Digitalisierung

Warum sich deutsche Unternehmen wandeln müssen

28.04.2015
Von   
Mark Zimmermann leitet hauptberuflich das Center of Excellence (CoE mobile) zur mobilen Lösungsentwicklung bei der EnBW Energie Baden-Württemberg AG in Karlsruhe. Er weist mehrere Jahre Erfahrung in den Bereichen Mobile Sicherheit, Mobile Lösungserstellung, Digitalisierung und Wearables auf. Der Autor versteht es, seine Themen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln für unternehmensspezifische Herausforderungen darzustellen. Neben seiner hauptberuflichen Tätigkeiten ist er Autor zahlreicher Artikel in Fachmagazinen.

3. Alle Unternehmen werden Softwarehersteller

Die Automatisierungs- und Standardisierungspotenziale aller Vorgänge ist ein Schlüsselfragment der Digitalisierung. Ohne Automatisierung sind keine Effizienzen im Massengeschäft möglich. Durch technologischen Fortschritt und Adaption stetig erweiterte Cloud-Dienste und moderne IT-Systeme sind Produkte und Services auch von Dritten schnell aufgesetzt. Nischen und Lücken können auf diese Weise schnell geschlossen werden, sobald sie entdeckt werden. Wo früher der Aufbau komplexer Anlagen in Fabriken notwendig war, können die digitalen Möglichkeiten mittlerweile Legosteinen gleich kombiniert bzw. neu angeordnet werden. Die bestehende IT- und Prozesslandschaft unterliegt dadurch im Rahmen der Digitalisierung meist einer fundamentalen Änderung (disruptive Technologien). Die Automatisierung spielt vor allem bei der Erhebung und Verarbeitung von immateriellen (digitalen) Daten aus Sendern, Sensoren und (anonymisierten) Nutzungsverhalten eine Rolle.

Viele Unternehmer und Mitarbeiter glauben, dass wir bereits in einer digitalen Welt leben, in der alle Daten vorhanden sind. Das Gegenteil ist der Fall. Die meisten Informationen sind in Wahrheit weder digital erfasst, strukturiert noch nutzbar. Das stellt ein enormes Potenzial für den Markt dar. Dieser Markt agiert dabei schnell und zeigt gerade durch die Verwertung von Daten eine starke Dynamik. Vernetzte Geräte werden immer mehr, schneller und besser Daten erheben. Die Sensortechnologie schlägt hier die Brücke zwischen der analogen und der digitalen Welt. Aus vielen Daten werden durch intelligente Vernetzung Informationen. Werden diese Informationen über längere Zeiträume ausgewertet, sind sogar Prognosen für Zeitreihen möglich. Vorne liegt, wer im Rahmen dieser Informationsgewinnung die bis dahin eventuell als wertlos empfundenen, (un-)strukturierten Datenmengen durch eine Metrik veredelt, die zu einem neuen Produkt oder Dienstleistungsangebot führt. Dabei ist es unverzichtbar, auf die Integrität der Daten Wert zu legen.

4. Geschäftsmodelle und Lebenszyklen

Vereinfacht dargestellt, machen zwei Faktoren im Kern das Geschäftsmodell eines Unternehmens aus: zum einen es das Wertversprechen, also die Klärung der Frage, welche Werte für die Kunden geschaffen werden. Zum anderen die Antwort auf die Frage, wie dieses Wertversprechen mit dem Geschäftsmodell des eigenen Unternehmens verbunden werden kann. Etablierte Geschäftsmodelle fallen aufgrund der flexibleren digitalen Möglichkeiten zunehmend auseinander und müssen um intelligente Dienste erweitert werden. Diese entstehen aus der Verknüpfung von klassischen Produkten mit digital aufbereiteten Daten.

Während die Wertschöpfungskette früher mit der Auslieferung eines Produktes wie etwa einer Landmaschine beim Kunden endete, geht die Kette heute weiter. So sind Geschäftsmodelle denkbar, bei denen der Kunde Sensorwerte und Daten (wie Wetterinformationen, Düngepläne für Felder, Bodenanalysen) erhält und im Rahmen der Servicebeziehung Zusatzdienste wie eine Versicherung gegen Ernteausfälle abschließen kann. In diesem Fall hätte der Hersteller seine Wertschöpfungskette um Wartungsmodelle erweitert und so nicht nur seinen Produktlebenszyklus, sondern auch den Einsatzlebenszyklus beim Kunden abgedeckt.

5. Führungsqualitäten und Mitarbeiter-Kompetenzen

Die Erweiterung der Wertschöpfungskette macht bei Mitarbeitern und Führungskräften eine neue Methodenkompetenz erforderlich, um in dieser neuen Arbeitswelt Erfolg zu haben. Mitarbeiter müssen in der Lage sein, aus den bisher benannten Daten Informationen auf Basis eigene Arbeitshypothesen abzuleiten und zu prüfen. Am Anfang dürfen dabei auch wilde Spekulationen stehen. Mit klassischer Wasserfall-IT und den ausufernden Freigabeprozessen in größeren deutschen Unternehmen sind die Analyse von Geschäftsbereichen, die Ableitung von Maßnahmen und die agile Umsetzung in ein Produkt nicht machbar.

Die Fähigkeit, Daten zu generieren, zu verändern, zu managen und zu interpretieren, wird künftig für Digitalexperten überlebenswichtig. Ein Chief Digital Officer (CDO), wie beispielsweise Gartner ihn zumindest zeitweise einfordert, ist zwingend notwendig. Es geht darum, zwischen IT und Marketing sowie zwischen Vertrieb und Produktentwicklung eine Ebene auf Augenhöhe zu etablieren. Oft sind viele Unternehmen technisch in der Lage, sich der Digitalisierung zu stellen. Vielmehr fehlt es hier an Fähigkeit und Bereitschaft, die eigene Organisation entsprechend anzupassen.

6. Erwartungen der Kunden

Früher haben Kunden ihre Kaufentscheidung auf Basis von Prospekten, Verkaufsgesprächen oder Testberichten getroffen. Heute finden diese Entscheidungsprozesse durch Empfehlungsmarketing in sozialen Netzwerken oder durch Recherchen im Internet statt. Ob B2B oder B2C - so gut wie jedes Produkt wird im Internet gesucht, gefunden, geprüft, gekauft. Kommentare auf Facebook und in Fachforen ersetzen die Werbeversprechen der Industrie. Also müssen die Unternehmen umdenken. Der Kunde will nicht unbedingt technische Perfektion und "Feature-Schlachten" zwischen den Anbietern - wichtig ist der "erlebbare Mehrwert", den die Lösung bietet.

Im Idealfall integriert sich ein Unternehmen damit fest im "Ökosystem" des Kunden. So können auch einmal Produkte entstehen, die vor fünf Jahren noch als zu unausgereift gegolten hätten. Beispiel Google Glass: Die mangelnde technische Reife einer digitalen Brille mit unter zwei Stunden Batterielaufzeit ist längst kein Grund mehr, auf eine Markteinführung zu verzichten. Google setzt stattdessen die Community für die eigenständige Ermittlung möglicher Geschäftsmodelle ein. Überall dort, wo freie Hände zum Arbeiten benötigt werden, bilden sich unabhängige Geschäftsmodelle für den Einsatz der Datenbrille. Selbst wenn die Technik noch keinen (tage-)langen Einsatz erlaubt, sind amerikanische Unternehmen bereit, auch dieses noch nicht als fertig empfundene Produkt am Markt einzuführen.

"Die Digitalisierung stellt die klassischen Kunde-Lieferanten-Beziehungen auf den Kopf. Dieser erneute, grundlegende Wandel in unserer Industriegeschichte revolutioniert auch die Geschäftsmodelle in der Energiewirtschaft", erklärt Uli Huener, Leiter Innovationsmanagement bei der EnBW Energie Baden-Württemberg AG.

Uli Huener sieht eine Revolution auf die Energiewirtschaft zukommen.
Uli Huener sieht eine Revolution auf die Energiewirtschaft zukommen.
Foto: EnBW Energie Baden-Württemberg AG

7. Angepasstes Risikomanagement

Die Erweiterung aktueller, in der physischen Welt greifbarer Produkte um digitale Services wirft auch neue Rechts-, Sicherheits- bzw. Datenschutzfragen auf. In jeder Branche kann es rechtliche Probleme geben, wenn Marktveränderungen zu spät erkannt werden. Viele Vorstände und Entscheidungsträger glauben, dass sie alles über Digitalisierung wissen. Tatsächlich haben sie aber nur einen eingeschränkten Marktüberblick. Unternehmen müssen dem Wandel am Markt vorausschauend begegnen, damit Sie Marktchancen durch neue Geschäftsmodelle erkennen und auch mögliche Rechtsfragen frühzeitig auf dem Radar haben.

8. Neues "Besitz-Modell"

War der Besitz eines Produktes früher noch wichtig, erleben wir heute bereits einen Wandel dieses Bedürfnisses im Medienkonsum. Produkte werden nicht mehr nur gekauft, sondern größtenteils geliehen oder gemietet. Flatrate oder "Pay-per-use"-Modelle werden immer beliebter, wie am Beispiel Spotify zu sehen ist. Für künftige Geschäftsprozesse müssen Unternehmen bewerten, ob sich auch jenseits des Medienkonsums der Wandel vom "Besitz-Modell" in ein substanzielle "Benutzungs-Modell" vollziehen wird. Um mit dem Trend Schritt halten zu können, braucht es radikal neue Geschäftsmodelle - die Entwicklung bietet aber auch nahezu unbegrenzte Entfaltungsmöglichkeiten für Unternehmen.

Fazit

Die Digitalisierung ist eine evolutionäre Veränderung in unserer Arbeits- und Lebenswelt und betrifft die gesamte Wertschöpfungskette. Sie erlaubt durch Netzwerk- und Skaleneffekte kosteneffiziente Wertschöpfungsprozesse. Sie ist der wichtigste Innovationstreiber und die treibende Kraft im Konkurrenzkampf um künftige Kundensegmente. Industrialisierte Volkswirtschaften wie Deutschland haben den Vorteil, schon Produkte herzustellen, die sich mit der richtigen Strategie zu intelligenten Plattformen und somit zu neuen Dienstleistungen und Geschäftsmodelle entwickeln können.

Die Digitalisierung als Ganzes sollte eher als Herausforderung denn als Gefahr begriffen werden, um den Anschluss an die Welt nicht zu verlieren. Unternehmen müssen sich auf die Umwälzung einstellen und Wege finden, Werte zu erschließen anstatt Zäune zu errichten. Mit Blick auf die Verlagswelt, die sich mit dem Leistungsschutzrecht aus Verzweiflung gegen die Digitalisierung stemmt, ist nur ein Beispiel für (noch) nicht gefundene Wege.

Die IT-Strategie eines Unternehmens ist entsprechend neu auszurichten, um die Basis für neue Wertschöpfungsketten zu schaffen und bestehende Produkte digital veredeln zu können. (sh)