VR fuer Produktionsablaeufe erstmals in der Praxis Virtual Reality simuliert die neue Fertigung von Boehringer Von CW-Mitarbeiter Stefan Ueberhorst

04.03.1994

Flexiblere Produktionsmethoden realisiert die Boehringer Mannheim GmbH mit Hilfe einer Virtual-Reality- Simulation. Das zusammen mit dem Stuttgarter Fraunhofer-Institut durchgefuehrte Projekt soll aufwendige Versuchsanlagen ersparen und gilt als europaweite Pionierleistung in der Produktionstechnik. Die Firma Boehringer Mannheim GmbH ist ein pharmazeutisches Unternehmen, das sich nach eigenen Angaben in den vergangenen zehn Jahren zu einem der weltweit bedeutendsten Diagnostica-Hersteller entwickelt hat. Gruende fuer die geplante Neuerung in der Produktion von Testreagenzien sind der hoehere Bedarf an Flexibilitaet und der wachsende Kostendruck bei gleichzeitig steigenden Produktanforderungen. Wettbewerbsvorteile sollen nun mit einem neuen Fertigungskonzept erreicht werden, das mit den Schwachstellen der bisherigen Produktion aufraeumt. Im Bereich Diagnostica/Laborsysteme werden rund 1000 Endprodukte hergestellt, fuer die wiederum etwa 2000 Zwischenprodukte erforderlich sind. Dabei handelt es sich meist um Fluessigkeiten, die in Mengen zwischen drei und 1000 Millilitern in Flaschen verschiedenster Formate abgefuellt werden muessen. Die ueber Jahre hinweg angeschafften Abfuellanlagen erfordern bei jeder neuen Serie Umruestzeiten von gut einem halben Tag. Da oft nur mit kleinen Chargen pro Fertigungszyklus gearbeitet wird, sind die Maschinen zum Teil nur zu 40 Prozent ausgelastet.Die flexible Produktion steht im Vordergrund Die seit zwei Jahren geplanten Aenderungen in der Produktion orientierten sich deshalb in erster Linie an flexibleren Abfuell- und Verpackungstechniken. Neue Organisationsformen wie Komplettbearbeitung, so Delfried Ehlers, Abteilungsleiter der Fertigungswirtschaft, sollen in einer zweiten Stufe folgen. Die Plaene basieren auf dem Einsatz von Industrierobotern und einem neuen Logistikkonzept. Anstatt aber viel Lehrgeld in eine echte Pilotanlage zu investieren, entschied sich Boehringer fuer die Simulation der neuen Abfuellzellen mit Virtual Reality (VR). Das Projekt "Flexibles Abfuellzentrum" wurde gemeinsam mit dem Stuttgarter Fraunhofer-Institut fuer Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) durchgefuehrt. Virtual Reality, bislang eher zur Praesentation von Architekturen oder in Spielwelten eingesetzt, wurde am IPA um Echtzeitkomponenten fuer die Prozesssteuerung erweitert. Daher lassen sich inzwischen auch fertigungstechnische Ablaeufe simulieren. Zum Boehringer-Versuch gehoerte eine kleine Installation mit einem Standard- Industrieroboter, der verschiedene Flaschen unterschiedlich befuellen, verschrauben und magazinieren sollte. Bei der VR- Hardware unterscheidet IPA-Mitarbeiter und Projektleiter Thomas Flaig zwischen Grafik und Steuerung. Fuer die raeumliche Darstellung der virtuellen Welt setzt der Betrachter einen Helm auf, der fuer jedes Auge mit einem Liquid Cristall Display (LCD) bestueckt ist. Die Grafikausgabe erfolgt fuer jeden der beiden Kanaele ueber einen VGX/310-Rechner von Silicon Graphics (SGI). Jede Maschine kann pro Sekunde eine Million untexturierter Polygone zeichnen. Die Steuerung der virtuellen Roboter uebernimmt ein Transputersystem. Auf dessen Prozessoren wird auch zunehmend die Grafikvorverarbeitung verlagert, so dass sich die SGI-Rechner weitgehend auf die Ausgabe der grafisch dargestellten Informationen konzentrieren koennen. Der Transputer selbst wird von einer Sun-Workstation aus programmiert und gebootet. Die Verbindung saemtlicher Komponenten erfolgt via Transputerlinks, die ueber Boards mit dem VME-Bus der Grafikrechner kommunizieren und diese synchronisieren. Die Leistung des Systems ist unmittelbar abhaengig von der Anzahl der Polygone, die gezeichnet werden sollen. Um dynamische Bewegungsablaeufe zu erzeugen, muessen im Idealfall 20 Bilder pro Sekunde generiert werden. Dies ist allerdings nur ueber eine Senkung der Polygonzahl moeglich. Deshalb bedient man sich der Physiologie des menschlichen Auges, das bestimmte Bereiche scharf und andere unscharf wahrnimmt. Bei diesem "Level of detail" werden die Polygone dadurch reduziert, dass der Rechner entfernte oder seitlich gelegene Objekte abstrahiert und nur die zentralen Sichtbereiche scharf zeichnet.Zur Bedienung des VR-Systems hat das IPA eine Zweihandsteuerung entwickelt. Waehrend die Bewegung eines Datenhandschuhs direkt fuer die Bahndaten eines virtuellen Roboters uebersetzt wird, laesst sich mit einer Steuerkugel in der anderen Hand der Betrachterstandort wechseln. Ueber ein Interface koennen die Bahndaten des virtuellen Roboters auf sein echtes Pendant, einen Industrieroboter, uebertragen werden. Die Software basiert auf dem vom IPA in C geschriebenen Paket "VR4RobotS". Sie enthaelt drei Hauptkomponenten: Rendering von schattierten Modellen in Echtzeit, Realtime-System-Manager (RTSM) sowie Schnittstellen- Formate fuer verschiedene CAD-Daten. Der Benutzer sieht in seinem Helm ein virtuelles Menue, in dem er ueber den Datenhandschuh Funktionen ansteuert, beispielsweise um den Roboter zu aktivieren. Im Menuepunkt "Off-line-Programmierung" waehlt der Anwender den Roboter und fuehrt ihn in die gewuenschte Position. Erkennt das System waehrend der Aufzeichnung der Bewegungsdaten die Gefahr einer Kollision mit anderen Objekten, so wird der Ablauf gestoppt.Die VR-Anlage bot den Boehringer-Fachleuten die Moeglichkeit, Vor- und Nachteile des geplanten Abfuellzentrums in Teamsitzungen zu diskutieren. Das Modell wurde mit den CAD-Daten eines Standard-Industrieroboters, dessen Bewegungsablaeufen und mit den Flaschengeometrien programmiert. Stellte sich im Versuch beispielsweise heraus, dass die erforderlichen Taktzeiten aufgrund der Leistungsdaten eines Roboters zu gering waren, konnten umgehend Modifikationen an der Maschine vorgenommen werden. Auch der Platzbedarf fuer die verschiedenen Abfuellzellen liess sich ueber VR kalkulieren. Die Wirtschaftlichkeitsrechnung fuer die neue Fertigungsstrasse ist zur Zeit in Arbeit. Doch zwei Eckdaten kann Ehlers aus dem Gesamtkonzept schon jetzt ableiten: Mit der Realisierung des Projekts innerhalb der naechsten zwei bis drei Jahre wird sich eine Anlagenreduzierung um bis zu 50 Prozent ergeben. Der zweite Kostenvorteil ergibt sich aus den bedeutend geringeren Ruestzeiten der Maschinen beim Umstellen auf ein anderes Produkt. Der Aufwand sinkt von derzeit etwa einem halben Tag auf 15 Minuten. Ehlers geht davon aus, dass der Nutzungsgrad der Fertigung von 40 auf knapp ueber 90 Prozent steigen wird. Hinzu kommen schnellere Reaktionszeiten auf neue Entwicklungen, da die Roboter nur mit den entsprechenden CAD-Daten programmiert werden muessen.Inzwischen wurde die vom IPA anhand der Simulation erstellte Versuchsanlage in Mannheim angeliefert. Das Mini- Abfuellzentrum wird dort fuer kurze Zeit aufgebaut und nochmals getestet. Im April soll der Roboter gemeinsam mit der VR- Workstation des IPA auf der Industriemesse in Hannover debuetieren. Zurueck in Mannheim, wird er kuenftig als Fertigungszelle fuer kleine Chargen und zu Schulungszwecken genutzt.