Strategisches Informations-Management/Marktchancen erwachsen aus dem Verständnis des Nachfrageprozesses

Von der Produktivitätssteigerung zum Demand-Chain-Management

24.11.2000
Bei fortschrittlichen E-Business-Strategien steht nicht die Effizienz von Prozessen im Mittelpunkt, sondern die Effektivität von Kundenkontakten. Mit gezielter Einflussnahme auf die Kundenbeziehungen ("Demand-Chain-Management") erhalten die Unternehmen eine neue Chance, sich vom Wettbewerb zu differenzieren. Von Jürgen Herbott*

Der Einsatz der Informations- und Kommunikationstechnik in den Unternehmen drehte sich bisher um das Motto: Effizienz steigern! Computergesteuerte Maschinen rationalisieren die Produktion; ERP-Systeme erfassen zentral alle Geschäftsprozesse und schaffen so die Grundlagen für einen optimalen Einsatz aller Mittel; das Internet macht die Kommunikation mit den Geschäftspartnern schneller und kostengünstiger. Ob interne Geschäftsprozesse oder Abläufe auf der Seite der Supply Chain - in aller Regel ging es bisher vor allem um die Effizienz interner und produktionsbezogener Prozesse.

Die meisten Firmen unternehmen mit dem IT-Einsatz also lediglich den Versuch, Wachstum durch Produktivitätsgewinne zu generieren. Doch für solche Business-Philosophien ist das Ende der Fahnenstange längst erreicht: Die Chancen, eine erhöhte Produktivität in Wettbewerbsvorteile umzusetzen, sinken. Leistungsmerkmale und Qualität von Produkten, Preis und Verfügbarkeit taugen in den globalisierten und transparenten Märkten der Internet-Ära immer weniger dazu, ein Unternehmen von seinen Mitbewerbern abzuheben. Die Qualität vieler Produkte ist kaum noch zu steigern, Innovationen sind schnell kopiert, Preiskonkurrenz frisst die Produktivitätsgewinne auf.

Immer mehr setzt sich heute die Erkenntnis durch, dass die Marktchancen eines Unternehmens vorrangig davon abhängen, wie gut es den Nachfrageprozess versteht. Die Wirtschaft verlagert ihr Bemühen, sich vom Wettbewerb zu differenzieren, auf den Vertrieb und die gezielte Einflussnahme auf Kundenbeziehungen.

So findet sich mittlerweile kaum noch ein Strategiepapier, das nicht mit modernen Versionen von "Der Kunde ist König" aufwartet. Längst eskaliert der Wettlauf um die Aufmerksamkeit der Verbraucher. Nicht immer mit Erfolg, wie das Beispiel der US-amerikanischen Kreditkartenanbieter belegt: Sie steigerten die Anzahl ihrer Mailings von 916 Millionen Aussendungen im Jahr 1992 auf 3,45 Milliarden 1998. Doch im selben Zeitraum sank die Rücklaufquote von 2,8 auf 1,2 Prozent.

Auch nicht wenige hoffnungsvoll gestartete Dotcoms haben sich im Kampf um die Augäpfel der Verbraucher mit millionenschweren Werbekampagnen übernommen. Offenbar verfehlen nicht personalisierte Instrumente meist ihren Zweck.

Im Zeichen des "E" wird der Verbraucher immer anspruchsvoller. Ob per Mausklick oder mit einem gebührenfreien Anruf - noch nie war es für ihn so einfach, zu einem Konkurrenten abzuwandern. Binnen Sekunden vergleicht er Preise, Qualität und Leistungsmerkmale, ohne seinen Schreibtisch zu verlassen.

Zudem sind die Kunden immer schwieriger zu verstehen. War die Beziehung zu ihnen bis vor wenigen Jahren relativ einfach und überschaubar, schaffen die neuen Kommunikationstechniken heute Unübersichtlichkeit.

Dies veranschaulicht das Beispiel des Automobilherstellers Ford: Vor nicht allzu langer Zeit stand er mit seinen Kunden lediglich über ein weltweites Netz autorisierter Händler in Kontakt. Mittlerweile kommuniziert er mit den Verbrauchern über eine MultiChannel-Struktur: Er betreibt Call Center und Serviceniederlassungen, vermarktet seine Produkte via Internet und beteiligt sich an virtuellen Marktplätzen.

Das Internet ersetzt bestehende Geschäftskanäle nicht, sondern ergänzt sie um eine Vielzahl zusätzlicher Möglichkeiten: Produkt- und Serviceinformationen auf Websites, Online-Shops, Direkt-Marketing via E-Mail, Virtual Private Networks, Teilnahme an Online-Auktionen. Selbst der Web-Buchladen Amazon.com agiert nicht als reiner Internet-Anbieter, sondern betreibt in den USA zwei große Call Center, die Verbraucher telefonisch über Produkte und Bestellvorgänge informieren. In Kürze werden die Kunden auch die Möglichkeit haben, Bücher telefonisch zu ordern. "Sprache ist ein ausgesprochen wirksamer Weg, um mit Kunden, die unterwegs sind, im Dialog zu bleiben", erläutert CEO Jeffrey Bezos.

Moderne Verbraucher nutzen diese Chance. Sie wechseln willkürlich zwischen den einzelnen Channels: vom Internet zum Call Center, zum Ladengeschäft. Der amerikanische Online-Broker Charles Schwab beispielsweise erzielt 60 Prozent seiner Umsätze via Internet. Trotzdem nutzen 95 Prozent der 5,5 Millionen Kunden mehrere Kanäle, um Transaktionen abzuwickeln.

Die Herausforderung dabei: Auch Channel-Hopper verlangen eine konsistente Kommunikation mit dem Unternehmen. Verbraucher erwarten heute, dass der Anbieter und seine Mitarbeiter sie und ihre Kundengeschichte kennen.

Aber das Internet schafft nicht nur Komplexität, sondern bietet auch neue Möglichkeiten zu deren Beherrschung: eine Infrastruktur und passende Applikationen, um mit kundenorientierter Präzision zu operieren. Im Rahmen umfassender E-Business-Offensiven sammeln die Unternehmen mehr, aktuellere und detailliertere Kundeninformationen als jemals zuvor. Mit Olap-Werkzeugen (Olap = Online Analytical Processing) und Data-Mining-Tools lassen sich aus Verbraucherdaten aussagekräftige Profile erstellen, indem bestehende und potenzielle Kunden in Gruppen mit ähnlichen Präferenzen eingeteilt werden. Diese Profile dienen als Basis für zielgruppengenaue Marketing-Aktivitäten.

Andere Softwaresysteme binden alle Kommunikationskanäle zum Multi-Channel zusammen. Hinzu kommen neue Möglichkeiten, Web-Inhalte zu personalisieren. Das ermöglicht den Unternehmen ein weitgehend automatisiertes One-to-One-Marketing.

Vorausschauende Firmen nutzen diese Techniken, um den Fokus ihrer Strategien konsequent zu verlagern: von der Effizienz interner und produktionsorientierter Prozesse hin zur effektiven Generierung und Erfüllung von Nachfrage. Mit dem Ziel, die Kunden zufriedener zu machen, betreiben sie nicht mehr Supply-, sondern Demand-Chain-Management. Schließlich kostet es fünf- bis zehnmal so viel, einen neuen Kunden zu gewinnen, als einen bestehenden zu halten. Nach einer branchenübergreifenden Studie des Beratungsunternehmens Bain & Co. führt bereits eine um fünf Prozent verbesserte Kundenbindung zu einer verdoppelten Profitabilität eines Unternehmens.

In den Geburtswehen der Internet-Revolution haben viele Unternehmen geglaubt, es reiche, eine Website aufzubauen. Darauf, sie mit anderen Geschäftskanälen und -prozessen zu verzahnen, glaubten sie verzichten zu können. Doch die mangelnde Koordination hat vielfach zu negativen Kauferfahrungen der Kunden geführt.

Dazu ein Beispiel: Im Vorweihnachtsgeschäft des vergangenen Jahres machte ein amerikanischer Online-CD-Shop seine Kunden per E-Mail auf eine Sonderaktion aufmerksam: Schnellbesteller sollten ohne Zusatzkosten in den Genuss eines Expressversands kommen. Wer daraufhin orderte, erhielt jedoch Bestätigungs-Mails, die als Lieferart den herkömmlichen Versand angaben. Viele irritierte Kunden fragten per E-Mail nach. Sie erhielten eine Standardantwort, die auf den telefonischen Kundendienst verwies, dessen Mitarbeiter allerdings von der Sonderaktion ebenso wenig wussten wie über den Status der Lieferungen.

Ein solcher "Service" kann teuer werden: Laut einer aktuellen Studie des Beratungsunternehmen KPMG erhöhen ungelöste Beschwerdefälle die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kunde zur Konkurrenz abwandert. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt eine Untersuchung des Strategic Planning Institute. Danach erzielen Unternehmen mit schlechtem Service lediglich eine Umsatzrendite von einem Prozent, während diese bei Unternehmen mit gutem Kundendienst bei zwölf Prozent liegt.

Wie Demand-Chain-Management funktioniert, zeigt der US-amerikanischen Automobilhersteller Saturn: Die E-Business-Strategie des Unternehmens ist nicht Internet-fixiert, sondern kundenorientiert. Saturn hat ein umfassendes Internet-basiertes Informationssystem aufgebaut. Es verbindet die 400 Handelsniederlassungen untereinander sowie mit den Kunden und Geschäftspartnern. Neben den 15000 Vertriebsmitarbeitern greifen auch die Kunden via Internet auf das System zu, um sich in Echtzeit über die Angebote zu informieren. So geben sie dem Konzern präzise und aktuelle Informationen zu ihren Bedürfnissen und Präferenzen.

Das E-Business-System von Saturn synchronisiert alle Kontaktpunkte zwischen Anbieter und Verbrauchern - angefangen von Verkaufsräumen über Werkstätten und Call Center bis zur Unternehmens-Website. Mit jeder Interaktion erfasst Saturn zusätzliche Informationen, um sie in Produktverbesserungen sowie Vertriebs- und Vermarktungskampagnen einfließen zu lassen.

Ein echtes Demand-Chain-Management umfasst alle kundenbezogenen Aktivitäten eines Unternehmens: Verkauf, Service und Marketing. Nachfrageorientierte E-Business-Lösungen ermöglichen den Mitarbeitern in Vertrieb und Kundendienst, den Status und das Profil aller Kunden in Echtzeit zu prüfen. Beispielsweise kann sich ein Außendienstmitarbeiter mit einem Laptop in die Datenbank seines Unternehmens einwählen, bevor er einen Kunden besucht. So erfährt er, dass dieser am selben Tag 15 Minuten auf der Website seiner Firma verbracht hat, um sich Informationen zu einem neuen Produkt anzusehen.

Gießkannentechnikist passéÜber die Produktdatenbank holt sich der Außendienstler Details und aktuelle Verfügbarkeitsdaten zu diesem Produkt. Auf Grundlage dieses Wissens bereitet er anschließend eine maßgeschneiderte Präsentation vor. Auf dieselbe Weise vermeidet er auch, dem Kunden zusätzliche Waren oder Dienstleistungen anzubieten, bei denen das Supportproblem noch nicht gelöst ist.

Ähnliches gilt für das Marketing. Eine umfassende und aktuelle Datenbasis ermöglicht zielgenaue Kampagnen.

Das Demand-Chain-Management dient also nicht dazu, die Effizienz, sondern die Effektivität der Mitarbeiter mit Kundenkontakt zu steigern. Es ermöglicht den Unternehmen, sich konsequent auf Kontakte mit jenen Kunden zu konzentrieren, die ein hohes Gewinnpotenzial aufweisen. Die wenig profitable Gießkannentechnik gehört der Vergangenheit an.

*Jürgen Herbott ist Geschäftsführer der Siebel Systems Deutschland GmbH, die sich einen Namen als Anbieter von Software für das Customer-Relationship-Management gemacht hat.

Abb: Moderne Verbraucher wechseln willkürlich die Kommunikationskanäle zum Anbieter. Quelle: Siebel