Mobile Strategy

Unternehmensführung in Zeiten des Tech-Tornados

19.01.2016
Von 
Mobile Strategy Consultant bei MWC.mobi und Buchautor

Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert

Apples bekannter Slogan aus dem Jahr 2009 betrifft längst alle Branchen.
Apples bekannter Slogan aus dem Jahr 2009 betrifft längst alle Branchen.
Foto: Apple

Alles, was digitalisiert werden kann, wird auch digitalisiert. Dabei vollzieht sich die Digitalisierung in Wellen. Waren es zunächst die Musikindustrie, das Filmgeschäft, Verlage und der Handel, so sind mit Phänomenen wie FinTech, Industrial Internet und 3D-Druck jetzt auch klassische Branchen wie der Bankensektor, der Maschinenbau und die Medizintechnik betroffen.

Erste Ziele der Disruptoren sind die Ineffizienzen im Kundenservice. Diese sind besonders leicht mit adäquaten Mobile Apps anzugreifen. In der On-Demand-Economy kreieren die digitalen Aggressoren Mobile Apps mit entsprechenden Algorithmen und effizienter Inkasso-Funktion und vergüten die Heerschar an freien Dienstleistern mittels Provision: Anwälte? UpCounsel. Berater? Eden McCallum. Boten? IBM. Butler? Alfred. Büromakler? WeWork. Fahrer? Uber. Köche? SpoonRocket. Programmierer? TopCoder. Putzfrau? Helpling. Vertriebler? Universal Avenue.

Es geht dabei um Produkt- und Dienstleistungs-, immer mehr aber auch um Prozessoptimierung (Personalisierung des Kundenservice im Pre- und After-Sales, Wartung, Fehleranalyse, Dokumentation). Die erstgenannten Branchen werden schon von einer zweiten Welle getroffen. Die Verlagerung der Mediennutzung vom stationären Web auf Smartphones & Co. verändert alleine in Deutschland das Informations-, Kommunikations- und Konsumverhalten von Millionen Menschen.

Die zweite Gruppe wird die disruptive Welle des Mobile Tsunami umso härter treffen. 90 Prozent der Millennials in den USA (also der Generation, die in den 20 Jahren vor der Jahrtausendwende geboren ist) sind laut The Millennial Disruption Index überzeugt, dass der Bankensektor seismischen Veränderungen unterliegen wird. Und das im Gesundheitssektor Optimierungs- und Wertschöpfungspotenziale zur Eroberung brachliegen, ist offensichtlich. So ziemlich jede Beratungsfirma mit IT-Sektor-Kompetenz hat in den letzten Jahren Hitlisten der Digitalisierungs-Champions veröffentlicht und entsprechende Reifegrade vergeben. Die Boston Consulting Group hat sieben deutschen Kernindustrien (Logistik, Auto, Maschinenbau, Handel, Telekommunikation/Internet/Medien/Entertainment aka TIME, Finanzdienste und Gesundheit), die zusammen 80 Prozent der DAX- und 70 Prozent der MDAX-Unternehmen repräsentieren, ein am jeweiligen digitalen Vorbild gemessenes Reifezeugnis der Digitalisierung vergeben.

Gerade die vier zuletzt genannten Branchen, die bis 2020 am stärksten von der totalen Umwälzung durch die Digitalisierung betroffen sein werden, sind am weitesten entfernt von ihren digitalen Benchmarks. Wirklich kritisch für den Erhalt des Wohlstands im Industriestandort Deutschland ist aber die Wandlungsfähigkeit der zum Teil über 100 Jahre alten Branchen Automobil, Maschinenbau, Elektronik und Chemie. In der DNA dieser durch Premiumpositionierung und Produkt-Einzigartigkeit geprägten Kernbranchen liegt das Schaffen von Wertschöpfung durch ständige Veredelung gepaart mit der Produktionskompetenz der Fachkräfte.

Die im Zuge der Digitalen Transformation erforderliche Innovationselastizität an eben diese Industriesparten ist weit höher als diejenige, die bei der Einführung der Industrieroboter Ende der 70er Jahre gefordert war. Bei der Integration von SILICON VALLEY Basisinnovationen in die eigenen Produkte geht es um die besten digitalen Service-Pakete, die Entwicklung der ausgeklügeltsten Geschäftsmodelle und um Geschwindigkeit. Nur leider trifft hier eine "Welt der ultrakurzen Produktlebenszyklen, permanenten Reorganisationen und blitzschneller Strategieschwenks" auf das gemächliche deutsche Industriemodell.

Die schon berühmte German Angst vor Veränderung trifft zudem noch auf einen zähen Föderalismus, eine schlechte Internet-Infrastruktur und fehlendes Wagniskapital. Die digitale Leistungsfähigkeit leidet so sehr, dass sich unter den von McKinsey weltweit ermittelten Top 50 der dynamischsten Börsenunternehmen (den sogenannten Aggressive Leaders; Maßstab: profitables Wachstum) mit SAP (Platz 16) und BMW (Platz 48) nur zwei deutsche Firmen wiederfinden, unter den Top 100 immerhin noch VW (55), Daimler (72) und Bayer (75). Vor allem Firmen aus den USA, China, Indien und Südkorea geben die Pace vor - in Branchen wie Pharma, Biotech, Software und IT, die es in Deutschland abgesehen von den berühmten Ausnahmen eher schwer haben.

ist offensichtlich. Marken müssen in Zeiten von Always-on Konsumenten immer präsent sein. Aber erst die 3C von Mobile (Client, Connectivity, Cloud) haben RTM in der Now Economy und disruptive Dienste wie die genannten ermöglicht. Es bedarf einer ausgereiften Technologie (Mobilfunk, Cloud-Computing) und einer weitverbreiteten Plattformbasis (Smartphones, App Stores), um Geschwindigkeit und eine entsprechende Adaption exzellenter Dienstleistungen zu ermöglichen.Google entscheidet, in einen Markt einzusteigen und ihn von innen heraus mit digitalen Services zu erobern - Hat das Produkt oder die Dienstleistung weltweit so viel Nutzer wie eine Zahnbürste und können Informationen so neu organisiert werden, dass die via Datenanalyse so gewonnenen Erkenntnisse zu einem verbesserten Kundenerlebnis führen? -, dann kann einem mulmig werden ob der vielen noch offenen Angriffspunkte. Tim Adams vom Guardian hat in einem lesenswerten Essay aufgeschrieben, wohin das noch führen kann.

Die gemächliche Digitalisierung erklärt auch das im Vergleich zu Vorreiter-Märkten wie UK oder USA geringe Digital-Spending in Online- und vor allem Mobile-Werbung. Staat und Wirtschaft in Deutschland müssen erkennen, dass die Digitalisierung "Zugang zu intelligenten Instrumenten, Automatisierungs-, Produktions- und Vernetzungstechnologien wie auch Zugang zu global verteilter Information, Wissen, Kompetenz, Ressourcen, Arbeitspartnern und Märkten" ermöglicht oder erleichtert.

Für alle Beteiligten in Wirtschaft und Verwaltung gilt, dass die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Mobile Tsunami keine ausgedehnten Surflehrer-Stunden zulässt. Man muss sich schon in die Wellen stürzen und bereit sein, schnell sein Geschäftsmodell zu adaptieren oder gar radikal zu ändern - eine Fähigkeit, die amerikanischen Gründern in die Wiege gelegt wird und mit Pivoting bezeichnet wird. Die Aussage "We pivoted!" ist im Gegensatz zur deutschen Gründerkultur eine Auszeichnung und notwendige Qualifikation für die nächste Entwicklungsstufe, denn ein "Geschäftsmodell zu verteidigen ist altes Denken, es frontal zu attackieren mit dem Ziel, es zu zerstören, die avancierte Form von Management". Auf Disruption gibt es keine wirklich angemessene Reaktion, auf den Mobile Tsunami aber kann man sich vorbereiten.