Wenn Nachbesserungen Monate dauern

Wacker-Chemie bringt R/3 auf Touren

09.12.1998
MÜNCHEN (CW) - "R/3-Tuning" nennt der DV-Leiter die Beseitigung all der Probleme, die nach der Software-Einführung Anwender die Wände hochgehen lassen. Das ist auch bei Wacker-Chemie so. Weltweit arbeiten hier rund 3500 Anwender mit der SAP-Standardsoftware.

Seit Juni dieses Jahres beruhen die wichtigen Geschäftsabläufe bei Wacker-Chemie auf R/3. Die Software-Einführung erforderte zusätzliche Arbeit und jede Menge Engagement, räumt auch Frank Hurtmanns, Leiter Informatik und Prozeßgestaltung bei Wacker, ein, wenn er eine positive Bilanz zieht: "Dank dieses vorbildlichen Arbeitseinsatzes und einer gründlichen Vorbereitung verlief die Umstellung nahezu reibungslos", zitiert ihn die Hauszeitschrift des Konzerns "Wacker intern", Ausgabe 4/98.

Was Hurtmanns verschweigt ist, daß Wochenend- und tägliche Mehrarbeit sich bereits über Jahre erstrecken. 1994 liefen die Vorbereitungen der R/3-Einführung an. Im März 1996 begann Wacker, die Entwürfe umzusetzen - mit Schwierigkeiten (siehe CW 37/96, Seite 67).

Mittlerweile sind die Module "Vertrieb und Auftragsabwicklung" (SD), "Produktionsplanung" (PP), "Qualitätsmanagement" sowie "Controlling Produktionskosten- und Ergebnisrechnung" (Co-PA, CO-PC) im Einsatz. Zu den zuletzt eingeführten R/3-Modulen zählen "Human Resource" (HR) - läuft seit dem 1. Juli 1997, "Resources to Customer" (RTP) - ist seit 1. Januar 1998 produktiv - und "Product to Customer" (PTC), das seit 1. Juni 1998 in Betrieb ist. Mit den Resultaten zeigt sich Hurtmanns ebenfalls zufrieden: "Durch die Einführung von aufgabenspezifischen Standardabläufen wird der früher übliche Auftragsprozeß in seiner Komplexität reduziert, eine Verkürzung der Lieferzeiten sowie die Erhöhung der Liefertermintreue sind das Ergebnis." Allein im Juni seien Kundenaufträge im Wert von 186 Millionen Mark fakturiert, rund 7000 Aufträge abgewickelt und etwa 18000 Prozeßaufträge ausgeführt worden.

Dennoch hatte Wacker mit Folgen der Umstellung zu kämpfen, sowohl die Anwender als auch die Softwareprogramme zeigten Anlaufprobleme. Schließlich veränderte die Systemeinführung Prozesse und Arbeitsschritte, schuf neue Verantwortungsstrukturen und Arbeitsteiligkeiten. Wacker investierte in rund 19000 Schulungsstunden. Trotzdem resümierte Hurtmanns in der Firmenpostille: "Das Zusammenspiel von System- und Prozeßverständnis in einem integrierten System ist noch nicht erreicht."

Abgesehen von der Komplexität der neuen Software und der notwendigen Einarbeitung in neue Abläufe, forderte R/3 die Anwender auch mit "eingeschränktem Funktionskomfort" heraus. Ein Versandmitarbeiter und R/3-Trainer vom Wacker-Standort Burghausen berichtet in der Firmenzeitung: "Im Endeffekt ist der Arbeitsaufwand vom System her etwas größer als früher, und einfacher ist es auch nicht geworden." Konkret heißt das: Er habe mehr Masken zu bearbeiten. Zudem fehlten die Ausdrucke interner Versandaufträge, so daß er sie umständlich in der Anwendung suchen müsse.

Der Vorteil der Applikation sei allerdings eine erhöhte Transparenz. Durch die Vernetzung des Systems kämen die Außenorganisationen direkter an Informationen.

Eine Mitarbeiterin der italienischen Wacker-Niederlassung bemängelte nach der R/3-Einführung das Fehlen einer "anwendungsfreundlichen Übersicht" über die Auftragseingänge sowie fehlende Terminbestätigungen. Infolgedessen sei es zu Lieferverzögerungen der verpackten Ware gekommen. Auch am Standort Stuttgart hatte man Schwierigkeiten bei der Einhaltung von Lieferterminen. Die Zahl der Anrufe von genervten Usern bei der Wacker-SAP-Hotline stieg auf bis zu 300 pro Tag.

Projektleiter Hurtmanns leugnet diese Probleme keineswegs. In der Wacker-Zeitschrift zeigt er selbst einige auf. Hauptsächlich gerieten die Planung und Einhaltung von Lieferterminen aus den Fugen. So sind die Artikel im System mit Verfügbarkeitsregeln versehen. Diese definieren den Zeitraum, in dem die Artikel beschafft und bereitgestellt werden können. Bei der Erfassung des Auftrags überprüft die Anwendung den Lagerbestand und errechnet den möglichen Liefertermin unter Berüchsichtigung dieser Verfügbarkeitsregeln. Nach der Einführung waren diese Informationen nicht korrekt, so daß die Termine falsch berechnet wurden.

Ein weiteres Problem warfen kurzfristige Änderungswünsche des Kunden auf. Zwar lassen sie sich in der Applikation bearbeiten, aber die Auftragsänderungen aktivieren die Verfügbarkeitsroutinen, der Termin wird neu berechnet und verschiebt sich noch einmal.

Zudem konnten Mitarbeiter einen Transportauftrag nur vergeben, wenn die Bestellung bereits produziert und die Qualitätssicherung erfolgt war. Die verspätete Bereitstellung der Transportmittel brachte Verzögerungen von zwei Tagen mit sich, für den Seeweg sogar bis zu einer Woche.

Mitte August wurde in den Betriebslägern die automatische Chargenfindung abgeschaltet. Die R/3-Funktion erwies sich zwar als sinnvoll in den Lagern beziehungsweise Verteilzentren, die über eine automatische Ein- und Auslagerung verfügen. In den herkömmlich organisierten Betriebslägern aber konnte die vom System ausgesuchte Charge oftmals nur mit großem Aufwand, zum Beispiel durch Umstapeln, bestückt werden.

Mehraufwand bedeutete auch der R/3-Einsatz bei Verpackungen und Umverpackungen, insbesondere bei Kartuschen. Um dieses Problem zu lösen, baute Wacker einen zusätzlichen R/3-Baustein ein. Das kommende R/3-Release soll die Verpackungsproblem von vornherein besser lösen.

Das letzte Problem, das Hurtmanns in der Hauspostille schildert, waren fehlende Plausibilitätskontrollen für die Auftragsdaten. Die eingetragenen Daten stimmten nicht und wurden im Prozeßverlauf tradiert. Ein eigens eingerichtetes Störungs-Management im Versand sammelte die Irrläufer für eine Fehleranalyse. Auf Basis dieser Auswertung entwickelten Programmierer Prüfmechanismen, die den Auftragserfassern künftig eine Selbstkontrolle ermöglichen sollen.

Soweit reicht die Aufzählung des Projektleiters über die aktuellen Nachbesserungen bei der Umstellung auf die SAP-Standardsoftware im Konzernverbund Wacker. Doch offenbar hatte sich das Unternehmen auf dieses "Tuning" nach erfolgreicher Einführung vorbereitet. Es installierte mehrere Teams, die die Schwierigkeiten aufnehmen, analysieren und lösen sollten.

So gab es neben einer Hotline und einer Projektgruppe Anwendungen ein Re-Engineering-Kernteam, das etwa die Auftragserfasser in Frankreich, England, Italien, Stuttgart, Köln und Düsseldorf begleitete, sowie das erwähnte Störungs-Management im Versand.

Wacker-Chemie

Rund 200 Millionen Mark wendet Wacker-Chemie nach eigenen Angaben jährlich für Forschung und Entwicklung auf. Silicone und Reinstsilicium bilden dabei einen Schwerpunkt. So arbeitet der Konzern etwa an wäßrigen Silicon-Mikroemulsions-Konzentraten, die umweltverträglicher sein sollen als herkömmliche Produkte.

Außerdem konzentriert sich der Fünf-Milliarden-Mark-Konzern, der seinen Hauptsitz in München hat, zunehmend auch auf die Biotechnologie: So stellt das Unternehmen mit weltweit 15000 Mitarbeitern die ringförmigen Zuckermoleküle Gamma-Cyclodextrine bereits im Technikumsmaßstab her. Die Moleküle finden Anwendung in der Stabilisierung von Geruchs- und Aromastoffen in der Nahrungsmittel- und in der Kosmetikindustrie.