Warten auf Windows 95 Die PC-Software-Branche wagt keinen Muckser gegen Microsoft

05.05.1995

Von Peter Monadjemi*

Die Einfuehrung von Windows 95 soll nach dem Willen von Microsoft nicht nur fuer das eigene Unternehmen zum groessten Software-Ereignis in der Geschichte werden, auch fuer nahezu die gesamte Konkurrenz ist das mit Spannung erwartete Debuet des MS-DOS/Windows 3.1- Nachfolgers mit erheblichen Umsatzerwartungen verbunden. Doch die mehrfach verschobene Premiere stoesst in der Industrie nicht ueberall auf Verstaendnis.

Windows 95 kommt, so laesst Microsoft-Mogul Bill Gates neuerdings wissen, voraussichtlich doch noch nicht im August 1995 auf den Markt. Glaubt man den offiziellen Aussagen der wichtigsten Softwarehersteller, spielt der exakte Auslieferungstermin aber nur eine Nebenrolle. Wann immer es kommt, wir sind darauf vorbereitet, lautet der beinahe einhellige Tenor der Branche, die sich etwaige Verstimmungen ueber die mehrfache Verschiebung der Auslieferung des Windows 3.1-Nachfolgers offenbar nicht anmerken lassen will.

Dies ist zwar ein wenig verwunderlich, denn zum einen kann eine um mehrere Monate verspaetete Auslieferung wichtiger Umsatztraeger nicht spurlos in der Bilanz untergehen, zum anderen haben einige Hersteller die nach wie vor erfolgreichen Windows 3.x-Versionen in Erwartung einer baldigen Einfuehrung von Windows 95 gar nicht mehr neu aufgelegt. Doch haette, und das gilt in der Branche inzwischen als Konsens, das Lamentieren ueber den vermeintlich unzuverlaessigen (oder gar unfairen) Partner aus Redmond nur wenig Sinn.

Lamentieren der Anbieter sinnlos

So gibt man sich relativ gelassen und bestens fuer alle Eventualitaeten vorbereitet. Nur vereinzelt, wie zum Beispiel bei der Star Division GmbH, wird Veraergerung laut, oder gar, wie bei der kanadischen Softwareschmiede Corel, mit der Abwanderung ins OS/2-Lager gedroht.

Besonders gut vorbereitet ist man bei Lotus Development. Bereits zur Herbst-Comdex '94 wurden von Amipro, Freelance, 1-2-3 und dem Notes-Client Versionen fuer Windows 95 gezeigt, die sich vor allem durch die enge Integration, die Anbindung an Notes und die Unterstuetzung durch Lotusscript 2.0 auszeichnen. Die Lotus-Suite soll entweder zeitgleich oder kurz nach der Einfuehrung von Windows 95 ausgeliefert werden.

Nach den Worten von Wolfgang Kobek, Marketing-Programm-Manager bei der Lotus Development GmbH in Muenchen, hat das verzoegerte Erscheinen von Windows 95 auch seine Vorteile. So erhaelt Lotus, das trotz des bekannten angespannten Verhaeltnisses zwischen Bill Gates und Lotus-Chef Jim Manzi sehr enge Kontakte zu Microsoft pflegt, mehr Zeit, die eigene Software an Windows 95 anzupassen.

Allerdings geht man bei Lotus davon aus, dass Windows 95 sich zwar durchsetzen, aber nicht von Anfang an der grosse Renner sein und der Verkauf von Windows-3.1.-Software daher auch ueber die Einfuehrung von Windows 95 hinaus eine Rolle spielen wird. Aus diesem Grund, weil Lotus mit seiner Tabellenkalkulation 1-2-3 ueber viele treue Kunden verfuegt und natuerlich weil man auf die Umsaetze nicht verzichten kann, soll es sogar weitere Updates der 16-Bit- Software geben. Dennoch wird die neue Generation der Lotus- Software nicht nur die langen Dateinamen von Windows 95 unterstuetzen. Wie sich einige Besucher der diesjaehrigen CeBIT am Lotus-Stand ueberzeugen konnten, haben sich die Lotus-Entwickler auch die Muehe eines kompletten Redesings bei der Benutzeroberflaeche gemacht.

Relativ gelassen sieht man die Sache auch bei Novell. Die kleinen Animositaeten zwischen Microsoft und den Netzwerkern, die im letzten Jahr vor allem die Netware-Unterstuetzung bei Windows betrafen, sind offenbar vergessen. Auch bei Novell hat man Windows als Standard fuer den Desktop akzeptiert.

Novell: Konzentration aufs Netz-Geschaeft

Nach Aussage von Martina Grueger, Pressesprecherin bei der Novell GmbH in Duesseldorf, wo man seit dem Zusammenschluss im letzten Jahr auch die Wordperfect-Produkte betreut, bereitet die Verzoegerung bei Windows 95 der eigenen Firma keine Probleme, da Novell zur Zeit den Hauptumsatz mit Netzwerkprodukten macht und Applikationen lediglich 10-20 Prozent des Umsatzes ausmachen. Aus der Palette der Applikationen werden Perfectoffice, Groupwise und Informs moeglichst schnell nach der Auslieferung von Windows 95 offeriert werden. Was den Auslieferungstermin angeht, rechnete man bei Novell damit, dass Microsoft es bis August schaffen werde.

Grosse Hoffnungen in Windows 95 setzt man bei Symantec. Die Firma, der es bislang wohl am besten gelang, im Fahrwasser von Microsoft ein profitables Dasein zu fristen, setzt insbesondere auf ihre sehr erfolgreichen Desktop-Werkzeuge. Sowohl die Norton- als auch die PC-Tools werden unmittelbar nach der Einfuehrung von Windows 95 in aktuellen Versionen verfuegbar sein.

Die verschobene Premiere von Windows 95 habe ueberhaupt keine Auswirkungen auf die eigenen Plaene, versichert Franz Steufkens, PR-Manager bei Symantec in Duesseldorf. "Wir stehen Gewehr bei Fuss und sind jetzt noch mehr ready, als wenn Windows 95 bereits im Fruehjahr gekommen waere."

Auch wenn der Fokus auf Windows 95 liegt, ist Symantec nicht blind fuer andere Plattformen. Windows NT, Windows 3.x und sogar DOS sind nach wie vor ein Thema. So wird der ueberaus erfolgreiche Norton Commander fuer DOS, sicherlich ein Einzelfall in der Windows- dominierten Branche, demnaechst in einer neuen Version erscheinen. Die Einstellung zu OS/2 ist bei Symantec dagegen eher verhalten.

Dennoch behaelt man sich alle Optionen vor. "Wenn es boomt, werden wir auf jeden Fall auch die Software dafuer bringen." Mit diesem Versprechen laesst der PR-Manager von Symantec die Anhaenger des IBM- Betriebssystems wieder ein wenig hoffen.

Auch in Hamburg bereitet man sich auf Windows 95 vor, allerdings mit sichtlich gedaempftem Enthusiasmus. Plattformunabhaengig zu sein ist schon seit einiger Zeit ein Aushaengeschild der Star Division. Zwar wird die Produktpalette nach Aussage von Marketing-Leiter Jens Riemenschneider natuerlich auch fuer Windows 95 angeboten werden, weniger angetan ist man hier allerdings von der mehrfachen Verzoegerung: Man haelt diese schlicht fuer ein "Fuer-dumm-Verkaufen der Anwender". Riemenschneider deutet diese Ankuendigungspolitik als "Panik vor OS/2". Dennoch gesteht man Microsoft die zusaetzlich benoetigte Zeit zu, denn die Auslieferung einer fehlerhaften Software waere das groessere Uebel. Auch wenn die Grosskunden das neue Desktop-Betriebssystem wohl nicht so schnell akzeptieren werden, hat ein ausgereiftes und getestetes Windows 95 gute Chancen.

Die kritische Haltung zur Microsoft-Strategie bei Star Division macht sich auch bei der Prognose des Auslieferungstermins bemerkbar. Mit diesem rechnet man naemlich nicht vor der Herbst- Comdex, das heisst vor November 1995. Die Plattformunabhaengigkeit der Star Division-Software macht es der Firma leicht, auf moegliche Verschiebungen im Markt flexibel zu reagieren. So werden die Versionen fuer Windows NT, OS/2 und Windows 95 parallel erarbeitet, die OS/2-Versionen unter Umstaenden sogar vor den Windows-95- Ausfuehrungen ausgeliefert werden. Auch die 16-Bit-Variante wird ueber die Einfuehrung von Windows 95 hinaus angeboten werden.

Auch die krisengeschuettelte Borland GmbH steht voll hinter Windows 95. Die gesamte noch vorhandene Produktpalette soll spaetestens drei Monate nach der Auslieferung von Windows 95, mit der im Laufe des dritten Quartals gerechnet wird, verfuegbar sein. Zwar hatte der Geschaeftsfuehrer der Borland GmbH in Langen, Gerhard Romen, bereits im Mai letzten Jahres eine voellig neue Art von Software fuer Windows 95 in Aussicht gestellt, naehere Einzelheiten wurden bislang aber nicht bekannt. Da Borland nach Aussage eines Mitarbeiters, der namentlich nicht genannt werden wollte, grundsaetzlich der Microsoft-Strategie folgt, sind keine weiteren Releases fuer Windows 3.x geplant. An OS/2 will man sich ebenfalls nicht orientieren.

Und wie sieht es beim Marktfuehrer selber aus? Hier schwindet inzwischen offenbar ein wenig das Vertrauen in die eigenen Betriebssystem-Plaene. Sah es zu Anfang des Jahres noch so aus als waere die 16-Bit-Welt endgueltig passe und kaeme kurz nach der Einfuehrung von Windows 95 eine komplett neue Office-Suite mit 32- Versionen von Word und Excel auf den Markt, so wurden die Kunden bereits Ende Januar auf eine moegliche weitere Runde von 16-Bit- Updates eingestimmt. Kein Wunder, denn auch Bill Gates muss aus dem Notstand eine Tugend machen und will verstaendlicherweise Ersatz fuer ein paar Millionen Verkaeufe schaffen, die ihm durch die Windows-95-Verspaetung entgangen sind. Erste Geruechte ueber "Office'95" aus wie immer gut informierten Kreisen liessen erkennen, dass es auch Microsoft bei kosmetischen Korrekturen und einer Unterstuetzung der langen Dateinamen belassen wird und spektakulaere Neuerungen auf die naechste Office-Generation vertagt hat.

Die Unsicherheit in Redmond ueber das eigene Tempo beim Wechsel in die neue 32-Bit-Welt macht sich auch an Kleinigkeiten bemerkbar. So sollten urspruenglich bis April 1995 alle Software-Anbieter das Windows-Logo von jenen Anwendungen entfernen, die "nur" Windows 3.1 unterstuetzen. Inzwischen wurde dieses Ultimatum allerdings ein wenig gelockert.

Der momentane Erfolg von OS/2 ist sicherlich ein Thema fuer die Hersteller, wenngleich keine direkte Wechselwirkung mit den Windows-Plaenen zu existieren scheint. Zwar waere auf den ersten Blick zu vermuten, dass jeder Tag, um den sich die Auslieferung von Windows 95 verzoegert, die Position des IBM-Betriebssystems staerkt, einen Wettlauf gegen die Uhr muss Microsoft aber trotzdem nicht bestehen. Dafuer sind die Ausgangslagen zu verschieden.

Keiner legt die Hand fuer OS/2 ins Feuer

OS/2 erfreut sich, glaubt man den Verkaufszahlen der IBM, zwar nach wie vor steigender Beliebtheit, kann aber in keinster Weise an die Popularitaet von Windows anknuepfen. Dieses Faktum spiegelt sich auch in den Plaenen der Softwarehersteller wieder. Zwar wird OS/2 inzwischen nahezu einhellig als ernstzunehmende Softwareplattform anerkannt, seine Zukunft auf OS/2 setzen moechte aus verstaendlichen Gruenden aber keiner der fuehrenden Hersteller.

Auf der anderen Seite werden die OS/2-Absichten der einzelnen Anbieter, sofern existent, durch die Einfuehrung von Windows 95 offenbar auch nicht beeinflusst. Sowohl fuer Lotus als auch fuer Star Division bleibt OS/2 auch in Zukunft eine strategische Plattform. Dies gilt vor allem fuer die Star Division, die mit der Ankuendigung, ihr "Star Office" kuenftig zusammen mit der deutschen OS/2-Version auszuliefern, im Maerz weltweit fuer Schlagzeilen sorgte. Allerdings duerfte dieser Entschluss in erster Linie als gelungener Marketing-Gag zu sehen sein und mehr fuer das Einfallsreichtum des Firmenchefs sprechen als fuer einen neuen Trend.

Sehr viel realistischer ist die Strategie von Lotus, wo man nach eigener Aussage den Programmcode zuerst fuer Windows 95 entwickeln und erst dann an OS/2 anpassen wird, so dass die Windows-Produkte auch in Zukunft vor ihren OS/2-Pendants verfuegbar sein werden. Windows NT wird durch die Verfuegbarkeit von Windows 95 als zweite 32-Bit-Windows-Plattform aller Voraussicht nach im Desktop-Bereich keinen hoeheren Stellenwert erhalten. Fuer die Mehrheit der Softwarebranche bleibt Windows NT auch 1995 eine reine Server- Plattform.

Was nuetzen die schoensten Anwendungen, wenn die Anwender bei Windows 3.1 verharren oder gar veraergert zur Konkurrenz abgewandert sind? Dieser Tatsache ist sich natuerlich auch Microsoft bewusst und macht Anwendern und Entwicklern gleichermassen Druck. Nicht nur Entwickler sollen das begehrte Windows-95-Logo nur dann erhalten, wenn ihre Software eine Reihe von Kriterien erfuellt, sondern die Macher in Redmond erwarten auch von Grosskunden und Haendlern, dass sie sich fruehzeitig auf den Umstieg auf Windows 95 einstellen.

Fuer die Haendler startete bereits im Januar das "Wanted!Windows 95"-Programm, das neben einer Vorschauversion (Microsoft legt Wert darauf, dass es sich hier nicht mehr um eine Betaausfuehrung handelt) und technischen Unterlagen auch ein dreistufiges Trainingsprogramm umfasst. Um mit gutem Beispiel voranzugehen, stellt man Grosskunden auch eine fristgerechte Auslieferung in Aussicht. Wer zum Beispiel ueber einen Select-Vertrag verfuegt, soll bereits im Juni dieses Jahres den "Golden Code" von Windows 95 testen koennen.

Dennoch soll sich das Warten auf Windows 95 lohnen. Fuer Microsoft, Lotus, Novell und Co. winken Milliardenumsaetze, fuer die Anwender ein angenehmeres Arbeiten. Nach einer in den USA durchgefuehrten Studie einer Marktforschungsfirma, die allerdings von Microsoft in Auftrag gegeben wurde, sind Windows-95-Anwender erheblich produktiver als Windows-3.1-User. Natuerlich nur dann, wenn es denn irgendwann auch kaeuflich zu erwerben sein sollte.