Thema der Woche

Verkäufer lassen sich nicht gern an die Kette legen

07.05.1999
Rund 60 Prozent aller IT-Projekte in Vertrieb und Marketing scheitern. Das Problem ist, daß die Systeme dem Vertriebsmitarbeiter, also dem eigentlichen Benutzer, keinen Mehrwert bringen. Im Gegenteil: Er fühlt sich durch die Tools an die Kette gelegt.

"Es gibt zur Zeit kaum einen besseren Weg, Geld zum Fenster hinauszuwerfen, als sich eine Software für Sales Force Automation (SFA) zu kaufen", lautet das vernichtende Urteil der Giga Information Group. Die Begründung liefern die Auguren gleich mit: Die Programme konzentrieren sich hauptsächlich auf unternehmensinterne Prozesse und verwalten lediglich Informationen über den Kunden, die dem Vertriebs-Management oder der Geschäftsleitung dienen. Der eigentliche Verkaufsprozeß - die Unterstützung des Verkäufers bei der Interaktion mit Klienten - wird kaum abgedeckt. Darüber hinaus fehlt es bei der Einführung dieser Systeme vor allem an einer gründlichen Ausbildung, Motivation und am Coaching der Mitarbeiter, monieren die Auguren. Die Systeme sind zudem funktional völlig überfrachtet und stellten technisch wenig versierte Bediener vor echte Herausforderungen.

"Viele Vertriebler, ob im Außendienst oder im internen Telefonverkauf, sind frustriert", berichtet Wolfgang Martin, Analyst bei der Meta Group. "Solange die Systeme den Mitarbeitern keinen Nutzen bringen, weigern sie sich, diese einzusetzen." Von positiven Effekten in puncto Kundenzufriedenheit und -loyalität, die man sich vom Einsatz der SFA-Tools verspricht, sei mittlerweile überhaupt keine Rede mehr. Sie scheinen einer Fata Morgana gleich in unerreichbare Ferne gerückt zu sein. Auch über einen Return on Investment oder eine erzielte Umsatzsteigerung schweigen sich die meisten Anwenderunternehmen aus.

Anstatt sich um die Belange des Kunden kümmern zu können, würden Vertriebsmitarbeiter durch SFA-Systeme dazu verdonnert, unendlich viele Reports, Forecasts und Besuchsberichte anzufertigen, die nicht ihnen, sondern bestenfalls ihrem Vorgesetzten nützen.

"Keine größere Vertriebsorganisation kann es sich heute erlauben, Mitarbeiter ungesteuert durch die Gegend laufen zu lassen", beschreibt Bodo Heiss, Vorstand der Strato AG, eines Internet-Service-Anbieters aus Berlin, das wahre Interesse des Managements an einer SFA-Lösung. Heiss war zuvor Vorstand beim Mutterkonzern Teles AG, einem Anbieter digitaler Kommunikationssysteme und entsprechender Software, und dort an der Auswahl des Vertriebs- und Marketing-Pakets "Sales Logix" des gleichnamigen Herstellers beteiligt.

Das höchste Ziel für die Einführung einer solchen Software seien zwar zufriedene Endkunden, aber man müsse auch in der Lage sein, schnell neue Märkte und Käuferschichten zu erschließen und zu bedienen. Insofern orientierten sich die Anforderungen der SFA-Implementierung bei Teles stark an den unternehmensinternen Zielen. Laut Heiss ging es darum, ein Sales-Reporting aufzubauen, nachvollziehbare Forecasts zu erstellen und, im speziellen Fall der Teles AG, verschiedenste Landesorganisationen zu integrieren.

Mit Hilfe der Sales-Logix-Software könnten Aufträge mit der möglichen Abschlußwahrscheinlichkeit vom Vertriebsingenieur direkt vor Ort erfaßt werden. Aufbereitet werden die Daten dann in der Zentrale, so daß die Vertriebsleitung verläßliche Aussagen für die Planung erhält. Daß das Management an einer genauen Umsatzprognose stärker interessiert ist als der Vertriebsmitarbeiter selbst, bestätigt Strato-Vorstand Heiss: "Der Vertriebsmitarbeiter (VB) haßt so etwas, es macht aus ihm einen gläsernen Mitarbeiter."

Doch profitiere der Verkäufer durchaus auch seinerseits von der Kontrolle. Er werde von Organisationstätigkeiten entlastet und in die Lage versetzt, seinen Arbeitsvorrat besser einzuteilen. So werde die Pflege der monatlichen Verkaufs- und Auftragsberichte mit Angabe der Eintrittswahrscheinlichkeit wesentlich erleichtert. Die Reports ständen im SFA-System per Knopfdruck zur Verfügung - vorausgesetzt, der Mitarbeiter hat das System gepflegt.

Nach den Erfahrungen von Vorstand Heiss konnte man die Daten, die von den VBs bis dato in Excel-Dateien gepflegt wurden, auf den "Müll kippen". Noch, so gesteht er ein, seien auch die Prognosen aus den automatisierten SFA-Berichten, die seit Ende letzten Jahres im Pilotversuch laufen, nicht viel besser. Man benötige, wie bei Statistiken üblich, eine große Grundgesamtheit an Daten, um zu verläßlichen Aussagen zu gelangen. Rund ein Jahr werde dieser Prozeß wohl dauern, schätzt er.

Der Karlsruher Berater für Computer Aided Selling (CAS) Wolfgang Schwetz warnt vor überzogenen Erwartungen. Den Vorgesetzten müsse klar sein, daß auch ein noch so ausgefeiltes Reporting- und Kontrollsystem von unwilligen Mitarbeitern ausgehebelt werden kann: "Die alten Hasen verraten dann schon die Tricks, wie man einen Report frisiert, um die auferlegten Vorgaben zu erzielen." Seit Jahren predige er einen offeneren Umgang zwischen Management und Vertriebsmitarbeitern, aber nichts sei passiert: "Das ist erschreckend."

Da die Akzeptanz der Systeme bei vielen Mitarbeitern gegen Null gehe, werde beim Ausfüllen der Berichte gelogen, bis sich die Balken biegen, berichtet Schwetz: "Der elektronische Forecast im SFA-Systen ist in solchen Fällen genauso schlecht wie der vorherige in Papierform oder in Excel." Die Marketing-Abteilung wundere sich in der Folge, daß die Auswertungen auf Basis dieser "manipulierten Daten" keine zuverlässigen Ergebnisse bringen.

Solange das Management seine Kontrollmentalität nicht ablegen könne, würde es halt "elektronisch belogen", konstatiert CAS-Fachmann Schwetz weiter. "Das Management kann seinen Mitarbeitern den Nutzen einer SFA-Lösung nicht glaubhaft verkaufen. Der Vertriebsleiter behauptet zwar, den gläsernen Kunden anzupeilen, aber der gläserne Mitarbeiter ist der erste Schritt." Der Vorgesetzte wolle genau wissen, was sein Außendienst leiste und wie viele Kunden er besucht habe.

Um den üblen Beigeschmack eines "Big Brother is watching you" zu vermeiden, hat man bei der Siemens Medizintechnik in Nürnberg den Begriff "Automation" schlicht und einfach aus dem Projektnamen gestrichen. Das Wort Automation habe gerade hierzulande einen negativen Beigeschmack, erläutert Stefan Bauer, Projektleiter bei Siemens und zuständig für den weltweiten Roll-out: "Der Vertrieb will nicht automatisiert werden." Vor rund einem Jahr wurde im Bereich Medizintechnik der Siemens AG die SFA-Lösung von Siebel Systems mit der Bezeichnung "Sales Automation und Marketing-Support" (SAM) gestartet. Nach der Namensänderung steht SAM jetzt für "Sales and Marketing Support".

Die Folgen der geringen Akzeptanz von SFA-Systemen sind, wie Analysten der Gartner Group und Meta Group berichten, schwerwiegend: Die Dauer der Projekte und damit verbunden die Kosten laufen aus dem Ruder, dabei bleibt der von Anbietern versprochene rasche Kapitalrückfluß (Return on Investment = ROI) der SFA-Investition aus.

Kurz: Laut Gartner Group scheitern rund 60 Prozent aller SFA-Vorhaben - die Auguren der Meta Group sprechen sogar von 75 Prozent. Nachdem der Kunde und der Anbieter oder ein Beratungsunternehmen gemeinsam ein Pflichtenheft erarbeitet, vielleicht noch eine Software-Auswahl getroffen sowie einen Piloten installiert haben, verpufft die Motivation für eine konkrete Umsetzung.

Neben der geringen Akzeptanz der Anwender sind wechselnde oder gar fehlende Ziele des Projektes sowie die mangelnde Unterstützung durch das Topmanagement Gründe für das Scheitern. Oft genug wird die weitere Umsetzung sogar von der Leitung der Fachabteilung selbst abgeblockt. CAS-Berater Schwetz kennt dieses Problem: "Viele Vertriebsleiter lassen Projekte sterben, wenn sie erst einmal erkannt haben, daß ihre Arbeit durch diese Werkzeuge kontrollierbar würde." Bei den eigenen Mitarbeitern zeigen die Abteilungsleiter allerdings weniger Skrupel.

"Aus der Misere können nur vertrauensbildende Maßnahmen zwischen Mitarbeitern und Management helfen", sagt Michael Lenke, Manager Professional Services bei TPS Labs in München. Der Anbieter von Customer-Relationship-Management-(CRM-)Lösungen möchte seinen Kunden neben einem eigenen Produkt vor allem die "erfolgreiche Projektgestaltung" nahebringen. Dazu haben die Münchner das Konzept "Business Implementation and Education" auf die Beine gestellt.

Zweck dieser Methode ist es, das Projekt intern unter Zuhilfenahme von Workshops, Chat-Foren, Hauszeitungen und Diskussionsrunden "zu verkaufen", so daß die Anwender die Software beherrschen und nutzen. Hohe Ziele wie die Steigerung des Umsatzes durch Einsatz einer SFA-Lösung seien aus Sicht der Entscheidungsträger zwar legitim, aber im ersten Schritt unrealistisch. Lenker: "Zunächst müssen die VBs die Lösung, also das System und das dahinterliegende Konzept, akzeptieren. Der Rest kommt dann von allein."

Bei Siemens Medizintechnik hat man die Bedeutung von Ausbildung frühzeitig erkannt, und "die Anwender mit dem System aufwachsen lassen", beschreibt Thomas Paschek die Situation bei Siemens. Er zeichnete auf Seiten des Siemens-Beratungshauses SBS als Projektleiter für das Siebel-Projekt verantwortlich. Zu Ausbildungszwecken wurde eigens ein Trainingszentrum in Nürnberg eingerichtet, in dem alle Vertriebsingenieure drei Tage "eingesperrt" und an die Software herangeführt wurden. Danach bildete man zusätzlich Key-User in den Geschäftsstellen aus, die als Trainer für Kollegen fungieren. Für Notfälle ist in Berlin ein SFA-Call-Center mit Hotline entstanden, die zwölf Stunden täglich besetzt ist.

Natürlich könne man nicht erwarten, daß alle Mitarbeiter sofort begeistert seien, räumt Siemens-Mann Bauer ein. Vor allem langgediente Vertriebsrecken, die bisher mit ihren Excel- oder Access-Anwendungen sehr erfolgreich waren, hätten zunächst Berührungsängste gehabt. Doch die Akzeptanz steige von Tag zu Tag, besonders wenn die Mitarbeiter spürten, daß sie von dem System beispielsweise durch Zusatzinformationen profitierten.

"Ohne vertrauensbildende Maßnahmen geht es nicht", unterstreicht Meta-Group-Analyst Martin. Die Maxime müsse lauten: "Ich gebe, du gibst." Der Vertriebsmitarbeiter wittere natürlich, daß durch ein SFA-System seine bisherige Autonomie untergraben werde. Deshalb könne er nur motiviert werden, wenn er bereits in früheren Projektphasen zusätzliche Informationen und Arbeitshilfen erhalte, die seine Aussicht auf Erfolg vergrößerten: "Wenn das funktioniert, sind die Mitarbeiter im zweiten Schritt auch bereit, mit Informationen herauszurücken."

Für TPS-Mann Lenke ist zudem entscheidend, die Bedeutung des Systems für den Erfolg des Unternehmens zu vermitteln, so daß der Mitarbeiter sich damit identifizieren kann. Es müsse klarwerden, daß die Zusammenarbeit (Team-Selling), die unter Vertriebseinzelkämpfern wenig gepflegt wird, nötig ist, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein. "Der Vertriebsmitarbeiter sollte sich auch nach Vertragsabschluß für die Erfüllung des Auftrags verantwortlich fühlen", so Lenke. Damit sei er automatisch enger an das Unternehmen gebunden und wisse die Zusammenarbeit mit dem Service und anderen Abwicklungsabteilungen zu schätzen.

Die Verbreitung dieses Team-Selling-Gedankens stand auch bei der Einführung bei Siemens im Vordergrund. Das Siebel-System, mit dem bisher rund 400 Personen arbeiten, unterstützt Aufgaben wie Kunden-, Angebots- und Projektverfolgung, die Auftragsweitergabe an SAP sowie die Angebotskalkulation. Der Produktkonfigurator eines Münchner Drittanbieters gehört ebenso zum Umfang des Pakets: "Die Mitarbeiter sollen besser vorbereitet sein, wenn sie zum Kunden gehen", erklärt Projektleiter Bauer das Konzept des Team-Verkaufs. Mit Hilfe des SFA-Systems habe jeder VB Informationen darüber, was in einem Krankenhaus bereits installiert ist und was ein anderer Kollege dort gegebenenfalls bereits angeboten hat. Auch mit Informationen über den Wettbewerb wird der VB mittels der Siebel-Software bewaffnet, um vor Ort einen Produktvergleich anstellen zu können. Bauer: "Der VB erkennt den Nutzen sofort."

Ein "gemeinsames Weltbild" aufbauen, nennt Hendrik Müller, Gesamtprojektleiter bei E-Plus in Düsseldorf, den Team-Ansatz. Das Projekt bei dem Mobilfunknetzbetreiber wurde zunächst als technisches DV-Konsolidierungsvorhaben gestartet. Ziel war es, mit Hilfe der Software von Clarify eine integrierte Sicht auf die Vielzahl der bisher installierten Systeme zu ermöglichen. Man habe allerdings von Anfang an eng mit Koordinatoren aus den Fachabteilungen zusammengearbeitet. "Wir wollen eine Anwendung bauen, die dem VB etwas bringt", sagt Müller. Erfolgsfaktor waren hier unter anderem auch die Schulungen. Den Mitarbeitern konnte vermittelt werden, daß sie eine Vielzahl von Informationen aus dem System herausholen können und nicht nur geben müssen: "Zehn bis zwölf Abteilungen arbeiten aus verschiedenster Sicht mit Kundendaten. Da geht bei den herkömmlichen Systemen sowie den Excel- und Bleistift-Dokumenten sehr viel verloren", sagt Müller. Die neue Front-Office-Lösung erlaubt eine Gesamtsicht, die in Zukunft Vertrieb, Marketing und Service enger zusammenschweißen soll.

Doch gibt es solche Erfolge nicht zum Nulltarif. Laut TPS-Mann Lenke sollten Unternehmen 60 Prozent ihres Projektbudgets für Ausbildung einkalkulieren. Nur rund 40 Prozent müßten für Hardware, Software und Infrastruktur veranschlagt werden. Doch in der Praxis sieht es leider anders aus: Maximal zehn bis 20 Prozent seien in den Etats für Schulungen vorgesehen, die dann auch noch technische Aspekte und das stupide Abarbeiten von Masken zu sehr in den Vordergrund stellten. Lenker: "Wenn man einen PC kauft, erhält man ein Stück Ware als Gegenwert." Wenn es jedoch darum geht, Geld für die Motivation von Mitarbeitern oder den Abbau von Berührungsängsten auszugeben, seien die Taschen im Management zugenäht. Unternehmen, die glauben, mit geringerem Aufwand für Ausbildung auszukommen, hätten in der Folge allerdings durch Nachschulungen und Motivationsseminare viel höhere Kosten. Oft seien Fehler, die bei der Einführung gemacht wurden, hinterher überhaupt nicht mehr zu korrigieren.