In puncto Mikroprozessoren schreibt Rußland das Jahr 1977:

UdSSR in Mikroelektronik weiter als vermutet

05.12.1980

Während die Sowjetunion nach Berechnungen von Fachleuten heute im Grad der zivilen Nutzung von Computern etwa ein Jahrzehnt hinter dem US-Standard zurückstehen dürfte (siehe auch CW vom 14. November 1980, Seite 48), ist der eigentliche technologische Abstand zwischen dem Westen und der UdSSR nach neuesten Informationen weit geringer als bislang vermutet: Nur etwa drei Jahre hinken die Russen einer Control Data-Studie zufolge ihren Kollegen in Silicon Valley hinterher.

So etwas läßt Computer-Embargos aus militärisch-technologischen Geheimhaltungserwägungen natürlich um einiges unwirksamer erscheinen als bislang angenommen; umgekehrt dürften diese Informationen - wohl zur Freude der US-Mikroelektronikindustrie - die neue Regierung Reagan erst recht anspornen, mit forcierten Entwicklungsaufwendungen den Abstand zu den aufholenden Sowjets wieder etwas zu vergrößern.

Doch hier soll nicht weiter über das "cui bono" der Publikation solcher fast schon sensationellen Neuigkeiten diskutiert werden - schauen wir lieber, was an harten Fakten aus Moskau bekannt geworden ist. Wobei es in diesem Falle übrigens ungarische Zwischenstationen waren, über die (laut International Herald Tribune) der Beleg sowjetischer Mikro-Kompetenz, ein Prozessor mit der Serienummer " K 580 IK 80,77", seinen Weg in den Westen fand.

Schon beim ersten Hinsehen fanden Control Data-Ingenieure im werkseigenen Fehleranalyse-Labor heraus, daß der Winzling aus dem roten Riesenreich weitgehend dem bekannten Standard-Mikroprozessor 8080 A des Hauses Intel gleicht, einer 8-Bit-Ausführung für nahezu jeglichen Anwendungszweck. Und sie konstatierten, daß zu seiner Produktion so ziemlich genau diejenigen Technologien angewandt worden waren, mit denen vor drei Jahren noch die eigenen Zulieferfirmen ihre Intelligenz-Knöpfchen zusammenmixten.

Man würde indes die sowjetischen Chip-Designer weit unterschätzen, betrachtete man ihr Produkt nur als Resultat bloßen Durchpausens originär amerikanischer Leiterplatten-Pläne: Das Layout des roten Chips zeigt vielmehr deutlich, daß man östlich des ehedem "eisernen" Vorhangs die interne Architektur, die einzelnen Logikfunktionen und das raffinierte Wechselspiel der einzelnen Komponenten sehr wohl durchschaut hat. Woraus sich im übrigen unschwer ableiten läßt, daß die Russen mit ihrer Minus-Drei-Jahre-Technologie schon heute praktisch jede Standard-Computerkomponente (nach) bauen könnten, die sie nur haben wollen.

Entpuppte sich die bisher postulierte Zehnjahre-Chip-Know-how-Differenz zwischen den USA und der UdSSR noch als schillernde Seifenblase, so legt eine genaue Untersuchung des Chips sogar den Verdacht nahe, im Labormaßstab könnten die Russen sogar noch weiter sein, als ihr entlaufener Mikroprozessor vermuten läßt. Dieser Chip ist nämlich allem Anschein nach keineswegs des Produkt etwa eines sorgfältig gesteuerten Labors, sondern schlicht und einfach im Rahmen einer gewöhnlichen Serienfertigung entstanden, wie die Art der Leiterverbindungen und andere Details vermuten lassen.

Kenner der östlichen Mikroelektronik-Szene haben auch schon eine klare Vorstellung vom Geburtsort des sozialistischen Denk-Zwergs: Er könnte aus Zelenograd stammen, einer zwei Autostunden nordöstlich von Moskau gelegenen Kommune mit dem brancheninternen Ruf, das "Silicon Valley" des Ostblocks zu sein.

Die dortigen Ingenieure mußten beim Nachschöpfen der Intel-Einheit offenbar gewisse Abstriche bei der Strukturfeinheit ihres Produkts machen: Die Leiterbahnen des Ost-Mikros sind breiter als die des Originals und die Maschine beansprucht generell etwas mehr Fläche. Außerdem zeichnet sich der fertig im Gehäuse gelieferte Prozessor durch eine Eigenschaft aus, die für russische Produkte geradezu als typisch gilt: außerordentliche Robustheit des flachen Keramik-Gehäuses.

Über die elektrischen Eigenschaften des Winzlings aus Rußlands Weiten ist bisher von Control Data nichts bekanntgegeben worden.

Eine Story für sich ist übrigens die Art und Weise, wie die Control Data-Leute an den Russen-Chip gekommen sind. Behilflich waren ihnen dabei vermutlich ihre langjährigen Handelspartner von der ungarischen Videoton.

Dieser Elektronik-Konzern arbeitete in seinen Labors schon längere Zeit mit- ganz legal erworbenen - Intel-Mikroprozessoren, in der Absicht, seinen Daten-Terminals für die russischen "Riad" -Computer mehr Intelligenz zu schenken. Und als die Videoton-Leute ihren westlichen Kollegen dann eines Tages von ihrer neuen Linie intelligenterer Terminals vorschwärmten, erzählten sie auch von ihrer Absicht, die Geräte mit sowjetischen Mikroprozessoren zu versehen. Und dabei muß ihnen einer davon wohl versehentlich (?) auf den Teppich gekullert sein.

- Egon Schmidt ist freier Wissenschaftsjournalist in München.