Gastkommentar

Wege zu neuen PPS-Systemen

04.03.1994

Kaum eine Anwendung beeinflusst die termingerechte, kostenguenstige Abwicklung der Auftraege und damit die Wettbewerbsfaehigkeit unserer Industriebetriebe so stark wie die Produktionsplanungs- und Steuerungs- (PPS-)Systeme.

Wie kaum eine andere Anwendung sind sie aber auch seit Jahren einer permanenten Kritik unterworfen. Negative Schlagzeilen in Verbindung mit der Bewertung marktgaengiger PPS-Systeme gehoeren zum Repertoire nahezu aller Fachzeitschriften. Umfragen belegen zudem, dass die Unzufriedenheit der Anwender mit dem bisherigen PPS- Einsatz staendig zunimmt. Was machen die Anbieter falsch? Und was die Anwender?

Tatsache ist, dass die Anforderungen an das Projekt-, Produkt-, Prozess- und Produktions-Management unserer Fertigungsunternehmen qualitativ und quantitativ massiv gestiegen sind. Lean Production, geschaeftsorientierte Strukturen, kuerzere Produktzyklen und Lieferzeiten, abnehmende Fertigungstiefe in Verbindung mit Auswaertsvergabe und leistungsfaehigem Lieferanten-Management, Kostendruck und Qualitaets-Management sind einige Stichworte, auf die moderne PPS-Systeme eine Antwort geben muessen.

Auch die betriebliche Aufbau- und Ablauforganisation hat sich veraendert. Raeumliche und organisatorische Trennung von Entwicklung, Produktion und Montage, flachere Hierarchien, dezentrale Planungsautonomie, Zusammenwachsen der technischen und kommerziellen DV zu schlanken DV-Organisationen sind Herausforderungen, die vom Trend zum Down- beziehungsweise Rightsizing in Richtung offener Betriebssysteme begleitet werden.

Tatsache ist aber auch, dass weniger als ein Drittel der Funktionalitaet installierter PPS-Systeme wirklich genutzt wird - unabhaengig von Betriebsgroesse, Alter der Installation und eingesetztem Softwareprodukt. Veraenderte Anforderungen einerseits, Ueberfunktionalitaet andererseits - ein Widerspruch?

Ein Blick auf das heutige PPS-Angebot zeigt, in welchem Dilemma sich die Softwareproduzenten befinden. Der Zwang, die hohen Entwicklungskosten ueber entsprechende Installationszahlen abdecken zu muessen, hat konzeptionell zu zwei unterschiedlichen Auspraegungen von PPS-Standardsoftwareprodukten gefuehrt: horizontal und vertikal ausgelegter PPS-Software.

Die horizontalen PPS-Systeme gehen auf die Ueberlegung zurueck, einen moeglichst breiten Anwenderkreis (vom Einzel- und Auftragsfertiger ueber den Linien- und Grossserienfertiger bis hin zur Prozessindustrie) zu erreichen.

Es liegt auf der Hand, dass die Entwicklung von solch universell einsetzbaren PPS-Systemen nur von einigen wenigen, entsprechend kapitalkraeftigen Softwarehaeusern bewerkstelligt werden kann. Da sich die Anforderungen eines Prozessfertigers gravierend von denen eines Einzelfertigers unterscheiden, bleibt zwangslaeufig ein Grossteil der von ihm eingesetzten, branchenunabhaengig ausgelegten PPS-Software ungenutzt. Die von den Softwaremarketiers geforderte Flexibilitaet der Einsatzbreite wird also mit einem hohen Komplexitaetsgrad des Produktes erkauft.

Im Zeitalter der Lean Production muss daher die Frage erlaubt sein, ob der Nutzen breiterer Funktionalitaet und Integration verschiedenster Funktionen nicht durch die unweigerlich entstehenden Komplexitaetskosten wieder zunichte gemacht wird. Wer horizontal ausgerichtete Standardsoftware kauft, erwirbt Funktionalitaet auf Halde.

Einen gaenzlich anderen konzeptionellen Ansatz verfolgt vertikal ausgerichtete PPS-Software. Zumeist aus der individuellen Auftragsprogrammierung entstanden, handelt es sich hierbei um Produkte, die die spezifischen Anforderungen einer Branche in der gesamten funktionalen Tiefe abdecken.

Die Entwickler vertikal ausgelegter PPS-Systeme sind zumeist Nischenanbieter, die in der moeglichst vollstaendigen Durchdringung einer Branche ihre notwendigen Installationen taetigen muessen. Im Gegensatz zur horizontalen Software mangelt es diesen Produkten allerdings an der noetigen Flexibilitaet, um auf sich aendernde Marktbedingungen der Anwender reagieren zu koennen. Entwickelt sich beispielsweise ein Anlagenbauer im Laufe der Zeit zu einem Mischfertiger mit auftragsneutraler Vorfertigung, so sind die neuen Anforderungen nur mit erheblichen Zusatzprogrammierungen zu erfuellen.

Ein zu starres und zu eng ausgelegtes Datenmodell sowie das Fehlen entsprechender Customizing-Werkzeuge machen diese Kategorie der PPS-Systeme zu schwerfaellig, um veraenderte Geschaeftsprozesse wirtschaftlich abzubilden. So ist es denn auch nicht weiter erstaunlich, dass Produkt- und Unternehmenszyklus dieser Nischenanbieter haeufig identisch sind.

Zu hohe Komplexitaet bei der horizontalen Software und eingeschraenkte Flexibilitaet bei den vertikalen PPS-Systemen tragen ganz offensichtlich zur Unzufriedenheit der Anwender und zum mangelnden Nutzungsgrad der PPS-Anwendungen bei. Auch die Verfeinerung beider Konzepte (zum Beispiel durch staerkere Modularisierung) ist auf Basis der vorhandenen Software- Architekturen untauglich, um die Verunsicherung der Benutzer zu beseitigen. Die genannten Ansaetze koennen durch ihre Fokussierung auf die Insel PPS die Anforderungen an geschaeftsprozessorientierte Ablaeufe nicht abdecken. So muessen angrenzende und funktional teilweise ueberlappende Softwareprodukte wie zum Beispiel Projekt- Management-Systeme, Engineering Databases, Leitstandsysteme und BDE/MDE-Loesungen aufgrund ihrer Inhomogenitaet aufwendig integriert werden.

Um PPS-Systeme wieder hoffaehig zu machen, muessen die Software- Anbieter ihre teilweise aus den 70er Jahren stammenden Konzepte ueber Bord werfen und zu einer vollkommen neuen Generation von Systemen kommen. Nicht Sanierung ist angesagt, sondern funktionaler und softwaretechnischer Neubau. Einige unverzichtbare Merkmale:

Moderne Systeme muessen den gesamten Produktentstehungsprozess begleiten. Das bedeutet, dass neben den urspruenglichen Kernfunktionen der PPS- und Leitstandsysteme sowohl die Funktionen der Produktdatenverwaltung aus der Konstruktion als auch das geschaeftsprozessorientierte Workflow-Management abgedeckt werden.

Die funktionale Klammer bildet ein Auftragsrahmenplanungs- beziehungsweise Projekt-Management-System. Funktionale Erweiterungen beziehungsweise Aenderungen ergeben sich aus der Erfuellung der Norm ISO 9000, zum Beispiel durch Versions- und Konfigurations-Management sowie Dokumentenzuordnung und - archivierung, mehrstufiges regelkreisbasierendes Planungsmodell und zeitdynamische Simulation. Die vollstaendige Integration der Controlling-Funktionen ermoeglicht eine ganzheitliche Abbildung der Produktentwicklungs- und Herstellkosten.

Die so skizzierten Projekt-, Produkt-, Prozess- und Projekt- Management-Systeme (4PM-Systeme) positionieren sich in einem Szenario, das durch drei Parameter bestimmt wird: die am Geschaeftsprozess orientierte Funktionsbreite, die Funktionstiefe, die den Detailerfuellungsgrad einer Anwendungskomponente definiert, sowie die Industriesegmentierung, die sich aus der Komplexitaet des herzustellenden Produktes abhaengig von der Stabilitaet des Produktionsprozesses ergibt.

Kein Anbieter wird dieses Szenario vollstaendig abdecken koennen, so dass sich zwangslaeufig eine Fokussierung auf spezifische Industriesegmente, zum Beispiel auftragsorientierte Variantenfertiger, ergeben wird. Durch die in einer neuen Software-Architektur vorbereitete Skalierbarkeit der Funktionen ist der Anwender in der Lage, sich genau die Funktionsbreite und - tiefe auszuwaehlen, die er zur betriebsspezi- fischen Leistungserbringung benoetigt.

4PM-Systeme dienen der Umsetzung der betriebsspezifischen Aufbau- und Ablauforganisation, der Produktstrukturen und der jeweiligen Geschaeftsprozesse. Insofern werden die Systeme immer bezueglich des Daten- und Funktionsmodells sowie der Masken angepasst. Heutige Systeme unterliegen dem typischen Widerspruch zwischen Customizing und Erhalt der Standardsoftware. Nicht selten ist der Umstellungsaufwand auf eine neue Version mit aehnlichen Aufwaenden verbunden wie die Ersteinfuehrung. Systeme der naechsten Generation werden bei gleichzeitigem Erhalt der Standardsoftware nahezu beliebig anpassbar sein.

Die Integrationsfaehigkeit der naechsten Systemgeneration basiert auf zwei Grundfunktionen: erstens der Bereitstellung einer objektorientierten Programmier-Schnittstelle und zweitens dem Einsatz eines Kernmodells. Das Modell enthaelt die Basisobjekte, zum Beispiel Artikelstammdaten, Lieferanten und Kunden mit ihren spezifischen Funktionen. Dieses Konzept erlaubt nicht nur dem Kunden eine beliebige betriebsspezifische Anpassung. Auch Software-Anbieter koennen sich als Partner in dieses Konzept einbringen und fuer spezifische Industriesegmente spezielle Loesungen offerieren.

Zur Umsetzung der genannten Forderungen bedarf es einer grundsaetzlich neuen Softwaretechnologie. Den aktuellen Widerspruch zwischen objektorientierter Arbeitsweise und heute marktrelevanten relationalen Datenbanken loesen neue Entwicklungswerkzeuge. Sie besitzen ein eigenes Repository, das die Objekte, Masken und Methoden eindeutig beschreibt. Hardware- und Datenbankunabhaengigkeit, Mehrsprachigkeit, Lauffaehigkeit auf verschiedenen Window-Systemen, Einbindung von beliebigen Grafikfunktionen, Hypertext sowie Realisierung von verschiedenen Netzwerkkonzepten sind weitere Merkmale.

Bei aller Kritik und Unzufriedenheit mit dem bisherigen Software- Einsatz im PPS-Umfeld soll abschliessend an drei Grundsaetze erinnert werden, an denen sich die Anwender auch bei neueren DV- Strategien orientieren sollten:

- Jede PPS-Anwendungssoftware ist immer nur so gut wie die begleitende Einfuehrungsberatung.

- Ein schlechtes ablauforganisatorisches Konzept wird durch ein noch so gutes DV-System nicht besser, sondern lediglich komplizierter.

- DV-Systeme ersetzen keine Qualifikation, sondern setzen sie voraus.

*Geschaeftsfuehrer der Eigner + Partner GmbH,

**Geschaeftsfuehrer der PS Systemtechnik GmbH.