Vielsprachiger und weltweiter Informationsabruf Ford setzt als eine der ersten Firmen auf den SGML-Standard

10.06.1994

Erstmals tauscht Ford of Europe mit der amerikanischen Muttergesellschaft die Fahrzeug-Literatur fuer das Modell Mondeo elektronisch nach dem internationalen SGML-Standard (Standard Generalized Markup Language) aus. Das spart Zeit und senkt die Kosten erheblich. In Kuerze soll Database-Publishing folgen.

Im Maerz letzten Jahres rollte im belgischen Werk Genk das erste sogenannte Weltauto, der "Mondeo", vom Band. Seitdem ist auch fuer die Mannschaft um Manfred Bauer, Chef der Technischen Dokumentation und Schulung bei Ford of Europe in Koeln, der berufliche Alltag wiedereingekehrt.

Fuer die rund 50 Mitarbeiter der Technischen Dokumentation bedeutet der Mondeo Neuland: Zum ersten Mal erstellt die Abteilung die gesamte Fahrzeugliteratur auch fuer den amerikanischen Markt. Dazu zaehlen unter anderem Bedienungsanleitungen, rund 1500 Seiten fuer die Werkstatthandbuecher sowie ueber 600 Seiten starke Schulungsunterlagen. Das Ziel: ein moeglichst einheitlicher Standard sowohl beim Aufbau als auch bei den Inhalten der Druckunterlagen, und das weltweit.

Was auf den ersten Blick lediglich ein Uebersetzungsproblem zu sein scheint, stellt in der Praxis eine regelrechte Huerde dar. Denn der elektronische Datenaustausch der in Koeln entwickelten Dokumente aus Text, Grafik und Bildern darf an den technischen Grenzen verschiedener Redaktionssysteme im internationalen Konzern nicht scheitern. Hinzu kommen inhaltliche Unterschiede: Fuer den amerikanischen Markt sind die Beschreibungen in der Regel um einiges ausfuehrlicher.

Eine Kostenersparnis durch ein solches "Single Sourcing" in der Dokumentation schlaegt aber nur dann wirksam zu Buche, wenn sich ausser Text und Abbildungen vor allem auch die vorgegebene Struktur der Dokumente als sogenannte DTD (Document Type Definition) automatisch zwischen den verschiedenen Redaktionssystemen mit uebertragen laesst.

So arbeitet Bauers Abteilung seit drei Jahren mit der Publishing- Software von Interleaf auf IBM-Workstations RS/6000. Seine amerikanischen Kollegen dagegen verwenden ein System von Datalogic, das auf vernetzten, an einen IBM-Mainframe-Computer angeschlossenen PCs installiert ist.

Markanter Unterschied: Waehrend das System in den USA nur alphanumerisch arbeitet und keine grafische Darstellung der Dokumente erlaubt, sehen die Koelner ihre Arbeit an der Dokumentation in wirklichkeitsgetreuer Wiedergabe (WYSIWYG) auf ihren Bildschirmen.

Dennoch brauchen die amerikanischen Kollegen die elektronisch aus Deutschland ueberspielten Unterlagen des Mondeo nicht aufwendig neu zu formatieren, denn die beiden Redaktionssysteme verstaendigen sich ueber eine Kodierung, die unter dem Kuerzel SGML mittlerweile als internationaler Standard festgeschrieben ist.

Das heisst, ein Werkstatthandbuch, das auf einem SGML-kodierenden Publishing-System geschrieben wurde, erscheint selbst bei einem anderen System, das keine WYSIWYG-Darstellung auf dem Bildschirm erlaubt, in optisch identischer Struktur auf dem Ausdruck. Vorausgesetzt allerdings, das zweite System versteht die SGML- Kodierung.

Auf WYSIWYG am Bildschirm wollten die Ford-Dokumentare nicht verzichten, denn wenn der Autor nicht sieht, was er produziert, dann leidet die Qualitaet. Schliesslich liess sich das Management davon ueberzeugen, dass sich der gesamte Ablaufprozess und auch das Ergebnis verbessert. Ausschlaggebend war allerdings, dass das System ebenfalls den Standard SGML unterstuetzt. Damit war Ford von der verwendeten Hard- und Software unabhaengig.

Mit insgesamt 22 Systemarbeitsplaetzen an den beiden Dokumentationsstandorten in Koeln und Aveley bei London ist die Abteilung mittlerweile gut ausgestattet. Die fast identische Systemkonfiguration an beiden Zentren: IBM RS/6000 Workstations verschiedener Groesse (320/355) mit Interleaf-5.3-Software, ueber TCP/IP (Ethernet) verbunden, mit jeweils einem Postscript- Netzwerkdrucker, einem Netzwerk-Fileserver und einer Oracle- Datenbank. Der elektronische Datenaustausch zwischen den beiden Zentren sowie mit Ford in den USA erfolgt ueber einen Gateway- Rechner zum Ford-eigenen Corporate Network und spaeter auch ueber oeffentliche ISDN-Leitungen.

Waehrend andere Autohersteller zwischen technischen Redakteuren und Procedure-Engineers unterscheiden, die den Arbeitsablauf in den technischen Beschreibungen festlegen, haben die Koelner diese Arbeitsteilung laengst abgeschafft. Von der handschriftlichen Notiz vor Ort in der Versuchswerkstatt und den Aufnahmen mit der Still- Video-Kamera bis zur fertig verfassten Dokumentation am Computer machen die Mitarbeiter alles selbst. Einzige Ausnahme: grafische Illustrationen, die von externen Studios hergestellt werden.

Still-Video-Foto in Form einer Pixel-Datei

Doch auch hier geben die Redakteure die Inhalte vor. Die Bilder, die den Text begleiten und vorerst als Still-Video-Foto in Form einer Pixel-Datei in das Redaktionssystem eingelesen und an der richtigen Stelle und im gewuenschten Ausschnitt fixiert werden, erhalten die noetigen Markierungen und Eintraege, nach denen das Grafikstudio die Illustrationen spaeter in Vektorgrafiken umsetzt.

Zwar sind gezeichnete Illustrationen im ersten Ansatz vergleichsweise aufwendig - allein das Werkstatthandbuch des Mondeo enthaelt auf rund 1500 Seiten etwa 4500 bis 5000 Zeichnungen. Doch sind "Abbildungen fuer den Leser die wichtigste Informationsquelle". Zudem ist es ohne grossen Aufwand moeglich, Veraenderungen an den Vektorgrafiken vorzunehmen.

Insgesamt liegt das Arbeitsvolumen der Abteilung bei jaehrlich rund 8000 Seiten Literatur. Voellig neu geschrieben wird davon rund die Haelfte, der andere Teil bedarf lediglich einer Aktualisierung. Zusaetzlich umfasst dieses Volumen ueber 24 000 Zeichnungen und Abbildungen, von denen wiederum die Haelfte neu angefertigt wird.

Doch das Volumen steigt. Neben den in Europa gebauten Modellreihen Fiesta, Escort, Scorpio, Transit und Mondeo betreuen die Koelner auch das in den USA gefertigte Sportcoupe Probe und den Gelaendewagen Explorer.

Die Werkstattliteratur des Autoherstellers wird derzeit in elf Sprachen verfasst, 15 Sprachen sind es bei Bedienungsanleitungen. Mit dem Mondeo werden es bald 17 Sprachen sein, ab Anfang naechsten Jahres wird auch Japanisch dabei sein. Der gesamte jaehrliche Literaturausstoss betraegt mehr als 200 000 Seiten.

Kopfzerbrechen bereitete der bereits erwaehnte Umstand, dass technische Dokumentation in den USA weit ausfuehrlicher gehalten ist. Besondere Hinweise, Anmerkungen oder spezielle Warnungen, die in europaeischen Unterlagen ueblicherweise nicht zu finden sind - weil dieses Wissen beispielsweise zur allgemeinen Berufsausbildung etwa in der Kfz-Lehre gehoert -, lassen die amerikanische Literatur auf das Dreifache anwachsen.

Eine Ford-Arbeitsgruppe mit Namen GAMS (Global After Market Standards) versucht mittlerweile, die wirklichen Notwendigkeiten auszuloten. Man verspricht sich davon eine weitgehende inhaltliche Angleichung der Fahrzeugdokumentation in den verschiedenen Zielmaerkten.

Unterschiede finden sich auch in der optischen Gestaltung, die in der jeweiligen Dokument-Typ-Definition festgelegt ist.

Dennoch muessen die Amerikaner die Dokumentation nicht jeweils neu umbrechen, wenn sie die Files und uebersetzten Texte aus Koeln in die eigene Rechneranlage ueberspielt bekommen. Da beide Softwaresysteme den SGML-Code interpretieren koennen, formatiert sich das europaeische Layout automatisch in die amerikanische Version. Die Texte und Abbildungen fallen quasi wie von selbst in das vorgegebene Layout- und Erscheinungsraster.

Ausser Ford, dem Berliner Normeninstitut DIN sowie der International Standards Organization ISO in Genf arbeiten bislang in Europa nur sehr wenige Unternehmen derart intensiv mit SGML auf einem Publishing-System. Der Return on Investment, der fuer ihre IBM/Interleaf-Systemloesung urspruenglich mit 28 Prozent angesetzt wurde, konnte auf ueber 50 Prozent korrigiert werden.

Daher gehen die Plaene weiter in Richtung Database Publishing. Keine leichte Aufgabe. Lediglich der Volkswagen-Konzern in Wolfsburg und Opel in Ruesselsheim haben auf diesem Gebiet bereits eine selbstentwickelte Loesung vorzuweisen.

Anfangen wollen die Koelner zunaechst mit der Bedienungsanleitung. Spaeter sollen Werkstatthandbuch und Schulungsunterlagen folgen. Das Prinzip von Publishing aus der Datenbank funktioniert folgendermassen: Texte und Grafiken werden in einzelne Bausteine zerlegt, die in unveraenderter Form in den verschiedenen Dokumentationen immer wiederkehren. Der technische Autor schreibt letztendlich kein Handbuch mehr, sondern legt in einer Stueckliste fest, aus welchen Elementen sich das Dokument zusammensetzen soll.

Wirklich neu verfasst werden lediglich noch wenige spezifische Ablaeufe. Auch der Uebersetzungsaufwand wird weniger, denn die Textelemente liegen in allen relevanten Sprachen ebenfalls in der Datenbank. Beispielsweise laesst sich bei Bedienungsanleitungen rund 70 Prozent des Gesamtumfangs aus identischen oder fast identischen Elementen zusammensetzen. Text- und Grafikbausteine brauchen nur einmal geaendert zu werden. Wo immer diese Elemente dann in den verschiedenen Dokumentationen auftauchen, stimmen sie mit der letzten Fassung ueberein.

So wird Publishing rationeller

Technische Dokumentation ist teuer. Automobilhersteller geben jaehrlich zweistellige Millionenbetraege dafuer aus. Im Schnitt, so schaetzt die Branche, belaeuft sich der Aufwand auf knapp ein Prozent der Entwicklungskosten von Neufahrzeugen. Hinzu kommt die laufende Pflege der Unterlagen wie Bedienungsanleitungen, Werkstatthandbuecher und Schulungsmaterial.

Kein Wunder, dass die Hersteller versuchen, durch komfortable Redaktionssysteme und automatisierte Publishing-Ablaeufe auch bei den technischen Unterlagen den steigenden Kostendruck in den Griff zu bekommen. Publishing aus der Datenbank sowie SGML als internationaler Standard fuer den elektronischen Austausch von strukturierten technischen Dokumenten und sogenannte Dokument-Typ- Definitionen (DTD) spielen dabei eine zunehmend wichtige Rolle, vor allem auch zwischen Fahrzeughersteller und Zulieferern.

Was der Standard SGML bewirkt

Die voellig identische Abbildung eines Dokuments in zwei unterschiedlichen Publishing-Systemen ist keineswegs selbstverstaendlich.

Der Austausch von strukturierten Dokumenten wird erst jetzt, zwoelf Jahre nach Erfindung des PCs und elektronischer Textverarbeitung, in der Praxis moeglich. Was lange Zeit fehlte, war ein verbindlicher Standard fuer den elektronischen Austausch von Texten, wie er in Dokumenten mit strukturiertem Aufbau vorkommt, so beispielsweise in Handbuechern oder auch Normen.

Technische Dokumente wie Betriebsanleitungen und Serviceunterlagen sind hoechst komplex aufgebaut. Ausser optisch gegliedertem Inhalt mit verschiedenartigen Ueberschriften und Texten in unterschiedlicher Typografie und Groesse enthalten solche Dokumente auch Inhaltsverzeichnisse, Listen, Querverweise, Indizes, Anhaenge, Tabellen, aber auch mathematische oder chemische Formeln sowie Vektor- und Pixelgrafiken. Zwar wurde schon 1986 mit der "Standard Generalized Markup Language" (SGML) von der International Standards Organization (ISO) eine Methode verabschiedet, wie sich der Aufbau von Dokumenten manuell so codieren laesst, dass dieser strukturelle Aufbau unabhaengig von Ein- und Ausgabegeraeten in gleicher Form erhalten bleibt - beispielsweise Art, Groesse und Farbe der Typografie, Ueberschriften oder Fliesstext -, doch zeigte sich in der Praxis die Codierung von Text mit diesen SGML- Anweisungen als zu kompliziert. Erst die Entwicklung eines kontext-sensitiven sogenannten SGML-Editors in Verbindung mit grafischen Bildschirmen, die eine wirklichkeitsgetreue Wiedergabe eines Dokuments erlauben, brachte den Durchbruch. Ist die Struktur fuer eine bestimmte Art eines Dokuments festgelegt, erzeugt dieser Editor die noetige SGML-Codierung fuer das jeweilige Dokument automatisch.