VoIP zwischen Mythos und Realität

13.02.2004
Von 
Jürgen Hill ist Chefreporter Future Technologies bei der COMPUTERWOCHE. Thematisch befasst sich der studierte Diplom-Journalist und Informatiker derzeit mit aktuellen IT-Trendthemen wie KI, Quantencomputing, Digital Twins, IoT, Digitalisierung etc. Zudem verfügt er über einen langjährigen Background im Bereich Communications mit all seinen Facetten (TK, Mobile, LAN, WAN). 

Netz-Upgrade verteuert Projekte

Diese flexible Kombination von TK- und IT-Umgebung, beispielsweise bei CRM-Systemen, war denn auch für die britische Abbey Bank die Motivation, gemeinsam mit BT ein IP-VPN mit integrierter Telefonie aufzusetzen. Die Vernetzung ihrer 750 Zweigstellen kostete die Banker allerdings 120 Millionen Euro, da es, wie auch andernorts, mit der Anschaffung einer VoIP-Anlage nicht getan war.

Nach Erkenntnissen des Kölner Systemintegrators Algol oder der deutschen Niederlassung von Extreme Networks in Dornach sind in Deutschland nur drei bis fünf Prozent der Unternehmsnetze aus dem Stand für Voice over IP geeignet. "Auf dem Papier rechnet sich eine VoIP-Anlage nach anderthalb Jahren", führt Guido Nickenig, Education Manager bei Algol aus, "doch wenn das Netz ausgebaut werden muss, kakulieren wir mit über vier Jahren bis zur Rentabilität." Auch daran dürfte es liegen, dass nach Herstellererfahrungen zwar 80 Prozent der deutschen Anwender Interesse an VoIP zeigen, jedoch nur zehn Prozent letztlich die Migration und die damit verbundene Aufrüstung wagen.

Windows als Störfaktor

Ein Netz-Upgrade ist meist deshalb erforderlich, weil die Datennetze nicht mit der aus der TK-Welt gewohnten Verfügbarkeit von 99,9999 Prozent aufwarten, sondern in der Theorie 98 Prozent bieten und in der Praxis meist nur 95 Prozent erreichen. Die Forderung nach einem absolut stabilen Netz scheitert "meist bereits am PC-Betriebssystem Windows, wenn eine der zahlreichen Virenepidemien den Datendurchsatz senkt und damit keine VoIP-Telefonate mehr möglich sind", so Marlo Tietze, Key Account Manager Voice bei 3Com. Deshalb sollte ein VoIP-Aspirant auf die Absicherung seines Netzes höchsten Wert legen. Ferner empfiehlt sich eine geswitchte Infrastruktur, da bereits ein einziger Hub die Telefonie stören kann. Genügt ferner bei einer klassischen TK-Anlage eine kleinere unterbrechungsfreie Stromversorgung (USV) im Keller für zwei bis drei Stunden Notbetrieb, erfordert VoIP einen deutlich höheren Aufwand. Neben einer leistungsfähigeren USV müssen alle aktiven Netzkomponenten mit Power over Ethernet aufgestockt werden, um im Notfall ein Telefonat zu erlauben.

Alle diese Klippen umschiffte Gabriela Benz, Direktorin des im November 2003 eröffneten Wiener Luxushotels "Le Méridien", indem sie eine klassische TK-Anlage von Tenovis wählte. Und dies, obwohl sich das Hotel mit dem Motto "Art + Tech" die Symbiose von moderner Technik und Lifestyle auf seine Fahnen geschrieben hat. Für die traditionelle Lösung sprachen unter anderem finanzielle Aspekte, denn die TK-Anlage mit rund 900 Endgeräten kostete Benz rund 60.000 Euro weniger als eine vergleichbare VoIP-Infrastruktur. Dabei musste das Le Méridien noch nicht einmal auf die bei VoIP viel gerühmte Koppelung von Applikationen und Telekommunikation verzichten. Gemeinsam mit Tenovis entwickelten die Wiener Schnittstellen zu ihrem CRM-System sowie der hotelspezifischen Software "Hotelexpert". Gästewünsche werden beispielsweise auf diese Weise per SMS auf die schnurlosen DECT-Telefone der Mitarbeiter übermittelt. Hat einer von diesen den Auftrag erledigt, quittiert er das mit einem vierstelligen Code, den er per SMS an das Hotelsystem zurücksendet.

Auch wenn unter Kostenaspekten heute noch vieles für die klassische Telefonie spricht, kann für Unternehmen der Einstieg in VoIP laut Katharina Grimme, Senior Analyst bei Ovum, dennoch interessant sein: "Denn eine VoIP-Anlage lässt sich wie die IT auch an einen Dienstleister outsourcen."