"Vorstaende muessten begreifen, was die DV leisten koennte"

19.11.1993

Einer schiebt dem anderen den Schwarzen Peter zu: DV-Chefs beklagen sich ueber das fehlende Know-how der Mitarbeiter, das Management nimmt den DV-Leiter in die Kostenzange, der wiederum spricht hinter vorgehaltener Hand den Vorstaenden die Kompetenz ab. Es geht nur langsam voran mit der Modernisierung der Datenverarbeitung. Das augenscheinliche Desinteresse auf Vorstandsebene an den Moeglichkeiten der neuen Technologie sowie die Beharrlichkeit der DV-Profis in bezug auf das Bestehende verwundert nicht. Die gesamte deutsche Wirtschaft zeigt sich im Hinblick auf die Informationstechnik - entgegen ihren offiziellen Beteuerungen - nicht sonderlich innovationsbereit.

Stellenanzeige in der COMPUTERWOCHE Nr. 37 vom 10. September 1993: Der TUEV Suedwest, Filderstadt, sucht mehrere Mitarbeiter fuer die DV-Abteilung, darunter explizit einen Client-Server-Spezialisten. "Sie werden sich bei uns mit der Systemtechnik und Anwendungsentwicklung in Verbindung mit modernen Tools befassen. Wir erwarten mindestens zwei Jahre Praxis auf diesem Arbeitsgebiet und legen Wert auf Erfahrung mit objektorientierten Oberflaechen und Client-Server-Plattformen. Fuer Ihre kuenftige Weiterentwicklung bei uns wird es wichtig sein, dass Sie erfahrene Entwickler anderer Plattformen in Projektteams - im Sinne einer Mentor/Tutor-Funktion - unterstuetzen koennen. Sie arbeiten mit Unix, MS-Windows, Software Development Kits und C sowie C++", beschreibt das Unternehmen die gewuenschten Faehigkeiten.

Dieses Inserat spiegelt deutlich den Know-how-Wandel wider, der derzeit in den DV-Abteilungen stattfindet. Jahrzehntelang beherrschten nur wenige Betriebssysteme und Rechnerarchitekturen die Welt der kommerziellen Unternehmens-DV, allen voran die Grosssysteme der IBM. Das Wissen der Spezialisten konzentrierte sich folglich auf die Anforderungen einer Master-Slave- orientierten Datenverarbeitung mit einer in der Proprietaet der Systeme begruendeten eingeschraenkten Technologie- und Produktvielfalt.

Inzwischen steht den DV-Profis nun eine Vielzahl an Produkten mit unterschiedlicher technologischer Basis zur Verfuegung, die es zu beurteilen und zu verbinden gilt. Ausserdem erfordert eine anwendernahe Informationsverarbeitung Wissen ueber Ablaeufe und Zusammenhaenge im Unternehmen.

Die Anforderungen an die DV-Spezialisten veraendern sich durch diese Entwicklung gravierend. Wie die Bundesanstalt fuer Arbeit in den "Arbeitsmarktbeobachtungen der Fachvermittlung fuer besonders qualifizierte Fach- und Fuehrungskraefte" feststellte, suchten viele Unternehmen bereits 1992 verstaerkt Informatiker, die Zusatzkenntnisse im kommerziell-kaufmaennischen Bereich vorweisen konnten. Einer Stellenmarktanalyse des Control Data Instituts zufolge werden Unix- und MS-DOS-Spezialisten deutlich mehr nachgefragt als MVS-, VM-, VSE- oder BS2000-Profis. Waehrend beispielsweise in 30,4 Prozent aller vom 1. Januar bis zum 31. Maerz 1993 ausgewerteten Stellenanzeigen Unix-Know-how verlangt wurde, betrug der Anteil der Stellenangebote mit MVS-Anforderungen 12,5 Prozent.

Die Diskrepanz zwischen vorhandenen und benoetigten Faehigkeiten gilt in Fachkreisen neben dem Problem der Bewaeltigung technologischer Altlasten als gravierender Engpass auf dem Weg in eine neue Welt der Datenverarbeitung. So bezeichnete in einer Umfrage der CW ein Grossteil der DV-Manager die mangelnde Ausbildung der Mitarbeiter als einen der Widerstaende, die einer schnellen Einfuehrung moderner Client-Server-Architekturen entgegenstuenden. "Viele DV-Spezialisten in den Unternehmen sind mit den neuen Techniken ueberfordert", beobachtet auch Dieter Viefhues, Professor am Institut fuer Systemanalyse und Informatik an der Hochschule Bremerhaven. "Sie sind nicht darauf vorbereitet, mit Fachabteilungen zusammenzuarbeiten. Es kommen neue Programmierkonzepte auf sie zu. Sie muessen sich in DB-Systeme und deren Metasprachen einarbeiten, sich mit SQL-Systemen in der jeweiligen Zielsprache auseinandersetzen sowie Schnittstellen- Programmierung beherrschen. Das erfordert ein voellig neues Denken im Sinne von Vernetzung und so weiter."

Zwischen den Problemen der DV-Abteilungen und den Schwierigkeiten, die Deutschland als Industrienation derzeit bewaeltigen muss, lassen sich Parallelen ziehen. "Die Leute haben deshalb ein Problem, weil sie in diesem kollektiven Freizeitpark gross geworden sind und nicht den Willen aufbringen, sich ernsthaft um neue Dinge zu kuemmern" - diese an die DVer gerichtete Kritik des Muenchner Client-Server-Beraters Richard Nussdorfer von der Agro-Pro GmbH laesst sich auf die gesamte Nation ummuenzen. Bei einer Ursachenanalyse der derzeitigen Konjunkturschwaeche wird naemlich deutlich, dass das Know-how-Potential der Bundesrepublik zuwenig bei den neuen Technologien liegt. Waehrend die DV-Abteilungen nach wie vor im Saft der IBM- und Siemens-Mainframe-Welten schmoren, schwimmt die deutsche Industrie immer noch auf der vierten Kondratieffwelle Petrochemie und Automobil, ohne sich auf den beginnenden naechsten Konjunkturzyklus vorzubereiten, der durch Informationstechnik gepraegt wird. Abgesehen von SNI, SAP und der Software AG sind in der IT-Branche weltweit keine bemerkenswerten deutschen Hersteller vertreten. Die USA und auch Japan sind der Bundesrepublik auf diesem Sektor deutlich voraus.

Auf dieses Defizit machte kuerzlich auch Forschungsminister Paul Krueger aufmerksam, der nach Angaben der "Sueddeutschen Zeitung" eine nachlassende Innovationsdynamik Deutschlands gegenueber den USA und Japan registrierte. Deutschland sei zwar mit einer wettbewerbsfaehigen Palette F&E-intensiver Gueter auf dem Weltmarkt vertreten, bei Mikroelektronik-basierten Produkten wie Computern, Nachrichtentechnik, Bueromaschinen und Telekommunikations-Equipment verschlechtere sich die Handelsposition aber "mit zunehmender Rate". Der Know-how-Rueckstand in bezug auf moderne Informationstechnologie betrifft folglich nicht nur die DV- Abteilungen. Vielmehr laesst sich dieser Mangel als Konsequenz einer bisher nicht informationstechnisch ausgerichteten Wirtschaft werten.

"Die wachsende Bedeutung der Anwendungsentwicklung und die gerade stattfindende, enorme technische Evolution sowie die gegenwaertigen markt- und wirtschaftspolitischen Probleme sind Trends, die sich gegenseitig aufschaukeln", schreibt Frank Miska, Geschaeftsfuehrer der SM&P-Unternehmensberatung, Bergisch-Gladbach (siehe CW Nr. 45 vom 5. November 1993, Seite 8: "Wenn Informatikkosten hoeher sind als ...."). Unternehmen, die weiterhin erfolgreich am Markt agieren wollen, werden deshalb um eine staerkere Nutzung der informationstechnischen Potentiale nicht herumkommen.

"Erfolgreiche Unternehmen sind sich dieser Veraenderungsprozesse bewusst und reorganisieren von Grund auf ihre IT-Infrastruktur neu. Andere Firmen veraendern nur seitens des Managements ihren Erwartungshorizont - im Sinne einer bequemen Anpassung -, ohne gleichzeitig fuer Veraenderungen im Informatik-Management Sorge zu tragen", so Miska weiter. "Es ist davon auszugehen, dass sich diese Firmen mittelfristig - wenn nicht sogar schon kurzfristig - ein vermeidbares Konfliktpotential aufbauen." Soll die zentrale DV ihrer veraenderten Funktion in einer neuen IT-Landschaft gerecht werden, muss sie sich grundlegend wandeln. Auch die Position der DV/Org.-Leitung im Unternehmen wird sich aendern. Dennis Jones, Information Manager bei der Federal Express Corp. in Memphis, beschreibt die neuen Aufgaben des IT-Managements so: "Traditionell wurde die Rolle des DV/Org.-Chefs dahingehend definiert, dass er auf Benutzeranfragen reagiert und das Ziel verfolgt, die vom Anwender formulierten Beduerfnisse zu befriedigen.

Diese Vorstellung ist ueberholt. Wir koennen uns nicht zurueck- lehnen und auf Anfragen warten. Wir muessen aktiv werden und vor Ort bei unseren Kunden so viel ueber deren Taetigkeit lernen, dass wir in der Lage sind, Verbesserungsmoeglichkeiten zu erkennen und anzuregen, noch bevor der Anwender dies tut."

Statt einer DV-Zuteilungspolitik aus einer Machtposition heraus ist kuenftig also Service und Dienstleistung gefragt. Darauf weist auch Rainer Seidel, Leiter Organisation, Projekt-Management und Software-Entwicklung bei der Unternehmensgruppe Schieder-Moebel, Schieder-Schwallenberg, (siehe CW Nr. 38 vom 17. September 1993, Seite 38: "Vom Monopol zur Dienstleistung...") in seinem Beitrag hin: "Fuer den DV/Org.-Bereich ergibt sich die Aufgabe, die unverzichtbare Gemeinsamkeit im Unternehmen aus freien Stuecken und durch ueberzeugendes Verhalten herbeizufuehren."

Die vielfach noch existierende, ueberalterte Unternehmens-DV traegt in der Regel nicht ausreichend zur Reduzierung der Kosten, zur Verbesserung der Qualitaet des Firmenprodukts und zur Erreichung hoeherer Marktanteile bei. Fuer Information Manager Jones steht deshalb fest: "Die Client-Server-Technologie ist unverzichtbar.

Die Moeglichkeiten im Hinblick auf Grafikverarbeitung und die gemeinsame Nutzung von Informationen sind so ausserordentlich gross, dass wir sie den Benutzern nicht laenger vorenthalten duerfen. Das characterbasierte Datenverarbeitungsmodell hat den Unternehmen gute Dienste erwiesen, doch seine Zeit ist abgelaufen."

Diesen Paradigmenwechsel muss das DV-Management jetzt vorantreiben. "Der Siegeszug der PCs bleibt keiner Firma erspart. Ich kann es mir als DV-Leiter heute nicht mehr leisten, mich danebenzustellen", konstatiert Franz Dietl, Bereichsleiter Datenverarbeitung bei der Muenchner WWK Versicherung. Jones schlaegt in die gleiche Kerbe: "Wir koennen bei der Client-Server-Einfuehrung entweder eine Fuehrungsrolle uebernehmen oder das Feld anderen ueberlassen. Ob es uns gefaellt oder nicht, die Benutzer draengen uns schnell aus unserem Glashaus heraus. Wir stehen vor einer grundlegenden Entscheidung: Wir koennen entweder unsere IT- Dienstleistungen verbessern oder aber zusehen, wie die, die nach uns kommen, diese Chance nutzen."

Dennoch vermuten sowohl Berater als auch Schulungsleiter und DV- Manager hinter so manchem verlautbarten Client-Server-Engagement mehr Lippenbekenntnisse als echte Vorsaetze. Waehrend ueber das fehlende Know-how des Personals als Bremse bei der Einfuehrung einer modernen Informationsverarbeitung offen diskutiert wird, findet Kritik an den DV-Verantwortlichen meist hinter vorgehaltener Hand statt.

"Proprietaere Altlasten und alte Seilschaften" macht ein DV-Profi aus der Schweiz fuer die Innovationsverhinderung im DV-Bereich verantwortlich. Dass er damit nicht den einfachen Entwickler, Operator oder Systemanalytiker meint, ist offenkundig.

Auch Hochschullehrer Viefhues ist in bezug auf das Engagement der DV-Leiter skeptisch. "Es gibt ganz wenige, die eine Vision, Mut sowie das entsprechende Wissen haben." Ein fuer Informatikstrategie und -planung verantwortlicher Manager sieht in manchem DV-Chef einen Problemfall. "Es sind vor allem die Mainframe-Freaks, die sich in der neuen Welt nicht auskennen und deshalb den Wandel verhindern." In einer heterogenen DV-Welt, die aus Servern und Clients besteht, kann eine Produktauswahl nach dem oft zitierten Grundsatz "Mit der IBM bin ich immer auf der richtigen Seite" nicht im Sinne des Unternehmens sein.

Auch der Muenchner Berater Nussdorfer schaetzt das Beharrungsvermoegen der DV-Leiter im allgemeinen groesser ein als ihre Bereitschaft zur Innovation. Sie bilden in diesem Punkt jedoch keine branchenbedingte Ausnahme. "Deutschland lebt geistig noch weiterhin im Industriezeitalter.

"Hierzulande herrscht eine Status-quo-Mentalitaet, die Gesellschaft ist verkrustet, eine Unzahl kleiner und grosser Interessenorganisationen stemmt sich mit aller Macht gegen jede Veraenderung", schreibt Konrad Seitz, deutscher Botschafter in Italien und Autor des Buches "Die japanisch-amerikanische Herausforderung" in der "Zeit".

"Diese Situation ist der grundlegende deutsche Standortnachteil fuer Investitionen in den zukunftstraechtigen Hochtechnologien." Die Computerprofis trifft aber nicht die alleinige Schuld, dass die DV den Anspruch, der an sie gestellt wird, derzeit noch nicht erfuellt. So erhob die Unternehmensfuehrung offensichtlich in Zeiten des konjukturellen Hochs vielerorts keinen Einspruch dagegen, dass sich die DV diesen Brahmanen-Status schuf, der das von Schieder- Mann Seidel kritisierte "Festhalten an bestehenden Machtpotentialen" erst ermoeglichte.

Heute uebt das gehobene Management zwar Druck auf die DV- Abteilungen aus. Damit wird jedoch primaer das Ziel verfolgt, die nicht dem Nutzen entsprechenden Kosten zu reduzieren.

Auch der Trend zu Standardsoftware a la SAP dient nach Branchenmeinung vielfach allein dem Versuch des Cost-cuttings. Wie seinem CW-Beitrag zu entnehmen ist, machte der SM&P-Berater Miska in diesem Zusammenhang allerdings die Erfahrung, dass zum Beispiel Einzelmassnahmen wie die Verwendung von Standardsoftware mit zirka 60 Prozent Anpassungsaufwand sowie der Einsatz hochintegrierter, komplexer Softwareloesungen nicht zum gewuenschten Erfolg fuehrt.

Dass bei den Vorstaenden der Anspruch besteht, durch eine Runderneuerung der DV alle Moeglichkeiten gezielt einzusetzen, die die moderne Informationstechnik zur Verbesserung der Wettbewerbsfaehigkeit des Unternehmens bietet - was zu voellig anders gelager- ten Kosten-Nutzen-Betrachtungen fuehrt -, ist nur selten zu erkennen. Ansaetze sind zwar vorhanden, doch wie bei Versicherungen in bezug auf die DV-technische Unterstuetzung des Aussendiensts meist nur punktuell und branchenbedingt. Der Grund fuer das augenscheinliche Desinteresse des Topmanagements ist in erster Linie in Know-how-Defiziten zu vermuten. Anders als in den USA sind IS-Manager auf Vorstandsebene beziehungsweise Vorstaende mit informationstechnischem Background in Deutsch-land noch nicht an der Tagesordnung. Leider, wie der Client-Server-Spezialist Nussdorfer meint: "Es waere aus meiner Sicht erforderlich. Ein Vorstand, der begreift, was die DV leisten koennte, wuerde darin investieren, um damit im Rest des Unternehmens Geld zu sparen. Das verstehen jedoch die wenigsten."

Angesichts der Notwendigkeit einer wettbewerbsfaehigen Positionierung im Weltmarkt duerften die deutschen Unternehmen in bezug auf die hauseigene DV um Investition statt Deinvestition nicht herumkommen. Seidel weist auf den Ernst der Lage hin: "Es wird sich in den kommenden Jahren kein Unternehmen leisten koennen, in der Entwicklung der neuen Informationstechnologie des Hauses Umwege in Kauf zu nehmen.

Ein Rueckstand von ein bis zwei Jahren wird in Zukunft nicht mehr aufzuholen sein. Die Wettbewerbsfaehigkeit des Unternehmens - zu einem wesentlichen Teil durch die Qualitaet der Organisation und Information beeinflusst - wird nachhaltig unter einem solchen Rueckstand leiden."

Stefanie Schneider