Informatiker kennen die Branche noch zu wenig

Unterschätzte Jobchancen

14.04.2000
Von Gabriele Müller
Wer als IT-Absolvent bei Namen wie Henkel, Bayer oder BASF nur an Arzneimittel, Waschmittel, Klebstoffe oder Farben denkt, liegt richtig - und auch wieder falsch. Denn die chemisch-pharmazeutische Industrie in Deutschland mit ihren internationalen Töchtern bietet nicht nur für junge Chemiker, sondern auch für Informatiker gute Berufs- und Karrierechancen.

"auf wiedersehen hoechst, Bienvenue Aventis", hieß es vor einigen Monaten auf der letzten Hauptversammlung der Hoechst AG in Frankfurt. Denn aus zwei wurde eins: Hoechst und Rhône Poulenc fusionierten zum Superkonzern. Ein sichtbares Zeichen für Strukturen und Verknüpfungen, die in der Chemie nicht ungewöhnlich sind. Rund eine halbe Millionen Mitarbeiter waren 1998 in rund 1300 Unternehmen beschäftigt, die zur chemischen Industrie zählen.

Und obwohl drei Viertel der deutschen Chemiebetriebe weniger als 300 Mitarbeiter beschäftigen, also zum Mittelstand gehören, ist das Image der Branche geprägt von großen Namen mit langer Tradition: Bayer, BASF, Beiersdorf, Henkel, Degussa-Hüls gehören zu den Global Playern, die mit Niederlassungen, Tochterfirmen und Beteiligungen auf der ganzen Welt vertreten und damit auch im Export stark engagiert sind.

Und so weitverzweigt die Geschäftsaktivitäten, so unterschiedlich sind auch die Produkte, die die Unternehmen herstellen oder weiterverarbeiten. Das reicht von Farben und Lacken über Kunststoffe bis zu Pflanzenschutzmitteln.

Die Chemiebranche zahlt überdurchschnittlich

"Arbeitsplatz Chemie, das sind nicht nur konstante Beschäftigungszahlen, das sind auch immer mehr Dienstleistungen, die von außen bezogen werden", so Hans-Dietrich Winkhaus, Präsident des Verbandes der Chemischen Industrie (VCI) in Frankfurt. "Logistik, Unternehmens-, Umweltberatung oder Werbung sind nur einige Beispiele, mit denen Chemieunternehmen Arbeitsplätze im Sektor der chemienahen Dienstleistungen schaffen und sichern."

Das trifft nach einer Analyse des Instituts der Deutschen Wirtschaft im Auftrag des VCI auf immerhin rund 240 000 Jobs in Deutschland zu. Und: Löhne und Gehälter der Beschäftigten in der Branche liegen hoch, wesentlich höher als zum Beispiel im verarbeitenden Gewerbe, hat der Bundesarbeitgeberverband Chemie (BAVC) ermittelt. 1997 lag der Unterschied bei rund 13 000 Mark jährlich.

Dennoch: Trotz stabiler Konjunktur, attraktiver Gehälter und internationaler Ausrichtung der Unternehmen suchen und finden Informatiker ihren Job scheinbar zunächst in anderen Wirtschaftsbereichen. Beim Sichten von Stellenanzeigen oder beim Klicken durch die virtuelle Welt der Online-Jobbörsen finden sich nur wenige Angebote und noch weniger Gesuche. Jobs für junge Chemiker, Chemieingenieure, Juristen, Wirtschaftswissenschaftler, Betriebswirte ja - für Informatiker nein?

Der Schein trügt, sagen die Chemieunternehmen, die sich ihre Nachwuchsförderung durchaus etwas kosten lassen. So vergaben deren Stiftungen 1998 fast 150 Stipendien in Höhe von acht Millionen Mark an hoch begabte Forscher in spe. Und dennoch: Sind die Informatiker nur Stiefkinder? "Nein, ganz sicher nicht." Georg Hartmann, Leiter des Bereichs Hochschul-Marketing der Bayer AG in Leverkusen, hält dagegen. "Bei uns als einem der weltweit größten Unternehmen der chemisch-pharmazeutischen Industrie kommt der Informatik eine besondere Rolle zu." Das ließe sich schon daran erkennen, dass der Bereich als ein zentraler Servicebestandteil direkt dem Vorstand unterstellt ist und als Unternehmen im Unternehmen geführt wird, erklärt er.

Rund 1400 IT-Beschäftigte der insgesamt rund 44 000 Mitarbeiter sind in der Bayer AG und noch einmal 1500 andere in den Gesellschaften des Bayer-Konzerns weltweit beschäftigt. "Das ist deutlich umfangreicher und deckt ein viel breiteres Spektrum ab, als bei vielen Unternehmen, deren Kerngeschäft die IT ist", so Hartmann.

Breit sind auch die Einsatzmöglichkeiten für Absolventen und Einsteiger: "Wir suchen für den zentralen Servicebereich Informatik ebenso wie zur Unterstützung anderer Geschäftsbereiche und für SAP-Projekte im gesamten Unternehmen", gibt Wolfgang Ahrens vom Bereich Informatik, Engineering and Maintenance Systems einen Überblick.

130 Absolventen haben in den beiden vergangenen Jahren ihren ersten Arbeitsplatz bei Bayer gefunden und Stellen für Einsteiger sind auch in diesem Jahr noch zu haben. "IT-Berufsanfänger sind heute so gefragt, dass sie sich ihren Job überall aussuchen können", weiß Ahrens. "Da denken viele eben nicht sofort an ein Chemieunternehmen."

Deshalb weicht nicht nur der Riese aus Leverkusen auf verwandte Berufe und Ausbildungsgänge wie Mathematiker oder Physiker aus. Auch bei den anderen namhaften Unternehmen werden Quereinsteiger mit IT-Hintergrund gerne willkommen geheißen. Ohnehin zählt bei den meisten nicht mehr nur der formale Abschluss allein. Wichtig sind die so genannten "weichen" Faktoren wie Teamfähigkeit, Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung, Kundenorientierung und ein Denken in wirtschaftlichen Zusammenhängen. Das wird nicht nur in Vorstellungsgesprächen und Interviews erfragt, sondern auch in der engen Zusammenarbeit zwischen Hochschule und Unternehmen schon erarbeitet, weiß Wolfgang Ahrens, der selbst einen Lehrauftrag an der RWTH Aachen, am Lehrstuhl für Prozessleittechnik, hat.

"Wir arbeiten mit vielen Hochschulen gut und praxisnah zusammen, betreuen Werksstudenten und Diplomarbeiten", gibt der Chemie-Manager einen Überblick. Auch damit soll die oft beklagte "Theorielastigkeit" des Studiums abgewendet und der Nachwuchs frühzeitig an die Anforderungen eines Wirtschaftsunternehmens herangeführt werden.

Auslandsaufenthalt als Selbstverständlichkeit

Wer die Scheuklappen beiseite gelegt und die Chancen erkannt hat, die ein international agierendes Unternehmen bietet, darf sich durchaus gute Karrierechancen ausrechnen. Denn die Berufseinsteiger mit akademischem Abschluss können sich Chancen ausrechnen, innerhalb weniger Jahre Führungspositionen zu bekleiden. Jobrotation und Auslandsaufenthalte sind da eine Selbstverständlichkeit, Sprachkenntnisse vor der Bewerbung allerdings auch.