Aus Softwarekünstlern werden Anwendungsingenieure

Veränderte Ablauforganisation in der Anwendungsentwicklung

31.08.1990

Günter W. Schmitt arbeitet bei GS Industrie und Handel.

Die Diskussion über die Auswirkungen der Informationsverarbeitung auf die Arbeitswelt (Jobkiller versus Arbeitsplätze, positive oder negative Qualifikationseffekte) war bislang begrenzt auf die Fachabteilungen in Betrieben und Verwaltung. Mit der CASE-Technologie wird die DV-Anwendungsentwicklung als Organisationseinheit von der selbst ausgelösten Welle eingeholt.

Jeder hat seinen eigenen Stil. Das ist schön, aber nur so lange, wie jeder für sich allein arbeitet. Muß man mit anderen zusammenarbeiten, braucht man Unterstützung. Will man seine Arbeitsergebnisse anderen näherbringen, sie ihnen gar überlassen, zum Beispiel zur Pflege und Wartung, dann erzwingt die Notwendigkeit erfolgreicher Kommunikation Einschränkungen der gestalterischen Freiheit. Wie Rupert Riedl in "Strategie der Genesis" (1) verdeutlicht, ist dieses Prinzip erhöhter Erfolgschance (hier in der Kommunikation) durch neue Ordnungsregeln und damit durch Begrenzung des an sich bestehenden Spielraums, (zum Beispiel bei der Gestaltung von Entwicklungsdokumenten) charakteristisch für alle sich entwickelnden, das heißt noch lebenden Systeme.

Vermittelbare Standards statt wahlloser Vielfalt

Auch in der Anwendungsentwicklung war dieses Prinzip von Anfang an wirksam. Schon die Möglichkeit, eine Aufgabe so zu formulieren daß sie Oberhaupt von einem Rechner erledigt werden kann, war gebunden an die Restriktionen der Syntax von Programmiersprachen. Die Vorteile leistungsstarker Sprachkonstrukte der dritten und vierten Generation bezüglich Produktivität und Programmpflege gingen einher mit dem Verlust der Programmiermöglichkeiten, die bei Assemblern noch selbstverständlich waren.

Die durch CASE forcierte Ausprägung von Entwicklungsstandards (Vorgehensmodellen, System-Entwicklungsmethoden, Dokumentationsverarbeitungen etc.) ist die konsequente Fortsetzung dieser Entwicklung. Sie führt zu, besserer Abstimmung innerhalb der Anwendungsentwicklung, erleichtert die Qualitätssicherung, die zum Teil maschinell durchführbar wird, und erlaubt es, problemloser neue Mitarbeiter in laufende Projekte einzubinden. Zusätzlich ist sie Voraussetzung für die Wartung der Programme durch andere.

Damit gehen Einschränkungen der individuellen Gestaltungsmöglichkeiten, etwa bei der Dokumentation, und ein Verlust der Individualität in der Arbeitsweise Hand in Hand.

Beim Betrachten eines Gegenstandes kann der Beobachter, so schon Wilhelm von Humboldts, Erfahrungen gegenüber der Wirklichkeit (3), unterschiedliche Standpunkte einnehmen:

- Der Gegenstand steht ganz vor uns, sind aber verworren und ineinander fließend.

- Wir trennen einzelne Merkmale und unterscheiden sie; unsere Erkenntnis ist deutlich, aber vereinzelt (und borniert).

- Wir verbinden das getrennte, und das ganze steht abermals vor uns, jetzt jedoch nicht mehr verworren, sondern von allen Seiten beleuchtet.

Die so skizierte Evolution der Erfahrungen ist auch in der Anwendungsentwicklung erkennbar.

- Systementwicklung der Frühzeit: Wir haben das Anwendungssystem im Kopf und programmieren darauf los.

- Systementwicklung mit Pflichtenheft: Wir beschreiben das Anwendungssystem detailiert auf vielen Seiten im Fließtext und verlieren die Übersicht.

- Systementwicklung mit Entwicklungsdatenbank und Grafikoberfläche: Wir legen Einzelinfomationen redundanzfrei, aber systematisch vernetzt ab, und nutzen diese Information unter verschiedenen Blickwinkeln, häufig grafisch aufbereitet.

CASE hebt die Anwendungsentwicklung von der zweiten auf die dritte Stufe. Entwicklungsdatenbanken kanalisieren die Flut von Detailinformationen, und Grafikwerkzeuge liefern optimal aufbereitete Sichten auf das Anwendungssystem. Ein Bild sagt eben auch hier mehr als tausend Worte.

Fachabteilungen können die verständlicheren Konzepte für Anwendungen leichter abnehmen, die Zahl der Änderungswünsche während der Realisierung sinkt und die Akzeptanz der DV-Lösungen steigt.

Anwendungs- statt Technolgie-Orientierung

Die Koordinierung von Programmen erfolgt Programmen erfolgt eingebunden in ein dichtes Netz syntaktischer Vorschriften. Maschinell ist die Einhaltung dieser Vorschriften kontrollierbar durch Syntax-Checker und Compiler. Im Vergleich zu den Analyse- und Designarbeiten der Systementwicklung ist die Koordination leichter automatisierbar, und genau dies läßt sich mit Code-Generatoren und Sprachen der vierten Generation erreichen.

Belegt wird dieser Sachverhalt durch die in der Literatur genannten Produktivitätssteigerungen von bis zu 70 Prozent für die Organisation neuer Anwendungen, gleichzeitig bis zu 50 Prozent für Programmiertätigkeiten (2). Die menschlichen Tätigkeitsfelder in der Anwendungsentwicklung verändern sich dadurch in Richtung Analyse, Design, Planung, Überwachung und Steuerung. Betriebswirtschaftliche Projekt-Management-typische Aufgaben treten deshalb in den Vordergrund. Der Arbeitsschwerpunkt der Software-Entwickler bewegt sich weg von der reinen DV-Technologie hin zur fachlichen Problemlösung.

Eine gute Chance für Job-Enrichment

Anwenderorientierung steht in direktem Zusammenhang mit dem Ziel, Fachabteilungen möglichst aufgabengerechte DV-Systeme anzubieten. Standardisiertes Vorgehen nach der Art der Ingenieure erleichtert auf Dauer die Kommunikation innerhalb der Anwendungsentwicklung und mit den Fachabteilungen. Werkzeugeinsatz macht komplexe und vernetzte Projekte erst planbar, kontrollierbar und steuerbar. Die CASE-Technolgie forciert diese Entwicklung. Sie bringt nicht nur mancherlei Umgewöhnungsprobleme mit sich, sondern stellt auch eine erstklassige Chance für Job-Enrichment dar. CASE - es kommt eben darauf an, was man daraus macht.

Literaturhinweise:

(3) Bauer, Michael, Kein Generationskonflikt, Die Computer-Zeitung 1987/22, S. 42 ff.

(1) Riedl, Rupert, Die Strategie der Genesis, Piper & Co., München 1984, S. 10 ff.

(2) Vester, Frederic, Neuland des Denkens, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1985, S. 38 ff.