Die Realisierung ist komplizierter, als es der Entwurf suggeriert

Vorteile bringt AD/Cycle in erster Linie für die Berater

25.10.1991

Mit AD/Cycle hat sich die IBM auf ein hochambitioniertes Vorhaben eingelassen. Inwieweit die damit verbundenen Versprechen Überhaupt einlösbar sind, steht noch in den Sternen. Klar ist nur das Eine: Bei den Beratern wird AD/Cycle in den kommenden Jahren auf jeden Fall für Vollbeschäftigung sorgen.

AD/Cycle ist die Antwort der IBM auf eine konkrete Nachfrage von seiten der Kunden: Die Anwender fordern eine dramatisch verbesserte Produktivität der Anwendungsentwicklung und wünschen sich gleichzeitig eine offene Architektur, die es erlaubt, Werkzeuge verschiedener Software-Anbieter miteinander zu vermischen.

Die IBM interpretierte "dramatisch" als "zehnfach", und sie kam zu dem Schluß, der einzige Weg zu diesem Ziel führe über die automatische Programmcode-Generierung sowie die Tool-Unterstützung der Analyse- und Design-Phasen. Zu diesem Zweck sollten die Entwickler mit Modellen statt mit Programmen arbeiten. Die geforderte "Offenheit" gegenüber unterschiedlichen Methoden hofft die IBM dadurch zu erreichen, daß sie Standards für das Repository definiert, anstatt sich um Normierungen der Methoden selbst zu bemühen.

Die Vorteile des Konzepts

In der zweiten Hälfte der 80er Jahre hatte der CASE-Sektor sehr viel Ähnlichkeit mit dem Markt für DBMS-Produkte in den 70ern. Charakteristisch für diese Periode war eine große Anzahl von Anbietern, die jeweils eigene Architekturansätze verfolgten. Im Laufe der 80er Jahre vollzog der DBMS-Markt jedoch eine Kehrtwendung hin zur Standardisierung. Anlaß war das zeitliche Zusammentreffen der SQL-Produkte von IBM - DB2 und SQL/DS - mit der Präferenz verschiedener Standardisierungsgremien für die Structured Query Language.

AD/Cycle hat gute Chancen, das SQL der CASE-Welt zu werden. Falls die unabhängigen CASE-Tool-Anbieter die verschiedenen Schnittstellen des "Repository Manager" unterstützen, bekommen wir am Ende möglicherweise tatsächlich integrierte CASE-Lösungen mit Plug-in-Tools für die Komponenten des Anwendungsentwicklungs-Zyklus.

In weiser Voraussicht hat sich die IBM entschlossen, nicht eine einzelne CASE-Methode ein- und damit die anderen auszuschließen. Im Gegenteil: Indem sie versucht, lediglich die Speicherrepräsentation der Metadaten zu standardisieren, will sie es möglich machen, daß unterschiedliche Enduser-Werkzeuge auch unterschiedliche Methoden unterstützen.

AD/Cycle ist eine SAA-Applikation und wird demnach auch SAA-kompatible Anwendungen generieren. Wenn die SAA-Produkte einmal voll funktionsfähig und verbreitet sind, dann können die versprochenen Vorteile der Portabilität und Konnektivität in den mit AD/Cycle erzeugten Anwendungen realisiert werden.

Die 90er Jahre sind eine Dekade des Network-Computing und der Dezentralisierung von Ressourcen, die ursprünglich in der zentralen Datenverarbeitung (MIS-Abteilung) angesiedelt waren. Aber in dem Maße, wie die Dezentralisierung vorangetrieben wird, gewinnen Methoden für die Kontrolle dieser Dezentralisierung an Bedeutung. Die MIS-Abteilung der 90er Jahre muß feste Softwareprodukt-Normen einführen, die im gesamten Unternehmen zu befolgen sind. Das Management der verteilten Daten und Datenbanken obliegt der Datenzentrale. Die AD/Cycle-Applikationen sollen dabei helfen, indem sie die verteilten und kooperativ arbeitenden Anwendungen unterstützen.

In gewisser Weise wird AD/ Cycle auch die DOS/VSE-Umgebungen abdecken. Zwar ist VSE keine SAA-Umgebung, und viele SAA-Services und Produkte werden innerhalb der VSE-Welt nicht verfügbar sein. Aber der große Teil der IBM-Kunden, der VSE einsetzt, wird möglicherweise trotzdem die Vorteile von AD/Cycle nutzen können. Der Trick dabei besteht darin, eine VM-Umgebung zu installieren und damit AD/Cycle "zur Entwicklungszeit" zu fahren. Die fertigen Anwendungen können dann in die VSE-Umgebung portiert werden. Mit anderen Worten: Erstelle unter VM, benutze unter VSE!

Wie aus IBM-Kreisen bereits verlautet, dürfte es irgendwann eine AD/Cycle-Version geben, die auf AIX-Plattformen läuft. Dann können IBM-Kunden ihre Anwendungen in einer aus SAA- und AIX-Komponenten zusammengesetzten Umgebung entwickeln und einsetzen. Das IBM-Konzept für verteilte Datenbanken schließt sowohl SAA als auch AIX ein. Also ist wohl davon auszugehen, daß für die CASE-Produkte dasselbe gilt.

Allerdings ist dieser Punkt innerhalb der IBM-Organisation sehr umstritten; es steht nämlich zu befürchten, daß eine hochentwickelte Entwicklungskapazität für kommerzielle Anwendungen auf der RS/6000 zu Lasten der AS/400-Umsätze geht. Folglich will IBM auch noch nicht über ein Auslieferungsdatum für AIX-AD/Cycle spekulieren.

AD/Cycle wurde so ungeduldig erwartet, wie nur wenige IBM-Architekturen zuvor. Seit die ersten Softwareprodukte verfügbar sind, hat nun die Phase der Ausbildung und der Evaluierung eingesetzt. Die Tatsache, daß die Design-Model-Komponente des Repository Manager nicht vollständig definiert ist, wirkt sich dabei als Hemmschuh für die Funktionalität der von den Software-Anbietern zur Verfügung gestellten Repository-Schnittstellen aus.

Aber die Anwender können natürlich nicht warten, bis ein kompletter Werkzeugkasten verfügbar ist. In der Zwischenzeit gibt es viel zu tun. So müssen die Mitarbeiter auf dem Gebiet der Modellbildung geschult, eine unternehmensweite Infrastruktur entwickelt und Produkte wie OS/2 EE, DB2 und der Respository Manager installiert werden. In diesem Zusammenhang muß das MIS-Management einige wichtige Überlegungen anstellen.

1. Die zentrale Rolle von Unternehmens- und Daten-Modellierung: Entscheidende Bedeutung innerhalb der AD/Cycle-Technologie kommt der vorgenannten Entity-Attribute-Relationship-("E/A/R"-)Modellierung zu. Das Enterprise Model der IBM ist in "E/A/R"-Termen definiert. Wenn sie aus der AD/ Cycle-Technologie Vorteile ziehen wollen, müssen sich die Anwender zur zentralen Bedeutung des Datenmodell-Ansatzes und der Datenadministration bekennen.

2. Die Tool-Anbieter werden sich einer Reihe von Veränderungen unterziehen müssen: AD/Cycle verlangt eine Umorientierung von den Tool-Anbietern, die sich an die entsprechenden Standards anpassen wollen. Das wird über einfache Portierungen weit hinausgehen. Vielmehr müssen die Produkte neu entworfen werden, damit sie der CPI-Syntax und der Semantik der Informationsmodelle entsprechen; das ist alles andere als ein triviales Unterfangen.

3. AD/Cycle wird De-facto-Standards für den CASE-Sektor setzen: Ähnlich, wie sich die Architektur des IBM-PC zur Norm für Personal Computer entwickelte, dürfte AD/Cycle wohl künftig definieren was man sich unter einem CASE-Produkt vorzustellen hat. Am Ende gibt es sicher weniger CASE-Produkte als bisher, und diejenigen, die übrig bleiben, werden sich immer ähnlicher. Auf dem PC-Sektor war die Reduzierung der Architekturvielfalt für die Kunden vorteilhaft; sie ermöglichte Clone-Produkte mit breiterer Funktionalität und günstigerem Preis, als die IBM selbst bieten konnte. Möglicherweise wird dasselbe im CASE-Bereich passieren.

4. Die Geschäftspartner der IBM spielen eine entscheidende Rolle: IBM ist im Begriff, eine neue Rolle für ihre Software-Business-Partner (Index Technology, Knowledgeware, Bachman, Systematica, Synon etc.) zu entwerfen. Diese Unternehmen werden einen Status einnehmen, der irgendwo zwischen einem unabhängigen Software-Anbieter und einer IBM-Division angesiedelt ist. Die Tatsache, daß IBM eine Minderheitsbeteiligung an jedem dieser Unternehmen erworben hat, trägt sicher dazu bei, den Arbeitsschwerpunkt dieser "unabhängigen" Software-Anbieter zu fixieren. Weitere Kontrollmöglichkeiten werden über Vertriebspartnerschaften (wie mit Softlab) erprobt.

5. Auswirkungen auf die Runtime-Performance: IBM beschreibt AD/Cycle als eine Entwicklungszeit-Umgebung.

Offen bleibt allerdings die Frage, ob sich Anwendungen, die mit AD/Cycle erstellt wurden, anders verhalten als Anwendungen, die mit Hilfe von traditionelleren Methoden der Analyse und Codierung entstanden. Die Schlüsselfrage ist selbstverständlich, ob der Anwender mit seinen AD/Cycle-Applikationen irgendeinen Performance-Tribut zollen muß.

6. Kein einheitlicher Standard für das Repository-Modell: Ein großer Vorteil der Repositorybasierten Umgebung besteht darin, daß sie Normen für die Informationsspeicherung setzt, an die sich die CASE-Anbieter halten müssen, sofern sie von der durch den Repository-Standard ermöglichten Auswechselbarkeit der Produkte (Plug and Play) profitieren wollen. Zwar wird sich der IBM-Ansatz in der 370-Welt mit Sicherheit durchsetzen. Doch sind bereits andere Repository-Konzepte auf der Bildfläche erschienen, die es zweifelhaft erscheinen lassen, daß die Informationsmodelle der IBM in der CASE-Welt dieselbe Vormachtstellung einnehmen werden wie SQL in der Datenbank-Welt. In entgegengesetzte Richtung marschiert beispielsweise Digital Equipment mit "Atis" und "CDD + " als Basis für ein integriertes CASE in VMS- und Ultrix-Umgebungen. Auch ANSI und ISO bemühen sich um einen Standard für ein Information Resource Directory System (IRDS). Allerdings unterscheiden sich die Bemühungen der beiden Standardisierungsgremien signifikant voneinander und auch von AD/Cycle beziehungsweise Atis.

Die Produktivitätsverbesserung, die AD/Cycle verspricht, ist sehr verlockend. Aber damit dieses Versprechen gehalten werden kann, müssen noch eine Menge Programme und Prozeduren entwickelt und zum Laufen gebracht werden. Die potentiellen Anwender dieser Technologie sind gut beraten, wenn sie sich zumindest die folgenden Punkte vor Augen führen:

- Die Auslieferung der entsprechenden Software - egal, ob sie von IBM oder den unabhängigen Werkzeuganbietern stammt - wird sich in einem mehrjährigen Prozeß vollziehen. Angekündigt ist AD/Cycle derzeit für MVS, AS/400, VM und AIX-Umgebungen. Ausgeliefert wurde die Repository-Manager-Software hingegen erst für die 3090-MVS-DB2-Mainframe-Umgebung. Es gibt derzeit auch noch keine Pläne für einen Repository Manager auf PS/2-Basis. Die Mainframe-Technologie wird also weiterhin eine zentrale Rolle im AD/Cycle-Ansatz spielen.

- IBM hat unzweifelhaft dargelegt, daß AD/Cycle explizit für die Entwicklung neuer Anwendungen ausgelegt ist. Ob überhaupt und - wenn ja - welche Re-Engineering-Kapazitäten für existierende Anwendungen zur Verfügung gestellt werden, ist noch unklar. Mit anderen Worten: Hier haben wir wieder einmal eine neue Technologie, die die Umschulung sämtlicher Mitarbeiter notwendig macht, aber ausschließlich für die Entwicklung neuer Anwendungen von Nutzen ist. Zudem warnen die ersten Anwender davor, sich ohne signifikante DB2-Erfahrung an AD/Cycle-Implementierungen zu wagen. Also: Ziehen Sie AD/Cycle bloß nicht als Ihr erstes DB2-Projekt durch!

- Sie müssen damit rechnen, zunächst eine Menge Geld zu investieren. AD/Cycle verlangt nach sehr teuren PS/2-Systemen. Laut IBM-Empfehlung sind dafür ein Modell 70 mit 12 MB RAM und 115 MB Plattenspeicher sowie OS/2 EE mit Presentation-Database- und Data-Communication-Manager erforderlich. Auf dem Mainframe müssen MVS und DB2 installiert sein. Außerdem sollten die Entwicklungs- und die Ablaufumgebung dem Windowing-Standard der CUA entsprechen.

- Da es in einer AD/Cycle-Umgebung wesentlich weniger Bedarf für Cobol-, CICS- oder IMS-Erfahrung geben wird, benötigen die Mitarbeiter ein nahezu vollständiges Re-Training ausgerichtet auf CASE, Datenmodellierung und "E/A/R"-Ansatz. Diese Umorientierung dürfte alles andere als einfach sein; vor Ablauf von mindestens sechs Monaten ist von der neuen Umgebung kaum nennenswerte Produktivität zu erwarten. AD/Cycle mag enorme Vorteile bringen - aber nur denen, die sich die Hardware, die Software und die Personalkosten leisten können, die damit einhergehen.

- Wie bereits erwähnt, gibt es derzeit keine Pläne für ein Repository auf PS/2-Plattformen. Der AD/Cycle-Ansatz besteht darin, daß die Entwickler ihre Objekte einzeln ausarbeiten, um sie dann von Zeit zu Zeit zentral zu überprüfen. Während DEC mit dem CDD+-Repository eine verteilte Implementierung bietet, hat IBM noch nichts Derartiges angekündigt.

- Wenn Sie Hardware einsetzen, die nicht von IBM stammt, wird Ihnen AD/Cycle übrigens nichts nützen. Sowohl für die Entwicklungs- als auch für die Ausführungsumgebungen sind die derzeitigen AD/Cycle-Spezifikationen "IBM only". Unterstützung für DEC, Unix, Compaq, Apple etc. ist in der heutigen Definition von AD/Cycle nicht vorgesehen. Da aber nur noch wenige Kunden reine IBM-Lösungen fahren, ist es klar, daß hier Alternativen gefragt sind. Möglicherweise werden die unabhängigen Software-Anbieter eine heterogene Ausführungsumgebung unterstützen - in ähnlicher Form, wie Cross-Compiler seit jeher arbeiten. Allerdings sind die wichtigsten Komponenten der Ausführungsumgebung ganz und gar IBM-orientiert. Und in der Vergangenheit war IBM nicht unbedingt gewillt, Alternativ-Anbieter explizit zu unterstützen.

- Die Tatsache, daß OS/2 EE nicht gerade weit verbreitet ist, wird sich mit Sicherheit als Hemmschuh für die AD/Cycle-Akzeptanz auswirken. Auf diese Weise ist AD/Cycle nämlich in der mißlichen Lage, den Anwendern ein neues Betriebssystem aufdrängen zu müssen. Auch das strategische 4GL-Produkt der IBM - CSP - steht bei Untersuchungen bezüglich der Anwenderzufriedenheit stets ziemlich weit unten auf der Liste.

Die geringe CSP-Akzeptanz bietet den auf 4GLs spezialisierten Software-Unternehmen theoretisch die Chance, ihren Marktanteil zu vergrößern. Ganz so einfach wird das allerdings nicht. Schließlich kontrolliert IBM die darunter liegende Architektur. Es ist so gut wie sicher, daß die CSP-Entwickler in Cary, North Carolina, ihren Konkurrenten stets um eine Nasenlänge voraus sein werden.

- Die Gretchenfrage lautet jedoch: Kann ein steckerkompatibles CASE überhaupt funktionieren? Das "Steck-ein-und-werde-kompatibel"-CASE ist ein völlig neues Konzept, das auf unerprobter Technik beruht. Zu fragen ist, ob sich die Integrität des Anwendungsentwicklungs-Prozesses auf dem Repository-Level sichern läßt, wenn viele unabhängige Anbieter auf das Informationsmodell zugreifen und die darin enthaltenen Informationen ändern oder erweitern. Ein zusätzliches Problem dürfte darin bestehen, die Erweiterungsfähigkeit des Repository-Modells zu handhaben, denn es besteht die Möglichkeit, daß sich das Streben der Anbieter nach Alleinstellungsmerkmalen in Nicht-Standard-Erweiterungen des Informationsmodells manifestiert. Sollte dies in größerem Rahmen passieren, so wird der Traum von den Plug-in-CASE-Tools sehr schnell zum Alptraum.

Eines der mit AD/Cycle verbundenen Risiken besteht darin, daß Ihr Konkurrent es einsetzen, die Erstellung seiner neuen Anwendungen erheblich erfolgreicher meistern und sich dadurch Wettbewerbsvorteile verschaffen könnte.

Auf der anderen Seite ist es aber auch ein Wagnis, zum jetzigen Zeitpunkt in AD/Cycle einzusteigen. Sie investieren möglicherweise mehrere Millionen Dollar in Personal, Software und Hardware - nur um herauszufinden, daß Sie keine erwähnenswerten Vorteile gegenüber existierenden, konventionellen Software-Entwicklungsansätzen bekommen.