Übertreiben wir die Dialogisierung?

11.07.1986

Professor Dr. Peter Mertens, Betriebswirtschaftliches Institut der Universität Erlangen-Nürnberg

Ein Symptom: Bücher wie "Elektronische Arbeitsplatzorganisation in der Praxis" oder "Elektronische Stücklistenorganisation in der Praxis" sind wie auch "Stücklisten- und Arbeitsplatzorganisation mit Bildschirmeinsatz" von Autor Bruno Grupp, beachtete Titel geworden.

In den von IBM angebotenen PPS-Modularprogrammen "CIass", "Pics" und "Capos" wurde sehr viel Entwicklungsaufwand und Programmcode darauf verwandt, günstige und relativ betriebs- und situationsabhängige Algorithmen zur Maschinenbelegung bereitzustellen. Derartige Systeme gelten weitgehend als out. Sucht man auf der Systems oder auf der Hannover-Messe nach Neuem auf dem PPS-Sektor, so findet man sich auf Ständen wieder, wo im Dialog mit Personal Computern und mit viel liebevoll erdachter Grafik Maschinenbelegungspläne erzeugt werden, fast ohne jede Rechenmethode im Hintergrund.

In fortschrittlichen Betrieben praktiziert man die belastungsorientierte Auftragsfreigabe. Auf der Grundlage weniger Parameter werden die produktionsreifen Betriebsaufträge ausgewählt und freigegeben. Oft sitzen ein Disponent beziehungsweise Leitstands-Mitarbeiter und ein Meister vor dem Bildschirm und einigen sich auf die freizugebenden Lose.

In den 70er Jahren erschienen in der theoretischen und in der Praktiker-Literatur Überlegungen und Vorschläge, wie man zumindest für C-Teile die Lieferantenauswahl automatisieren könne.

Heute werden Systeme angeboten, bei denen eine Vielzahl von Informationen auf den Bildschirm geholt werden kann, mit denen sich der Einkaufs-Sachbearbeiter den Lieferanten selbst auswählt; einen maschinell erzeugten Vorgang gibt es nicht. Wünscht man es eleganter, so spielt man den Vorgang in den elektronischen Briefkasten eines Kollegen oder Vorgesetzten, der rasch seine Bewertung hinzugeben kann. Vielleicht steuert ein zentrales Programm diesen im Kern personellen, wenn auch DV-gestützten Vorgang. Derartige Lösungen haben zwei Wurzeln.

Erstens: Die allgemeinen Fortschritte der Datenverarbeitung haben die Dialogverarbeitung sehr erleichtert und verbilligt, so daß man sich ihrer bedenkenloser bedient als früher.

Zweitens: Die für starker automatisierte Prozeduren notwendigen mathematischen Verfahren der 70er Jahre erwiesen sich im Vergleich zur Problemlösungsfähigkeit des Menschen als zu begrenzt - Enttäuschungen waren einprogrammiert.

Nun gilt es aber zu bedenken, daß Mensch-Computer-Dialoge zwar die Sachbearbeiter-Tätigkeit erleichtern mögen, verglichen etwa mit dem mühsamen Zusammensuchen von Informationen über das bisherige Verhalten eines Lieferanten hinsichtlich Lieferpünktlichkeit und Qualität aus dicken Ordnern oder vielleicht auch verglichen mit dem Ausprobieren alternativer Maschinenbelegungsplätze an Wandtafeln. Jedoch wird im Dialog nach wie vor viel menschliche Arbeitszeit gebunden, jedenfalls weit mehr als bei einer vollautomatischen Disposition, die auch im Stapelbetrieb ablaufen kann. Damit stellt sich die Frage, ob es der Weisheit letzter Schluß ist, immer mehr Stapelverarbeitungsprogramme durch Dialogprogramme abzulösen. Für den PPS-Bereich würde das bedeuten, daß am Ende die physische Fertigung vollautomatisiert, die Fabrik menschenleer sein würde, aber auf dem Leitstand arbeitete eine große Zahl von Leuten im weißen Kittel an den Terminals - ein wenig wahrscheinliches Szenario; denn irgendwann käme dann eine Bewegung Leitstands-Rationalisierung, vergleichbar der Gemeinkostenanalyse. Eingeleitet würde diese Bewegung dadurch, daß Unternehmensberater eindrucksvolle Kennzahlen publizieren, um wieviel Prozent in den letzten zehn Jahren die Produktivität in der Fertigung selbst zugenommen hat, während sie gleichzeitig in der Disposition um viele Prozent gesunken ist.

Man kann argumentieren, daß die heutige Situation mit der in den 70er Jahren, als wir mit den in die Stapelverarbeitung eingebetteten Dispositionsrechnungen Enttäuschungen erlebten, nicht vergleichbar ist. Insbesondere müßte man heute viel weniger als damals mit den für die Methode selbst benötigten Speicherkapazitäten oder Rechenoperationen geizen, im Gegenteil, man könnte fast aasen. Warum nicht schnell einmal 1000 alternative Maschinenbelegungen durchsimulieren, wenn das PPS-System ohnehin auf einer 10-Mips-Maschine läuft? Natürlich müßte sich der Simulation eine intelligent konzipierte automatische Bewertung der Resultate anschließen, die die unter den aktuellen Bedingungen günstigste Belegungsvariante auswählt.

Warum nicht schnell einmal ein lineares oder gar ein nichtlineares Programm rechnen?

Wir erleben heute, wie für die Computergrafik, die Mustererkennung, das Routing in Übertragungsnetzen, die Kryptografie raffinierte "schnelle" Algorithmen eingesetzt werden; absurd wäre der Gedanke, die Rechenmethoden von gestern zu nehmen, dafür die Hauptspeicherbereiche von gestern zu reservieren und den unerledigten Rest den Menschen disponieren zu lassen, wenn auch in einem Dialog, bei dem viele Informationen auf den Schirm gerufen werden können. Warum suchen wir nicht auch für die Maschinenbelegung, die Lieferantenwahl, die Liquiditätsposition, die Verschnittminimierung etc. nach neuen, schnellen Rechenverfahren, die die Komplexität der betrieblichen Wirklichkeit besser ausbilden, als es die alte Generation von Algorithmen konnte? Und wenn man dann für die PPS-Systeme noch größere Hauptspeicher oder sogar Zusatzprozessoren (attached processors) braucht - womöglich rechnet es sich auch für den Controller im Betrieb leicht. Die Operations-Research-Forscher hätten hier eine fruchtbare Aufgabe, vielleicht auch viele Wissenschaftler und Forschungsgeld-Geber, die sich jetzt aus zu den Expertensystemen hingezogen fühlen. Die Entwicklungskapazitäten scheinen mir also vorhanden, es fehlt an der Definition von Anforderungen.

Selbst für die (nicht seltenen) Fälle, in denen ein Unternehmen aus guten Gründen die endgültige Dispositionsentscheidung nicht einem Computer anvertrauen und deshalb beim Dialog bleiben will, lassen sich effizientere Lösungen denken als viele er jetzt angebotenen Dialoge: Zum einen könnte das DV-System mehr als bisher "die Partie eröffnen", indem es nicht einfach unkritisch eine Vielzahl von Alternativen zur Auswahl stellt, sondern eine gute Lösung zusammen mit der Begründung anbietet, warum diese und nicht eine andere, die auch denkbar oder naheliegend wäre. Zum anderen könnte man versuchen, in einem besonderen Speicher festzuhalten, bei welchen Datenkonstallationen der menschliche Disponent welche Entscheidungen getroffen hat, und dann eine Art statistische Lernprozedur programmieren, die es erlaubt, allmählich immer mehr Dialoge abzuschaffen und durch automatische Disposition zu ersetzen.