegenheit der TK-Infrastrukturen als vielmehr der rapide Preisverfall im Zuge der TK-Liberalisierung gesichert. So sanken nach Berechnungen von Helmut Meier, Senior Vice President bei Booz Allen & Hamilton in Düsseldorf, innerhalb von nur drei Jahren die Gebühren bei den internationalen Telefonaten um 83 Prozent und bei den nationalen Ferngesprächen um 54 Prozent. Damit habe die IP-Telefonie ihren wesentlichen Anreiz, kostengünstiger zu sein, verloren.

Vor diesem Hintergrund warnten die anwesenden Branchenkenner die Carrier auch, sich zufrieden zurückzulehnen und zu glauben, sie könnten mit der klassischen TK-Infrastruktur und der Minutentarifierung weiter Geld verdienen. Angesichts der gesunkenen Preise seien sie gezwungen, eine neue Wertschöpfungskette zu erarbeiten. Dabei schwebt den Analysten eine Art Wandel von der klassischen Telco hin zum Application Infrastructure Provider (AIP) vor, der etwa IT-Services offeriert. Die Umsätze aus diesem neuen Geschäftsfeld können die Carrier, speziell in Deutschland und Großbritannien, dann auch dringend gebrauchen, um die Herausforderung UMTS zu meistern. Mit der Einführung der neuen, paketbasierten Mobilfunkgeneration sehen sich die Telcos dann nämlich wieder mit der ungeliebten VoIP-Thematik konfrontiert. Zudem sorgen sich die Analysten angesichts der Lizenzgebühren in Deutschland und Großbritannien, die sie als ungerechtfertigte Zusatzsteuer kritiseren, um die wirtschaftliche Zukunft der Netzbetreiber. So hat etwa Consultant Meier eigenen Angaben zufolge noch keinen einzigen plausiblen UMTS-Business-Plan der Carrier gesehen.

Ebenfalls hart mit dem Ergebnis der Versteigerung ging EU-Kommissar Erkki Liikanen ins Gericht. Der Politiker befürchtet, dass letztlich die Benutzer in Deutschland und Großbritannien die Zeche in Form von höheren Tarifen bezahlen. Mit Blick auf den japanischen Markt ermahnte er die Carrier, nicht einseitig auf die Zugkraft der UMTS-Technologie zu bauen. So zeige der Erfolg von I-Mode, dass nicht nur Geschwindigkeit zähle. Angesichts der niedrigen Bandbreiten, mit denen I-Mode auskommt, ist der EU-Kommissar davon überzeugt, dass sich GPRS als Handy-Technologie länger halten wird, als vielen erfolgreichen UMTS-Bietern lieb sei.

Allerdings hatte auch der EU-Kommissar für die etablierten Carrier noch ein Folterinstrument im Gepäck: Ab Januar 2001 müssen sie ihr letztes Monopol, den Ortsnetzzugang, öffnen. Dabei fordert Liikanen, dass die etablierten Player ihren Konkurrenten auch nur Teilfrequenzen etwa für xDSL-Services auf dem Kupferkabel vermieten. Ein Ansinnen, das Tenzer lakonisch damit kommentierte, dass nun auch in diesem Bereich der Wettbewerb auf dem Rücken der Telekom ausgetragen werde.

Abb: Aufgrund drastisch gesunkener Telefongebühren ist das Telefonieren via Internet kaum mehr interessant. Quelle: Booz Allen & Hamilton