Deutschland verschläft die digitale Revolution

Unternehmen könnten Wettbewerbsvorteile verspielen

02.01.2015
Von 
Martin Bayer ist Chefredakteur von COMPUTERWOCHE, CIO und CSO. Spezialgebiet Business-Software: Business Intelligence, Big Data, CRM, ECM und ERP.

Industrie 4.0 verändert auch den Arbeitsmarkt

Auch auf dem Arbeitsmarkt dürfte die Digitalisierung deutliche Spuren hinterlassen. Die angestrebte Automatisierung werde mehr und mehr Arbeitsschritte an Maschinen übertragen, prognostiziert Bremicker. Der Mensch werde künftig Aufgaben übernehmen, die in der Entwicklung, der Konzeption, der Konstruktion und der Wartung der Systeme liegen. Diese Aufgaben erforderten von den Beteiligten anderes Wissen als vom Bediener des Systems. Gewerkschafter wie der IG-Metall-Chef Detlef Wetzel warnen vor einer gewaltigen Automatisierungswelle und dem daraus resultierenden massiven Arbeitsplatzverlust, "wenn Maschinen Arbeiter ersetzen". Bei der Umstellung auf Industrie 4.0 müssten Unternehmen ihren Beschäftigten mehr Mitbestimmung einräumen, forderte Wetzel kürzlich. Die Arbeitgeber hätten die Pflicht, sich um die Weiterbildung ihrer Belegschaften zu kümmern, damit diese die Digitalisierung gut meisterten: "Die Menschen müssen die Technik gestalten - nicht umgekehrt."

Auf der anderen Seite sieht auch der Gewerkschafter das Potenzial. Die Digitalisierung der Industrie biete die große Chance, die Vereinbarkeit von Arbeit und Leben besser hinzubekommen. Insgesamt scheinen Jobsorgen im Zusammenhang mit Digitalisierung eher die Ausnahme zu sein. Eine Bitkom-Umfrage kam kürzlich zu dem Ergebnis, dass mehr als acht von zehn Beschäftigten (83 Prozent) ihren eigenen Job nicht durch den verstärkten Einsatz von Computern und Robotern bedroht sehen. Die Digitalisierung verändere unsere Wirtschaft und unsere Arbeitswelt grundlegend, sagte Bitkom-Präsident Kempf. Computer und Internet seien inzwischen wichtiger Bestandteil vieler Berufe. "Die Digitalisierung ermöglicht völlig neue Geschäftsmodelle, und es entsteht eine Vielzahl neuer Jobs."

Auf diesen Effekt hoffen auch die Politiker. Natürlich fielen im Bereich der Industrie durch das "Internet der Dinge" an einigen Stellen Arbeitsplätze weg, stellte jüngst Bundeskanzlerin Angela Merkel fest. "Wenn wir es aber geschickt machen und die Chancen der Digitalisierung nutzen, dann haben wir alle Chancen, zum Schluss mehr Arbeitsplätze zu haben und nicht weniger."

Industrie 4.0 - auf Druck der Kunden

Bis sich Industrie 4.0 als flächendeckender Trend durchgesetzt hat, wird wohl noch einige Zeit vergehen, glaubt KPMG-Partner Bremicker. Die MHP-Studie gelangt zu dem Fazit, dass Industrie 4.0 bei einem beachtlichen Teil der befragten Manager noch gar nicht angekommen ist. Bisher fielen die Investitionen eher niedrig aus. Doch das müsse sich ändern. In den Unternehmen bestehe bereits heute ein großer Bedarf an Industrie-4.0-Konzepten. Fähigkeiten wie eine schnellere Reaktion auf Kundenanforderungen, eine zunehmende Flexibilität sowie die Verkürzung der Time-to-Market würden immer wichtiger. Genau diese Fähigkeiten müssten ausgebaut werden, um Wettbewerbsvorteile zu schaffen.

"Industrie-4.0-Konzepte müssen transparenter und bekannter werden", sagt Oliver Kelkar, verantwortlich für den Bereich Innovations-Management bei MHP und Autor der Studie. Der Nutzen für die Unternehmen müsse greifbar sein. Dabei seien Politik, Verbände, Technologie-Anbieter, Dienstleister und implementierende Industrieunternehmen gleichermaßen gefordert. "Das größte Risiko besteht darin, zu langsam zu agieren und damit wertvolle Wettbewerbsvorteile zu verspielen."

Die Experten sind sich einig, dass das Thema nicht endlos diskutiert werden darf, sondern zügig Fortschritte in der Praxis erzielt werden müssen. Dringend notwendig seien eine Investitionsplanung und eine Industrie-4.0-Strategie, sagt KPMG-Mann Bremicker. Die notwendige Technik sei in vielen Teilen schon vorhanden. Unternehmen unterschätzten jedoch die Komplexität und den Aufwand, alle Systeme miteinander zu vernetzen. Dabei steige die Gefahr, dass Deutschland den Anschluss verliere. Um Industrie 4.0 umzusetzen, bedarf es einer gemeinschaftlichen und konstruktiven Anstrengung aller Akteure - und das muss schnell und zielorientiert geschehen. "Wenn wir Industrie 4.0 nicht umsetzen, dann machen es andere", warnt Bitkom-Präsident Kempf. "Und wenn wir es umsetzen, müssen wir es schnell tun, denn unsere globalen Wettbewerber sind längst aktiv."