Collaborative Commerce und E-SCM

Übergreifende Abläufe erfordern ein Prozess-Management-System

26.01.2001
Die größte Herausforderung in Bezug auf E-SCM und Collaborative Commerce bereitet den Unternehmen die Integration der Partner auf Prozessebene. Bevor nicht die einzelnen Geschäftsprozesse und deren strategische Relevanz in einer Art Masterplan festgeschrieben sind, wird die technische Integration Externer keine nennenswerten Vorteile in der Geschäftsabwicklung bewirken oder sich allenfalls auf den simplen Datenaustausch beschränken. Die Anforderungen an eine tragfähige Infrastruktur für die vielfältigen Kooperationsszenarien sind komplex. Für ihre Gestaltung bietet sich das Prinzip eines Prozess-Management-Systems (PMS) an. Über eine Middleware-Komponente wird hier der Weg zur direkten Datenübernahme aus den internen Systemen eröffnet. Die Aufbereitung der Daten zum Austausch erfolgt in der Beschreibungssprache XML, und mit Hilfe integrierter Workflow- und Dokumenten-Management-Funktionen lassen sich interne und externe Geschäftsprozesse zusammenführen.

"The Bricks fight back", titelte unlängst das "Wall Street Journal". Damit wies es kurz und knapp auf den Umstand hin, dass die großen, etablierten Unternehmen verstärkt auf Internet-basierende Technologien zur Unterstützung ihrer Geschäftsprozesse zurückgreifen. Marktbeobachter postulieren als Folge der Globalisierung und des immer intensiveren Wettbewerbs unisono die Ablösung heutiger Unternehmensausrichtungen durch kollaborative Vernetzungsstrategien. Diese sind gekennzeichnet durch

- Konzentration auf die jeweiligen Kernkompetenzen und Stärken,

- Flexibilität in den Partnerbeziehungen,

- Bezug von Leistungen über so genannte elektronische Handelsplätze (Net Markets) sowie weit reichende Transparenz hinsichtlich der Marktteilnehmer und -angebote.

E-Business und SCM sind eng verwandt

Manche der Ziele in Bezug auf Planungsgenauigkeit, (Produktions-)Geschwindigkeit und Kosten, die im Rahmen neuer E-Business-Projekte verfolgt werden, sind dabei keineswegs neu. Sie weisen deutliche Parallelen zu den schon vor einigen Jahren in Zusammenhang mit dem Supply-Chain-Management (SCM) formulierten Absichten auf. Die Vision eines ganzheitlichen SCM steht ebenfalls für eine effiziente Verflechtung der logistischen Informationsflüsse von Unternehmen, Zulieferern, Logistikern und Kunden, um so die komplette Wertschöpfungskette zu optimieren.

Die neuen Geschäftsmodelle des E-Business und die Möglichkeiten des Internet erhöhen jedoch ein weiteres Mal den Vernetzungsgrad und verbreitern das Spektrum der betroffenen Unternehmensbereiche und -prozesse: Firmenübergreifende, Internet-basierende Zusammenarbeit in entwicklungsorientierten Bereichen wie zum Beispiel dem Programm-, Produktdaten- oder Ressourcen-Management und die Nutzung vielfältiger digitaler Handelsplattformen stellen eine deutliche Erweiterung bisheriger SCM-Strategien dar.

Hinter den Schlagworten "Business Web" oder "Collaborative Commerce" verbergen sich denn auch tief greifende Änderungen am Ablauf der Geschäftsprozesse im und zwischen Unternehmen. Mancher Prozessschritt wird dabei aufgrund der eingeschlagenen Integrations- und Automatisierungsstrategie vollständig überflüssig. Schon der traditionelle Beschaffungsvorgang mit den Schritten Bestellanforderung, Bearbeitung der Anfragen/Angebote, Erteilen des Auftrags, Überwachung der Bestellung, Abwicklung und Kontrolle der Rechnungseingänge lässt sich durch Automatisierung erheblich straffen.

Das unternehmensweite, aber auch das übergreifende Zusammenziehen von Bedarfen löst wiederum Skalierungseffekte aus. Das gemeinsame, parallele Entwickeln führt zu kürzeren Arbeitszyklen und erlaubt ein schnelleres Reagieren auf Markterfordernisse. Eine dynamische, abgestimmt betriebene Prognose- und Bedarfsrechnung von Hersteller und Lieferant minimiert Lagerbestände, begrenzt Überproduktionen und ersetzt rein innengesteuerte Planungsstrategien à la Make-to-forecast durch Configure-to-Order (CTO) oder Make-to-Order (MTO).

Eine übergreifende Fertigungsplanung mit unterschiedlichen Zeithorizonten führt zur verlässlichen Lieferterminbestimmung sowie zeitnaher Belieferung mit Vorkomponenten. Engpässe werden sofort erkannt und können durch automatisierte Bestellungen an weitere Lieferanten ebenso schnell entschärft werden. Produktkonfiguratoren grenzen das Risiko von Fehlbestellungen ein - die Liste möglicher Veränderungen von Geschäftsprozessen ließe sich nahezu endlos weiterführen.

Lieferketten lassen sich in vielfältiger Weise optimieren. Überall dort, wo Material-, Informations- und Lieferflüsse koordiniert und synchronisiert werden, eröffnet sich in der Regel ein weites Feld an möglichen Verbesserungen in der Prozessgestaltung. Im Unterschied zum traditionellen SCM eröffnen E-SCM oder Collaborative Commerce bei der Wahl der Partner in den vor- und nachgelagerten Stufen der Wertschöpfungskette höhere Freiheitsgrade. Diese Idee drückt sich am stärksten in der Teilnahme an den schon angesprochenen Net-Markets aus.

So weit die Theorie - die Praxis sieht in der Regel anders aus. Die Unternehmen sind weder in Organisation und IT-Infrastruktur auf diese Aufgaben vorbereitet noch erfüllen die Softwareangebote - entgegen den Beteuerungen der Hersteller - vollständig die Anforderungen an eine integrative, unternehmensübergreifende Steuerung und Kommunikation.

Die Softwareauswahl kann immer nur den zweiten Schritt eines E-SCM-Projekts darstellen. Trotz der Schwachstellen in den Softwareangeboten sollten sich Unternehmen schon heute auf Collaborative-Commerce-Szenarien einstellen, zumal die Vorteile der firmenübergreifenden Zusammenarbeit in Bezug auf Planungsgenauigkeit, (Produktions-)Geschwindigkeit und Kosten aufgrund von Untersuchungsergebnissen als gesichert gelten dürfen.

Laut einer Langzeitstudie von McKinsey & Company und dem Seminar für Planung und Logistik (SPL) in Köln wird beispielsweise die Hälfte der Gesamtkosten eines Pkw durch das SCM beeinflusst. Bei Haushaltsgeräten bestimmt SCM 85 Prozent der Durchlaufzeiten, und den durch Fehlbestände verursachten Absatzverlust bei weißer Ware beziffert die Untersuchung mit 24 Prozent. Alles, was eine bessere Synchronisation in diesen Punkten bewirkt, drückt sich schnell in erheblichen Einsparungen aus.

Durch das notwendige Näherrücken in einer unternehmensübergreifenden Zusammenarbeit muss auch die Kooperationskultur nachhaltig verändert und an die neuen Bedingungen angepasst werden. Nur wer in Zukunft bereit ist, sein Unternehmen in organisatorischer wie technischer Hinsicht offener zu gestalten, wird ein interessanter Partner im künftigen weltweiten Business-to-Business-Netz sein können. Im Klartext bedeutet eine Öffnung der Prozesse und Systeme für die Mitarbeit in einem Partnernetzwerk auch den Verlust der uneingeschränkten Hoheit über Informationen und Prozesse.

Ebenso sind einige Vorarbeiten an der Unternehmensstrategie im Vorfeld von Collaborative Commerce notwendig. Schließlich folgt die E-Supply-Chain einem unternehmens- und abteilungsübergreifenden Geschäftsprozess-Gedanken. Eine ausschließlich auf interne Belange ausgerichtete Prozessoptimierung, heute noch die Regel in den meisten Unternehmen, wirkt im Kontext der E-Business-Anforderungen zumeist kontraproduktiv.

Beispielsweise zählt die häufig noch zu beobachtende intransparente Verquickung interner Abläufe über Nummerierungssysteme zu den größten Hemmnissen bei der Neugestaltung der Supply Chain. Harmonisierte Datenstrukturen und eine transparente Gestaltung des internen Datenflusses sind aber Voraussetzung, um zumindest firmenbezogen eine klare Sicht auf die Informationen zu erhalten. Solche Vorhaben bergen aber oft den "Teufel im Detail".

Die größte Herausforderung in Bezug auf E-SCM bereitet den Unternehmen die Gestaltung der Partnerintegration auf Prozessebene. Denn bevor nicht die einzelnen Geschäftsprozesse und deren strategische Relevanz in einer Art Masterplan festgeschrieben sind, wird die technische Integration Externer keine nennenswerten Vorteile in der Geschäftsabwicklung bewirken oder sich allenfalls auf den simplen Datenaustausch beschränken.

Künftig konkurrieren Firmenbündnisse

Die Auflistung und Analyse der Prozesse hilft dem Management bei der Entscheidung, welcher Prozess zur strategischen Kernkompetenz des Unternehmens zählt und welche Aufgabe sich getrost in die Hände Dritter legen lässt. Infolgedessen gewinnt die Gestaltung der Partnerbeziehungen in Collaborative-Commerce-Szenarien an Bedeutung. Dies kann und wird dazu führen, dass künftig immer neue, sich dynamisch wandelnde Konfigurationen von Firmenbündnissen und nicht wie bislang Einzelunternehmen miteinander konkurrieren.

Die Kooperationsbeziehungen werden - insbesondere beim Agieren auf elektronischen Marktplätzen - deutlich weniger fest geknüpft sein als heutige Hersteller-Lieferanten-Beziehungen. Kernkompetenz und strategischer Mittelpunkt von Unternehmen in einem solchen Szenario sind die Prozesse und Funktionen, die nachhaltig zum Unternehmenserfolg beitragen: entweder, indem sie über die Profitablität und langfristige Perspektive des Unternehmens wachen (Controlling, strategische Unternehmensplanung, Business Development), oder aber die Alleinstellung beim Kunden sichern (Markenaufbau, CRM etc.).

Im Collaborative Commerce hat man es mit einer erheblich größeren Anzahl von Partnern tun als bislang gewohnt. Diese stützen sich zur Erstellung ihrer Leistungen ihrerseits wieder auf ein mitunter großes Partnernetz. Entsprechend komplex gestalten sich die Anforderungen an eine tragfähige Infrastruktur für die beschriebenen Kooperationsszenarien.

Interne und externe Prozesse koordinieren

Im Grunde müssen sich sämtliche Systeme in eine solche Infrastruktur einbinden lassen - von den Backoffice-Systemen (Datenbanken, Legacy-Systeme, individuelle Anwendungen) über geschäftsprozessorientierte Anwendungen (Enterprise Resource Planning, Sales Force Automation, Supply-Chain-Management, Customer-Relationship-Management) bis hin zu Software, um die Beziehungen zwischen Unternehmen, Organisationen und Kunden abzubilden (Enterprise Application Integration).

Für die Gestaltung dieser Infrastruktur bietet sich das Prinzip eines Prozess-Management-Systems (PMS) an. Über eine Middleware-Komponente wird hier der Weg zur direkten Datenübernahme aus den internen Systemen eröffnet. Die Aufbereitung der Daten zum Austausch erfolgt in der Beschreibungssprache XML, und mit Hilfe integrierter Workflow- und Dokumenten-Management-Funktionen lassen sich interne und externe Geschäftsprozesse zusammenführen.

Als zentrale Anlaufstelle für externe Partner und Prozesse steht ein so genannter E-Business-Broker - eine weitere Middleware-Komponente - zur Verfügung, der es Managern ohne Programmieraufwand erlaubt, Handelspartner in die Supply Chain zu integrieren oder herauszunehmen. Zwischen beiden Middleware-Bausteinen lassen sich außerdem die Prozesse wechselseitig austauschen.

Ein Vorteil des PMS-Ansatzes ist, dass er die Investition in vorhandene Anwendungen schützt. Außerdem beinhaltet er die Fähigkeit, schnell auf unvorhergesehene Collaborations-Möglichkeiten durch die prinzipielle Gestaltungsfreiheit des Workflow reagieren zu können. Darüber hinaus erlaubt der Broker-Mechanismus, auf elegante und saubere Weise die Prozessbeziehungen zu beschreiben. Punkt-zu-Punkt-Middleware-Systeme, wie sie mitunter in vorhandenen Electronic-DataInterchange-(EDI-)Beziehungen zum Tragen kommen, führen dagegen häufig zu unübersichtlichen, schwer handhabbaren Topologien. Nachrichten-Broker bieten lediglich Funktionen zur Steuerung des Informations- beziehungsweise Datenflusses.

Den größten Vorteil des PMS stellt aber die bessere Orientierung der Integration auf Prozessebene dar, womit der Weg für eine weit reichende Prozessverknüpfung über die Unternehmensgrenzen hinweg geebnet ist. Das mangelhafte Angebot an solchen Möglichkeiten der Automatisierung der Abläufe zwischen Unternehmen ist auch einer der Hauptgründe für die fehlende Akzeptanz der E-Markets von unabhängigen Betreibern. Während diese meist mehr oder minder intelligent Angebot und Nachfrage koordinieren und sich primär aus Gebühren für die einzelnen Transaktionskosten finanzieren, lassen die von Herstellern oder Einkäufern initiierten geschlossenen Marktplätze zumindest auf längere Sicht ein breites Fundament an Collaborative-Funktionalität erkennen.

Marktplätze bewirken Normierung in der IT

Das Ziel dieser Marktplätze ist auch weniger in der Schaffung einer umfassenden Markt- beziehungsweise Preistransparenz zu sehen, sondern es liegt primär in der Gestaltung bestimmter Wettbewerbskonstellationen. Von Unternehmen aus der Automobil-, Chemie- oder Luftfahrtindustrie gegründete digitale Handelsplätze gelten auch deshalb als zukunftsträchtig, da man sich hier schon auf bewährte Partnerschaften und Zuliefererbeziehungen stützen kann.

Die Abbildung der Geschäftsprozesse über die unabhängige Instanz eines bestimmten Marktplatzes bewirkt - quasi als Beigabe - eine gewisse Normierung in den IT-Systemen der Teilnehmer. Denn genau der Mangel an Normierung auf der IT-Seite bereitet den Unternehmen bei der Umsetzung der E-SCM- und Collaborative-Commerce-Funktionen einiges Kopfzerbrechen. Losgelöst von XML als kleinstem gemeinsamen Nenner lässt sich keine der vielfältigen Standardisierungsinitiativen (siehe Grafik) mit hinreichender Sicherheit als Orientierungspunkt heranziehen. Auch das skizzierte PMS stellt gegenwärtig in erster Linie ein Konzept dar, das an die jeweilige Unternehmenssituation angepasst werden muss. Es wird sich auch künftig kaum von der Stange kaufen lassen, da die Ausgangslage jeder Firma unterschiedlich ist.

Marktführer wählen

Neben dem allgemeinen Rat, auf die Zukunftsfähigkeit der ausgewählten IT-Bausteine zu achten, sollten deshalb pragmatische Überlegungen die Auswahl dominieren. Wenn die meisten Handelspartner eines Anbieters die Softwaresysteme und damit die Standards von Ariba oder Commerce One favorisieren, muss es für einen eigenen Sonderweg schon überzeugende Gründe - oder eine entsprechende Marktmacht - geben.

Nicht alles, was wünschenswert ist, sollte ohne Umschweife in seiner Gesamtheit in Angriff genommen werden. Schließlich führen Collaborative-Commerce-Projekte schnell in Dimensionen, die man bislang nur von großen ERP-Softwareeinführungen her gewohnt ist. Deshalb sollte zu Beginn mit kleineren, auf einzelne Geschäftsprozesse fokussierten Pilotprojekten begonnen werden. So lassen sich erste Erfahrungen sammeln und ein Gefühl für den Return-on-Investment dieser Projekte entwickeln.

*Dr. Thomas Lehr ist Management-Berater im E-Business Center von CSC Ploenzke.