Umstrittenes DOSRelease 30

21.03.1975

Computerwoche ging den zahlreichen Gerüchten nach, daß IBM-Anwender Schwierigkeiten mit der jüngsten Version des Betriebssystems DOS/VS, Release 30 haben. DOS-Anwender wurden befragt, ebenso Hersteller unabhängiger System-Software, auch in inoffiziellen Kontakten IBM-Techniker. Das Ergebnis: Vor DOS/VS Release 30 wird gewarnt!

MÜNCHEN - Das DOS, Release 28 (ausgeliefert seit Oktober 73) brachte den Anwendern zahlreiche Vorteile: VS, 5 Partitions und automatische Einheitenzuordnung. Auch die Version 29 (ausgeliefert seit März 74) stieß im Feld auf viel Gegenliebe: Neue Job-Control-Logik, die die Bibliotheken effizienter verwaltet, zudem unter vielen weiteren Features einen besonders schnellen Programm-Lader. Die neuen Merkmale des DOS, Rel. 30 (ausgeliefert seit Dez. 74) - in erster Linie rotational Position Sensing, das zu verkürzten Plattenzugriffen und somit geringerer Kanal-Belegung führt - waren aber vermutilch nicht der Haupt-Entscheidungsgrund für die Wahl vieler Anwender, gleich das jüngste DOS-Release zu wählen. Vielmehr folgten sie in der Regel dem Rat der IBM-Vertriebsbeauftragten und übersprangen mehrere DOS-Versionen, um im 30 die vorgenannten Vorteile alle gleichzeitig zu realisieren. Dahinter steckte harte IBM-Vertriebsstrategie: Die Kunden sollten für neue, lizenzpflichtige Software (VSAM, CICS/VS, POWER/VS) vorbereitet werden. Dieser Rat kam teuer zu stehen.

Klaus Danecki, Chefprogrammierer der Raab Karcher GmbH, Essen, bezeichnet Release 30 schlichtweg als "nicht ausgereift". Drei Wochen brauchten drei Systemprogrammierer, um ihre Anlage zum fehlerfreien Laufen zu bringen. Danecki: "Bei uns ging immer wieder der Sort kaputt, das war katastrophal. Utilities konnten nicht abgebrochen werden, Fehlermeldungen fehlten!"

Peter Vogler, Leiter der Systemprogrammierung bei der Münchener Maschinenfabrik Carl Hurth ging dem Rate IBM's folgend von Release 27 auf 30, vor allem um auf 3330-Platten umstellen zu können. Das System überrascht seither durch immer wieder auftretende Waits und Loops.

"Wir hatten erheblich längere Laufzeiten für unsere Anwendungsprogramme, wobei diese Verzögerungen nicht allein aus dem Paging zu erklären waren." Der Einsatz des Spooling-Systems Power/VS hatte schlimme Folgen: Bei größeren List-Ausgaben wurden immer wieder ganze Seiten verschluckt. "Das hatten wir doch anfangs gar nicht kontrolliert und fielen aus allen Wolken, als sich die Fachabteilungen beschwerten." Nächtelang wurden bei Hurth PTF-Notverbesserungen "eingebastelt". Zum Schluß entschied man sich, Power/VS zu canceln und GRASP/VS anzumieten.

Ein Anwender aus der Versicherungsbranche, der namentlich nicht genannt werden will, weil "IBM bei uns im Hause sehr stark ist" berichtet, daß es immer wieder Waits und Loops im Supervisor gab, weil der Page Manager Fehler machte, Irrtümer gab es auch bei der Checkpoint-Schreibung, bei Sorts über mehrere Rollen gab es - wenngleich nicht mit Regelmäßigkeit - Abbrüche bei Übergang auf Rolle 2.

Computerwoche konnte weiterhin in Erfahrung bringen:

Beim Fast Copy wurden Überlaufspuren nicht verarbeitet. Bei Sort/ Merge gingen Programme in den Walt-Status. Schwierigkeiten wurden auch beim Einsatz des Cobol-Compilers berichtet. Fehler auch bei Multitasking. Übereinstimmende Meinung der befragten Release 30-Pioniere war, daß sie bisher kein IBM-Release erlebten, das so viele Fehler hat. Das ständige Nachliefern von PTFs, die keineswegs bei allen Anwendern einheitlich sind und auch von Geschäftsstelle zu Geschäftsstelle variieren, erzeugt vielfach wieder neue Fehler bei gerade korrigierten Problemen, so daß es zu einer Verfilzung kleinerer überlagerter Probleme kommt.

IBMer selber bezeichnen die jüngste DOS/Version als das "ungeliebte Release". Aus neuester Erkenntnis raten Sie heute möglichst davon ab, Nr. 30 zu installieren. Vielmehr wird jetzt auf Release 31 gewartet, das bei fünf Kunden bereits probeweise installiert werden soll. Diese Anwender haben alle ständig einen IBM-Software-Techniker im Hause.

Robert C. Chapman, Director for Information Services bei der Avon Kosmetic GmbH bei München, berichtet über die Erfahrungen seiner britischen Avon-Kollegen, die Release 30 wählten, um Power/VS zu testen. Bis vor zwei Wochen gab es in Northhampton außergewöhnlich häufige Schwierigkeiten, die zu zahlreichen PTF- Einspielungen führten. Dann allerdings starteten die IBM-Techniker neu und brachten ein Release-Tape 3. 7408 mit, das die gesammelten PTFs zum 3 Release umfaßt. Seither sind die Schwierigkeiten behoben. Aus England verlautet, daß das Release 31 im Juli, möglicherweise noch im Juni freigegeben wird. Robert C. Chapman freut sich: "Bin ich froh, daß wir noch Release 27 fahren. Wenn es aber das 31 geben wird, machen wir den großen Sprung nach vorn."