Der Gastkommentar

Unix als Strohhalm: DOS verläßt die Bühne und nimmt Novell mit

20.03.1992

Dr. Franz-Joachim Kauffels Unabhängiger Unternehmensberater

In diesem und anderen Print-Medien, auf Messen, Kongressen und wo es sonst noch geht, kursierten Fakten und Gerüchte, Ankündigungen und Verschiebungen (im letzten halben Jahr) um das Thema "Novell und Unix". Davon spricht die Fachwelt allerdings schon seit fünf bis sechs Jahren. Spätestens seit der Ankündigung von "Portable Netware" und der damit verbundenen Gefahr, daß dadurch Unix-Rechner entwertet würden, wissen wir, daß die hemmungslose Ausbreitung dieses "Betriebs"-Systems die Grenzen des guten Geschmacks schon längst hinter sich gelassen hat.

Die scheinbar ultimative Trutzburg IBM ist gefallen, zur Strafe dürfen die blauen Recken jetzt auch Netware verkaufen. Rot/Weiß und Blau/Weiß sind keine Tennisclubs, sondern wesentlich mitgliederstärkere Anwendergemeinden. Nachdem Microsoft und IBM mit der ungeschicktesten Marketing-Strategie seit Erfindung der Bits den LAN-Manager in das Nirwana geschickt haben, ist Novell unangefochtener Marktführer.

Warum kuschelt sich plötzlich Novell mit Verträgen und vielfältigen unübersichtlichen Allianzen - es gilt die Regel: Allianz, Redundanz, Firlefanz! - unerbittlich an die Unix-Szene? Der sensible Unix-Freund befürchtet Schlimmes. Ich glaube, man kann ihn beruhigen.

Ansicht des Autors ist nämlich, daß Novell ganz dringend einen strategischen Rettungsanker braucht. Zur Begründung muß ich etwas ausholen.

Betriebssysteme gibt es schon seit 40 Jahren, nicht gerade lange im Vergleich zur Evolutionsgeschichte. In den frühen 50er Jahren begannen sie als Stapelverarbeitungssysteme, die nicht mehr konnten, als Programme zu laden und I/0-Einheiten zu verwalten. Ziel und Vision damaliger Systeme war bereits das automatisierte Management.

Die Einsicht war einfach: Das einzige System, das in der Lage ist, einen Computer schnell genug zu verwalten, ist ein Computer. Idealerweise sollte das Betriebssystem ein Programm sein, welches Eingriffe von Menschen überflüssig macht. Dieses Ziel stand noch in den 60er Jahren im Brennpunkt des Interesses. Die Aufmerksamkeit der Entwickler wurde erst durch die Hardware-Entwicklungen der beiden folgenden Jahrzehnte in eine andere Richtung gelenkt.

Ein "richtiges" modernes Betriebssystem ermöglicht Multitasking und Multiuser-Betrieb. Das kleinste der gängigen bekannten Betriebssysteme mit dieser Eigenschaft ist Unix. Die 70er Jahre brachten Minicomputer mit interaktiven Time-Sharing-Betriebssystemen hervor, eben Unix.

Dazu kam die neue Technik der LANs, in deren Folge neue Entwicklungen für verteilte Betriebssysteme begannen.

Im Grunde spaltet sich hier die Entwicklung in drei Bereiche:

- Systeme für PCs und für PCs im LAN,

- Systeme für üblicherweise LAN-vernetzte Workstations und Minis sowie

- Systeme für Großrechner mit Timesharing.

Das populäre sogenannte Betriebssystem DOS ist jedoch nichts anderes als ein Tastaturtreiber. Ihm fehlen praktisch alle Eigenschaften und Funktionen eines richtigen Betriebssystems. Der Benutzer muß selbst alle Aktivitäten überwachen ("automatisierter" Betrieb), das Programm kennt nur einen Benutzer, nämlich den, der gerade am PC sitzt - wer das ist, ist egal, und es denkt gar nicht an die Möglichkeit, im LAN von sich aus zu kommunizieren. DOS ist die Gummiente des Informationszeitalters.

Ohne Novell und Netware hätte sich, und das muß hier einmal in aller Deutlichkeit hervorgehoben werden, die PC-LAN-Entwicklung nicht so vollzogen, wie dies geschehen ist. In älteren Büchern (auch dieses Autors) findet sich eine ganze Kollektion untauglicher Versuche, DOS im Netz Leben einzuhauchen. Hervorzuheben sind jene Varianten, bei denen DOS das dominierende System im Server sein sollte (3Com mit 3+ und IBM mit dem PC-LAN-Programm).

Novell hat als erster von Anfang an konsequent den Weg verfolgt, DOS aus dem Server zu verbannen und auf den Server-Maschinen ein Betriebssystem zu installieren, welches die Grundfunktionen einer vernetzten Umgebung realisiert. Von Version zu Version kamen nützliche Funktionen hinzu, und die hemmungslose Ausbreitung resultiert einfach aus immensem Bedarf einerseits und mangelnden Alternativen andererseits - wie immer im Leben.

Minis, PCs und LANs brachten inzwischen jeweils eigene spezialisierte Betriebssysteme hervor. Minis glänzen mit Unix und Derivaten, PCs können sich immer noch nicht zwischen DOS, Windows, OS/2 und Unix entscheiden. Für LAN-Systeme wird Novells Netware favorisiert.

Jedesmal unterschieden sich diese Systeme zwar von ihren unmittelbaren Vorgängern, aber eher evolutionär als revolutionär. Das hat zur Folge, daß Benutzer vom PC bis zum Superrechner im Grunde das gleiche Betriebssystem sehen. Hardware-Innovationen haben zwar zu Betriebssystem-Erweiterungen geführt, nicht jedoch zu wirklich neuen Betriebssystemen.

Eine Perspektive ist sicherlich, daß, abgesehen von unerwarteten Hardware-Entwicklungen, nicht viel passieren dürfte. Ausnahmen werden wohl bei den Betriebssystemen auch in den nächsten Jahren außer signifikanten Verfeinerungen etwa bei der Unterstützung von Parallelverarbeitung, Dateisysteme mit expliziten Schutzmechanismen und Echtzeitverarbeitung sein.

Die Betriebssystem-Basistechnologie ist derart ausgereift, daß die DV-Gemeinde auf Standards wie IEEE P1003 setzen kann. Auch die Microkernel-Technologie, die bereits über ein Jahrzehnt erfolgreich in der Forschung eingesetzt wird, könnte endlich den normalsterblichen Endanwender erreichen. Die Folge wäre eine sauberere Struktur für die Etablierung neuer und die Revision alter Dienste. Vielleicht wird die Microkernel-Technologie sogar zum Abbau der heute am Markt zu beobachtenden Trägheit beitragen, die durch das Verlangen nach Koexistenz alter und neuer Dienste und Schnittstellen auf derselben Plattform entsteht.

Eine andere Perspektive für die 90er Jahre ist jedoch die intensive Weiterentwicklung des automatischen Managements. In den letzten 20 Jahren waren die Betriebssystem-Konstrukteure so sehr mit der Reaktion auf neue Technologie-Entwicklungen beschäftigt, daß sie ihre eigentliche Mission, das automatische Management von Systemen, vernachlässigt haben.

Es ist davon auszugehen, daß Netware, Novells Hauptprodukt, relativ eng an DOS gebunden ist, weil zum Beispiel Unix-Systeme über Elemente der TCP/IP4-Protokollfamilie von sich aus kommunizieren können. OS/2 ist als DOS-Nachfolger beim Kunden vor allem deshalb aufgelaufen, weil es, von etwas Schnickschnack abgesehen, nichts Neues brachte, also etwa Manta GSi statt Manta B, um die Autowelt zu zitieren.

Im Gegensatz zu den Manta-Fahrern werden die DOS-User DOS fallenlassen wie eine heiße Kartoffel, wenn man ihnen etwas Besseres bietet. DOS ist noch einmal davongekommen dank Windows, das auf das PC-Betriebssystem aufsetzt - was genausogut auch hätte anders sein können.

DOS kann nicht ewig leben, da mit immer leistungsfähigeren Arbeitsplatz-Rechnern die Notwendigkeit für einen System-Schrumpfkopf entfällt und mittlerweile Benutzer etwas höhere Anforderungen haben. Nachfolger wird kaum OS/2 werden, sondern eher eine weiterentwickelte Unix-Variante, die grafische Oberflächen mit Objektorientiertheit und hoher Konnektivität verbindet. Ein Beispiel wäre hier die Pink-Entwicklung von IBM und Apple.

Bei Apple-Rechnern reicht es schon seit langem, sie einfach zusammenzustecken, damit die Software im Netz arbeitet - ohne Novell. Unix-Systeme lassen sich schon lange zusammenschalten, so daß sie über TCP/IP oder intelligentere Konstruktionen wie DCE von der OSF kommunizieren ohne Novell. Verteilte Betriebssysteme sind in der Entwicklung, die das Netz und die Rechner in ihm als Ganzes sehen - ohne Novell. Und DOS verschwindet - mit Novell! Es sei denn, sie lassen sich etwas anderes einfallen. (Vom Fuchsschwanz für den Manta-Manni zum dezenten Ringelschwanz für den G-G-Gerhard (G-G = Golf-G-Lader).

Es sind nach Meinung des Autors nicht die geschilderten absehbaren, langsamen Entwicklungen, die Novell den Angstschweiß auf die Stirn treiben. Es könnte andere üble Überraschungen geben:

- eine netzwerkfähige Version von Windows, bei der eher Peer-to-Peer-Kommunikation statt Client-Server gefragt ist - das Funktioniert sicher ohne Netware,

- Marktdurchbruch billiger Groupware für Workgroup-Computing a la Lotus Notes, nur billiger; auch solche Produkte brauchen eigentlich nur noch Remote Procedure Calls, kein Netware.

Die japanischen Unterhaltungsgeräte-Giganten lassen die Produktionsstraßen für multimediale Workstations mit RISC-Architekturen oder ähnlichen Techniken zum Preis einer Videokamera anlaufen. Betriebssystem ist hier eine modifizierte Unix-Version, sie kommuniziert auch ohne Netware. Novell-Chef Ray Noorda & Co. sind sicherlich weder dumm noch kurzsichtig. Deshalb sehen sie, daß sie ihren jetzigen Markt durch natürlichen Schwund oder Revolution verlieren. Die Angliederung an Unix-Firmen ist also verständlich. Doch was kann Noorda diesen Unternehmen eigentlich anbietend Antwort: einen relativ reibungslosen Übergang zur bestehenden DOS-Gemeinde. Wenn aber dieser Übergang geschafft ist, was wird dann wohl aus Novell? Wir wissen es nicht. Ein Jahrzehnt geschickte und flexible Anpassungsstrategie sind allerdings auch für die Zukunft ein gutes Rüstzeug.