Nicht nur für Individualisten: rotes Tuch mit Strickanleitung

Unverzichtbares Gut, aber Fingerspitzengefühl ist nötig

18.08.1989

"Sitzt, paßt, hat Luft", und meistens läuft's auch: Standard-Software auf bundesdeutschen PCs, Minis und Mainframes. Dennoch, was alles unter dieser Bezeichnung auf dem Markt ist verdient - vom Wortsinn und der Ausfertigung her - nicht immer die Auszeichnung "Standard". Gerade hier lassen die Hersteller nichts unversucht, um mit dem entsprechend schlagenden Werbeargument Software an den Mann zu bringen. Und selten wird Software unbedarfter eingekauft: Der Schuß nach hinten ist oft vorprogrammiert.

Mit einem übergeordneten Begriff wie "Standard" ist allemal gut Werbung treiben. Suggeriert wird Qualität, Ausgewogenheit, Funktionsfülle, leichte Bedienung - kurz: "Hausfraueneffekt" ("wer kann schon nicht mit Waschpulver umgehen") gepaart mit Herdentrieb ("den Problemkreis Bratensoße/Hemd haben 1000 andere auch im Griff") und althergebrachter Erfahrung ("grün/weiß suggeriert Rasenbleiche wie zu Mutters Zeiten") wird auf ein eklärungsbedürftiges Gut angewendet, das zudem auch noch sensibel ist und - über Wohl und Wehe eines Unternehmens mitentscheiden kann. Böse Zungen behaupten sogar, das Wirtschaftsgut mit der Bezeichnung "Standardsoftware" sei nur geprägt worden, weil die Hersteller Geld verdienen können, ohne sich um eine bestimmte Zielgruppe kümmern zu müssen.

Der zugegebenermaßen harte Einstieg soll sensibilisieren; zu überfrachtet ist der Begriff der Standardsoftware, als daß er nicht dringend einer Revision bedarf. Dabei soll die Bedeutung der Standardsoftware nicht negiert werden. Ohne die Massenverbreitung von Programmen zu einem günstigen Preis insbesondere im MS-DOS-Bereich wäre wohl der PC-Boom nicht in dieser Blüte entstanden.

Standard hieß:

"Läuft ohne Probleme"

Standard hieß zu Anfangszeiten dieses Programmgenres tatsächlich "läuft ohne Probleme auf der vorgesehenen Hardware mit einem allgemeinüblichen Funktionsumfang".

Der PC von heute allerdings ist nicht nur technisch nicht mehr mit dem 85er-Modell zu vergleichen - auch die Anwendung als solche ist den Kinderschuhe entwachsen. Um das Problem zu greifen, muß das dazugehörige Universum betrachtet werden, meint Ralph Treitz, Pressesprecher der CUUC (German Unix User Group)."Standardsoftware kann von jedermann erworben werden und relativ universell eingesetzt werden", so der Softwareprofi zur grundsätzlichen Definition.

Dabei ist schon der Entstehungsprozeß des Programmes von ausschlaggebender Bedeutung. Nicht selten wird eine Individualsoftware, die einigermaßen läuft und für die der Entwickler glaubt, einen Markt auszumachen, zu Standardsoftware umgearbeitet. Sie ist zum Teil daran zu erkennen, daß recht exotische Funktionen über den gesamten Lebenszyklus mitgeschleppt werden.

Die zweite Methode, Standardsoftware zu kreieren ist, eine Anwendung in ihren Funktionen verallgemeinert umzusetzen. Die Frage stellt sich hier, wer denn überhaupt festlegt, was zu einem Standard-Funktionsumfang gehört. Diese Frage hören die großen Hersteller von MS-DOS-Anwendungsstandardprogrammen eigentlich nicht so gern und beantworten sie meist mit einem ebenso schwammigen wie bestimmten Hinweis auf Marktanalysen und Käufereinfluß. Sigmund Freud hätte sich über den Satz "Standardsoftware ist eine Sache, die von den Herstellern her ...äähh... von den Anwendern her dikitiert wird" (Recherche-O-Ton) sicher sehr amüsiert. Überfrachtung mit Funktionen, die der 80:20-Regel unterliegen (nur 20 Prozent der Befehle werden zu 80 Prozent der Anwendungen genutzt) ist die Folge - ein wohlbekanntes Problem bei den sogenannten "integrierten Programmen".

Überfrachtung

bewußt angestrebt

Überfrachtung ist dann auch ein Schlagwort, mit dem Standardsoftware im PC-Bereich wohl grundsätzlich zu kämpfen hat. Textverarbeitung ist ein gutes Beispiel dafür, wie Anwenderbedürfnisse durch ein "Zuviel des Guten" vernachlässigt werden. Es ist halt schlicht etwas anderes, ob die Anforderungen einer Sekretariatsarbeit oder eines Schriftstellers erfüllt werden müssen - es drängt sich der Verdacht auf, daß die Hersteller bewußt mit einer Überfrachtung, die sich in umständlichen Menüführungen, starker Belastung des Arbeitsspeichers und ähnlichem ausdrücken, leben, um sich selbst nicht von potentiellen Käuferschichten abzuschneiden. Etwas mehr Selbstbeschränkung vor allem auch in den Werbeaussagen der Hersteller wäre angebracht - und ein programmtechnisches "abstrippen" (als neues Schlagwort), um einfache Bedienerführung zu erreichen und unnötigen Ballast über Bord zu werfen. Zudem bemängeln Kenner der Szene und Anwender, daß es noch zu wenig gelingt, Funktionen, die nicht benötigt werden, zu verstecken.

Die Notwendigkeit einer Grundsatzüberlegung in diesem Bereich klingt dann auch bei einigen Herstellern von PC-SSW an - insbesondere, da die Leistungsgrenzen zwischen den alten Systemklassen immer stärker verschwimmen. Die Überlegungen zu neuen Ansätzen sind sicherlich notwendig und werden auch schon getätigt, meint zu dieser Frage beispielsweise Volker Brunner, Pressesprecher von Ashton-Tate aus Frankfurt. Die Programmiersprache "Fred" bei Ashton-Tate zählt zu einem der Mittel, Standardsoftware auch für PC-Anwender im Sinne individueller Anpassung zu öffnen, so der Mitarbeiter der Frankfurter.

Die Frage, ob die Bezeichnung "Standard " gerechtfertigt ist oder nicht, kann auch mit einem andere Beispiel hinterfragt werden: Nur die zwölf Regeln von Ted Codd gemeinsam machen eine relationale Datenbank aus. Ist der Stand der Technik so, daß alle Hersteller relationaler Datenbanken nur - beispielsweise - drei dieser Regeln technisch

realisieren, so ist dies eben ein "Standard". Hat aber das Gros der Entwickler alle zwölf Regeln verwirklicht und einer nur zehn, wäre es vermessen, von Standardsoftware zu reden - obwohl alle Grundanforderungen (frei verkäuflich und für alle Kunden gleich) erfüllt sind.

Standard als Software-Gerüst

Etwas anders ist dieses Problem bei der Entwicklung von Standardsoftware im Bereich echtprofessioneller Datenverarbeitung auf Mini- und Mainframebasis gelöst. Die Hersteller hier bemühen sich zumeist um intensiven Kontakt zu Pilotkunden und Berufsorganisationen, mit denen gemeinsam eine Grundanforderung erarbeitet wird. Das, was für diese Anwendungen als Standard verkauft wird, verdiente eher die - positiv gemeinte - Bezeichnung "Softwaregerüst", auf dem dann mit entsprechend offenliegenden Schnittstellen die Anwendung für die tatsächlichen Bedürfnisse des Kunden umgestrickt werden kann.

"Wir müssen jede Software an die Betriebsbelange anpassen," meint so auch Susanne Rendler von der BSW Datenverarbeitung Consulting GmbH (BDC) aus Kehl. Die Programmiererin der DV-Tochter der Badischen Stahlwerke AG (BSW) kennt allerdings aus ihrer Berufserfahrung die Tücken: "Manche Programme sind so verwirrend, daß man sich lieber zur Anpassung die Beratungsstunden des Herstellers einkauft." Doch auch positive Beispiele sind zu vermelden, so die offene Benutzerschnittstelle des HP-Customizer.

Ein grundsätzlicher Unterschied scheint also zwischen SSW für PCs und für größere Rechner zu existieren - dies sei mit eine Frage des Geldes, meinen Beobachter. Im Mainframebereich werden schlichtweg größere Summen bewegt, also kann auch mehr Manpower in die Entwicklung fließen. Zudem befassen sich in dieser Anwendungsklasse mindestens zwei Personen mit der Software - der Systemspezialist und der Anwender. So ist es für die Hersteller leichter, Anpassungsmechanismen einzuplanen, die technisches Verständnis erfordern.

Aber auch hier taucht wieder die Frage des zugrundegelegten Universums auf - nämlich, wie abstrakt die Betrachtungsweise bei der Festlegung der Funktionen und des Wirkungskreises sei. Es gehe schlecht an, eine Kasse mit einem Programm aus der Lebensmittel-Warenwirtschaft in einen Baumarkt zu stellen, verdeutlicht Treitz den Gedanken, aber auch hier sei es aus Kostengründen sinnvoll, ein grundsätzliches Gerüst an Software zur Verfügung zu stellen, auf dem dann nach Kundenerfordernissen weitergearbeitet werden kann.

Das Problem, welche Software an welchem Ort und wann einzusetzen sei, wird letztlich dreidimensional: Es gilbt eine Reihe von Unternehmen, bei denen es sich ohne Frage von der Größe und Struktur her lohnt, über den Einsatz von Standardsoftware nachzudenken, meint Rudolf Resch, Leiter Marketing der Systemtechnik Berner & Mattner GmbH aus Ottobrunn. Er denkt hier vor allem an den Handwerksbereich. Die Anwender erhalten durch gute Standardsoftware einen Extrakt dessen, was in der Branche als notwendig und wichtig erachtet wird für relativ wenig Geld. Ist dann auch noch viel branchenbezogene Information eingearbeitet, dann hat Standardsoftware nach Reschs Meinung eine erste Berechtigung. Der zweite Einsatzfall, den Resch aus seiner Erfahrung in der DV akzeptiert, ist der, in den standardisierte Aufgaben durchgeführt werden - von der Buchhaltung bis zur Textverarbeitung. Kritisch wird es nach Meinung des Ottobrunner Managers, wenn es um kommerzielle Anwendungen zum Beispiel aus der Materialwirtschaft geht - Pauschalierung kann hier sehr gefährlich werden. Individualsoftware oder ausgefeilte Möglichkeiten der individuellen Anpassung sind gefordert. Extrem anders wird es bei sehr technisch orientierten Anwendungen zum Beispiel bei der Entwicklung, Fertigung, Fertigungssteuerung oder im Prüfwesen. Branche, Größe des Unternehmens und Anwendung sind die Kriterien, die Resch bei der Frage des Softwareeinsatzes im Spannungsfeld "Standardsoftware - Baukastenlösung - Individualsoftware" als Kriterien ansetzt.

Feinabstimmung

vor dem Einsatz

Resch zeigt sich aber auch vor allem irritiert darüber, wie sorglos nicht nur die Distributoren allgemeine Standardsoftware anbieten und verkaufen, sondern wie sorglos ins besondere in Klein- und Mittelbetrieben vor allem kommerzielle Standardsoftware eingesetzt wird - der Bereich der Datensicherung beispielsweise wird fast zu oft stark vernachlässigt. Die Aktionen der Hersteller gipfeln im extremsten Fall in einem Hinweis auf die Notwendigkeit der Datensicherung im Manual.

Organisatorische Beratung, Analyse der Mechanismen, Überprüfung der Wichtigkeitsstufen verschiedener Daten, automatischer Back-up, Infrastruktur der DV des Unternehmens - häufig Fehlanzeige nach dem Motto "sitzt, paßt und läuft".

Die Bedeutung der Standardsoftware, möge sie besser als Gerüst-, Baukasten- oder Basissoftware bezeichnet werden, wird von keinem der Szenenprofis aller Lager geleugnet, aber gerade SSW verlangt Fingerspitzengefühl und eine extreme Feinabstimmung auf die Unternehmensbelange - und zwar vor ihrem Einsatz.

*Horst-Joachim Hoffmann ist freier Mitarbeiter der Computerwoche in München und selbst begeisterter SSW-Anwender