Tutorenmodell weiter ausbauen

28.03.1986

Ralf Salomon, Technische Universität Berlin

Im Jahre 1978 hatte ich mich als frischgebackener Abiturient an der Technischen Universität (TU) Berlin eingeschrieben, "um einen Mittelweg aus Elektrotechnik (Nachrichtentechnik/Elektronik) und Informatik zu studieren". Doch schon in den ersten Vorlesungen erfolgte die Ernüchterung. Für den Neuling, der trotz der damals praktizierten reformierten Oberstufe einen "losen Klassenverbund" und eine überschaubare Zahl an Mitschülern gewohnt ist, wirkt die Anonymität - weit über 150 Erstsemester - und das Organisationschaos sehr befremdend, kann man sich doch dadurch nur mit halber Kraft auf das Studium konzentrieren. Man ist weitestgehend damit beschäftigt, irgend jemanden zu fragen, der einem sagen kann, wo's langgeht.

Nun aber zurück zu den ersten Vorlesungen. Aus der Schule war man eine bestimmte Form des Unterrichts und der Arbeit in kleinen Gruppen gewohnt. Schon in den ersten Vorlesungen merkt man, daß das Wort Vorlesung wörtlich zu nehmen ist. Fast immer steht vor der ersten Reihe der Studenten ein in der Regel nur mäßig didaktisch ausgebildeter Professor, der sein Skript vorträgt. Nur äußerst selten trauen sich dabei einige wenige Studenten, Fragen zu stellen.

Dieses Verhalten entsteht insbesondere aus der Furcht daß die anderen ihn für einen "unterbelichteten Dummkopf" oder "Spätstarter" halten könnten. Diese Situation bessert sich auch in den "großen Übungen" nicht, hier wird der Stoff zwar etwas vertieft, meistens allerdings rechnet der Assistent einige Übungsaufgaben als Alleinunterhalter vor.

Das aus der Schule gewohnte Unterrichtsgespräch, in dem auch die Schüler eigene Gedanken vortragen und entwickeln können, kommt also nicht zustande. Durch diese Organisationsformen wird der Student zum reinen Mitschreiben beziehungsweise Nachvollziehen des angebotenen Stoffes erzogen. Das Resultat ist, daß vielfach der Stoff nur für eine Prüfung auswendig gelernt wird, um ihn nach bestandener Prüfung möglichst schnell zu vergessen. Das Katastrophale besteht darin, daß nicht das Verstehen und Nachdenken sondern das stereotype Reproduzieren gelernt wird. Somit fragen sich viele Studenten aus höheren Semestern zu Recht immer wieder, was sie eigentlich gelernt haben.

Eine löbliche Ausnahme bilden Tutorien beziehungsweise integrierte Lehrveranstaltungen (Vorlesung mit praktischen Ergänzungen). Das Tutorium ist eine Organisationsform, in der Studenten höherer Semester den Vorlesungsstoff in kleinen Gruppen (etwa 10 bis 20 Teilnehmer) besprechen und durch konkrete Anwendungsbeispiele vertiefen. Hier kommt endlich ein Gespräch zwischen Lehrendem und Lernenden zustande, wodurch sich der Student wohl fühlt und als Konsequenz daraus wirklich etwas lernt. Ähnliches gilt für die integrierten Veranstaltungen. In den Laboratorien werden kleine Gruppen von zirka sechs Leuten bei praktischen Arbeiten angeleitet. Durch diese praktischen Arbeiten wird, von der theoretischen Vorlesung ausgehend, der Bezug zur Praxis hergestellt.

Meine eigene Erfahrung zeigt, daß in den beiden letztgenannten Veranstaltungen wirklich etwas - das heißt über etwaige Prüfungen hinaus - gelernt wird.

Ein wichtiger Punkt für das Verstehen dieser Lehrform ist, daß diese Organisationsform mit dem Tutorenmodell steht und fällt, was mich an dieser Stelle zu folgender These veranlaßt: "Wenn der Senat das Tutorenmodell immer weiter verschlechtert oder gar ganz abschafft, dann wird die Ausbildung der Diplomingenieure über kurz oder lang schlechter als die der FH-Diplomingenieure." Dies trifft schon jetzt besonders für die Elektrotechniker und Informatiker zu, da die guten Studenten bessere Angebote aus der Industrie erhalten.

Im folgenden möchte ich nach diesen allgemeinen Überlegungen noch jeweils einen Punkt aus den Studiengängen Elektrotechnik und Informatik herausgreifen. Die Elektronikausbildung, die sich für mich von der Hardwareentwicklung auf unterster Ebene bis hin zum Konfigurieren und Entwickeln komplexer Rechnersysteme erstreckt, ist in der Regel erstens praxisfremd und hinkt zweitens entweder dem aktuellen Entwicklungsstand zehn Jahre hinterher - oder sie ist wiederum total abgehoben (so daß nicht einmal die einfachsten Gatterschaltungen verstanden werden).

Die Ausbildung ist sogar weit praxisfremd, daß fertige Diplomingenieure intensive Einarbeitung benötigen, um die an sie in der Berufspraxis gestellten kleinen Aufgaben halbwegs adäquat lösen zu können.

Die Ausbildung bei den Informatikern sieht hingegen etwas anders aus. Es wird viel zu schnell an den Rechner gegangen und wie wild drauflos gehackt, so daß die theoretische Ausbildung zu kurz kommt. Das mag vielleicht auch daran liegen, daß die Informatik eine sehr junge Wissenschaft ist der immer noch richtige ingenieurmäßige Methoden und praktisch nutzbare wissenschaftliche Erkenntnisse fehlen. Vielleicht fehlen ihr (der Informatik) zunächst ein (..) Hebelgesetz der Mechanik vergleichbares Grundgesetz.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Tutorenmodell, also das fachlich angeleitete Arbeiten in kleinen Gruppen, unbedingt weiter ausgebaut werden muß. Weiterhin ist das studienbegleitende Arbeiten in kleinen Firmen zu begrüßen, damit den Studenten ein Praxisbezug neben und zu den theoretischen Lehrveranstaltungen gegeben ist. Was in allen technischen Studiengängen gänzlich fehlt, ist die Ausbildung von Eigenschaften, die beispielsweise für Teamarbeit unbedingt notwendig sind; man sollte nicht vergessen, daß fast alle Diplomingenieure in ihrem Beruf zu "Führungskräften wenigstens in mittleren Etagen" werden.

Wenn auch diese Anmerkungen sehr kritisch oder gar negativ (was voll beabsichtigt ist) geworden sind, so muß ich an dieser Stelle betonen: Ich bereue meine Entscheidung keinesfalls, und ich würde mich immer wieder zu einem Studium entschließen sowie allen, die die formalen Voraussetzungen haben, dazu raten. Somit möchte ich mich mit großen Dank für die Aufmerksamkeit des Lesers von demselbigen verabschieden.