Personalberater sehen eine "Revolution der Arbeitswelt"

Virtuelle Teams lösen feste Arbeitsverhältnisse ab

20.06.1997

Virtuell arbeiten - so lautet die neue Zauberformel auf dem Arbeitsmarkt der Informationstechnologie. Personalberater erwarten gar "eine Revolution der Arbeitswelt", in der Vollzeitarbeiter massenhaft durch Teilzeitkräfte abgelöst werden und "elektronische Wanderarbeiter" an die Stelle von Stammbelegschaften großer Unternehmen treten. Doch der Ansatz des virtuellen Unternehmens geht weit über bloße Telearbeit hinaus.

Das "virtuelle Unternehmen", so der von der amerikanischen Technologieschmiede Massachusetts Institute of Technology (MIT) geprägte Name, ist ein sich ständig mit den Aufgaben und Markterfordernissen bildendes und wieder auflösendes Beziehungsgeflecht von Unternehmen unterschiedlichen Typs. Unabhängige Spezialisten schließen sich zeitweise und projektbezogen zusammen, um gemeinsam Produkte als unmittelbare Reaktion auf eine Nachfrage bereitzustellen.

Schon heute gibt es eine ganze Reihe großer Hersteller teilweise weltberühmter Markenartikel - von Computern über Spielzeug bis hin zu Turnschuhen -, die ihre Produkte gar nicht mehr selbst fertigen. Statt einer eigenen Produktion steuern und kontrollieren kleine, hochqualifizierte Kernbelegschaften die Vergabe von Lizenzen, Know-how und Markenzeichen an Auftragsproduzenten in aller Welt. Ein gutes Beispiel ist nach Ansicht von Arbeitsmarktexperten die Informatikbranche. Hier zeigt sich schon heute, daß hochflexible Verbünde bürokratischen Industriegiganten zunehmend den Rang ablaufen, weil deren Haupthindernis ihre eigene Größe ist.

Für Marc Ott, Geschäftsführer und Partner beim Beratungsunternehmen Diebold, gehört das Konzept der "virtuellen Unternehmung" zu den zukunftsweisenden Ansätzen: "Firmen werden sich mit anderen zu einem Netzwerk zusammenschließen, um einzelne Aufträge zu erfüllen. Sie werden jeweils nur die Produktionsschritte anbieten, die sie am besten beherrschen." So könne es für eine Firma von Vorteil sein, ihre Produkte von verschiedenen Zulieferern herstellen und vertreiben zu lassen, während die eigenen Mitarbeiter vorwiegend für Design und Markenpflege eingesetzt würden. Der Zweck eines solchen Zusammenschlusses sei immer, zusätzliche Geschäftschancen auszunutzen, die das einzelne "Netzwerkunternehmen" allein nicht wahrnehmen könne.

Der Berater ist überzeugt, daß Kommunikationsfähigkeit, Vertrauen und Offenheit die wichtigsten Voraussetzungen sind, die ein Unternehmen mitbringen muß, wenn es sich in virtuelle Organisationsformen einbinden will:

"Sich gegenseitig in die Karten schauen lassen, das fällt vielen Unternehmen sicher nicht leicht - ohne Vertrauen geht es aber nicht." Von mindestens ebenso großer Bedeutung seien indes die informationstechnischen Systeme, die sich schnell und flexibel an neue Marktsituationen anpassen lassen und reibungsfreie Kommunikation ermöglichen müßten - auch mit kurzfristig neu hinzukommenden Partnern. Für Ott steht fest, daß nur aufgrund der Weiterentwicklungen in der Informationstechnik die virtuellen Organisationsformen überhaupt möglich wurden. Folgende Faktoren hält er für besonders wichtig:

- die Verfügbarkeit weltweiter Kommunikationsnetze mit hoher Leistung (Datenautobahnen), die zu relativ niedrigen Kosten genutzt werden können;

- eine deutliche Ausweitung des Angebots an Standard-Anwendungssoftware mit einfachen Bedienungsprozeduren, die eine Abkehr von den kaum mehr beherrschbaren, zunehmend komplexer werdenden und damit nicht mehr flexibel anpaßbaren Eigenentwicklungen erlauben;

- Multimedia-Anwendungen, die durch Verknüpfung unterschiedlicher Informationsquellen, Anwendungsfelder und Technologien neue Formen des Informationsaustausches erlauben sowie

- offene, verteilte Systemarchitekturen zur Erhöhung der Anpassungsfähigkeit der Informationssysteme an sich ändernde Anforderungen.

Ein Risiko der virtuellen Organisationsform sieht Ott darin, daß Informationen und Know-how transferiert werden: "Das ist kein Problem, solange die Beziehung stabil ist. Partner von heute können aber wieder erbitterte Wettbewerber werden. Deshalb kommt der Auswahl der Partner die bei weitem größte Bedeutung zu."

Die Software-Industrie interessiert sich mittlerweile für die virtuelle Organisationsform. So befaßt sich eine Gruppe von zwölf Unternehmen, zusammengeschlossen in der Gesellschaft zur Förderung der mittelständischen Software-Industrie in Berlin und Brandenburg e.V. (SIBB), derzeit mit der Entwicklung eines virtuellen Softwarehauses. Dadurch sollen die Voraussetzungen geschaffen werden, gemeinsam auch größere Projekte abzuwickeln. Beteiligt sind Unternehmen aus dem Raum Berlin-Brandenburg. Dazu gehören unter anderem die Condat GmbH, die Index GmbH, das Fraunhofer-Institut für Software- und Systemtechnik (ISST), das IWB Institut für Wirtschaftsberatung GbR, PSI, die Teles AG und die TU Berlin.

Das virtuelle Softwarehaus soll die Unternehmen unterstützen, indem es Informationen für eventuelle Kooperationen verfügbar macht, Know-how über Organisation und Vertragsgestaltung bereitstellt und die Kommunikation aller Beteiligten technisch unterstützt. Dienste wie Application Sharing, Video-Conferen- cing und textbasiertes Conferen- cing sowie der Zugriff auf gemeinsame Dokumente werden in Arbeitsbereichen auf einem WWW-Server integriert. Projektkonsortien erhalten für ihre Kooperation jeweils einen geschützten Arbeitsbereich.

Erfahrungen mit virtuellen Unternehmensformen sammeln derzeit auch Multimedia-Unternehmen im Projekt "Trevius" der Berliner DeTeBerkom GmbH. Wissenschaftlich begleitet wird das Vorhaben von Forschern des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart. Das Erprobungsfeld umfaßt rund 50 kleine und mittelständische Multimedia-Dienstleister, zehn Einzelarbeitsplätze für freie Mitarbeiter sowie fünf Großunternehmen, darunter sowohl Kunden als auch Lieferanten der kleinen und mittelständischen Unternehmen.

"Bei unserem Projekt handelt es sich um zeitlich befristete Zusammenschlüsse unabhängiger Unternehmen, Zulieferer und Kunden, die gemeinsam einen Kundenauftrag erfüllen wollen", erklärt Josephine Hofmann vom Fraunhofer-Institut. Der Vorteil der nur durch Kommunikationstechnik verbundenen Netzwerke sei deren hohe Flexibilität.

Die Wissenschaftlerin ist überzeugt, daß die virtuelle Organisationsform den beteiligten Gruppen große Wettbewerbsvorteile bringen wird. Doch die neuen Unternehmensformen stoßen nicht auf uneingeschränkte Begeisterung. Arbeitsmarktexperten weisen auf die vielen ungelösten rechtlichen und sozialen Fragen hin. Dazu würden die ungeklär-ten Probleme der Informationssicherheit, des gewerblichen Rechts- und des Patentschutzes kommen. Karl Stroetmann von der Bonner Empirica GmbH, die als Pionier in puncto Telearbeit gilt, sieht noch eine andere Gefahr: "Schöne Konzepte sind eine Sache - umgesetzt werden müssen sie aber von ganz normalen Menschen. Allein deshalb sind viele Probleme - zumeist zwischenmenschlicher Art - bereits heute vorauszusehen.

*Ina Hönicke ist freie Journalistin in München.