Dynamischer Datenaustausch ist noch zu kompliziert

Textsoftware: Intelligenz an einem Beispiel getestet

22.06.1990

Grafische Oberflächen, objektorientierte Programmierung, "workflow automation" - Neuerungen werden zuerst in PC-Cross-Anwendungsprodukten gesichtet. Am Beispiel von Siemens "Comfotex" soll überlegt werden, was Benutzer von solchen Neuerungen haben.

Beim Thema "intelligente Textverarbeitung" sollte der Begriff selbst erst geklärt werden. Sicher gibt es keine einheitliche Definition für diesen umgangssprachlichen Ausdruck. Getrost kann man auch die Möglichkeit ausschließen, daß ein Textprogramm von heute mit unseren Vorstellungen von "Intelligenz" zu tun hat.

Was also umschreibt der Begriff "intelligente Textverarbeitung"? Frei interpretiert laden zwei Behauptungen zur Auseinandersetzung ein:

- Eine Funktion in einem PC-Textprogramm ist dann intelligent, wenn sie auch benutzt wird.

- Intelligente PC-Textsoftware führt zu intelligenten Anwendungen.

Als Ergebnis müßte sich zeigen lassen, daß es lohnt, in "intelligente Textverarbeitung" zu investieren.

Nur benutzte Funktionen sind auch intelligent

Für den "functional overkill", das Überladen eines Programmes mit Funktionen, sind Textprogramme besonders anfällig. Rechnen im Text gleichzeitig mit DTP-Funktionen und Grafikeinbindungen etc. bieten sich als mögliche Features an. Das hat sich nicht geändert, seit grafische Textprogramme unter Windows auf den PC-Markt gekommen sind, im Gegenteil. Funktionen nützen aber nur, wenn sie benutzt werden.

Um herauszufinden, ob die neuen grafischen Benutzeroberflächen die Software im obigen Sinne "intelligenter" machen, vergleiche man, wie sich eine Funktion im zeichenorientierten Textprogramm (zum Beispiel in "Word" von Microsoft) von der gleichen Funktion im Windows-Nachfolger "Word für Windows" unterscheidet.

Als praktisches Beispiel mag die Funktion "Gliederung" dienen. Im zeichenorientierten Word kann man einen Text in hierarchischen Gliederungsstufen strukturieren. Ändert man die Hierarchietiefe eines Absatzes, wird der daran hängende

Text parallel verschoben und das Layout angepaßt. Die Funktion läßt sich über komplizierte

Tastenkombinationen realisieren: Nur wenige Personen haben sich je der Mühe unterzogen, die Befehle zu lernen oder gar zu behalten.

lm grafisch orientierten Word für Windows läßt sich dieselbe Funktion wesentlich einfacher ausführen: Mit der Maus wird zum Beispiel ein Pfeilsymbol nach oben gerückt, um anzugeben, daß der Absatz eine Hierarchiestufe höher einzuordnen ist. Vor den Augen des Benutzers erfolgt die Änderung des Layouts im gewünschten Sinne. Fehler werden auf der Stelle sichtbar. Resultat: Viele Anwender setzen die Funktion häufig und gerne ein. Nach der oben genannten These kann man sie als "intelligent" bezeichnen.

Grafische Benutzeroberflächen allein schützen nicht vor "unintelligenten" Funktionen. So ist zum Beispiel der vielgelobte "dynamische Datenaustausch" noch so kompliziert, daß es einiger Bastelei bedarf, um die Segnungen dieser Technik ausnutzen zu können. Dies gilt für "Winword" genauso wie für "Am Professional" und ist nur zum Teil auf die dahinterliegende Realisierung über das Betriebssystem zurückzuführen. Erst viele Mausklicks erlauben es, ein Textdokument so mit einem Kalkulationsblatt zu verbinden, so daß Änderungen in letzterem sichtbar werden. Für Benutzer, die Wert auf Schnelligkeit legen, ist dies ein Ding der Unmöglichkeit.

Bei allen heute bekannten Textprogrammen für Windows handelt es sich nicht um Konvertierungen des zeichenorientierten Produktes, sondern um ein komplettes Neudesign, zum Beispiel bei Microsoft Word oder auch bei "One for all", dem Nachfolger von "Texass" (b + s Multisoft). Am und Am Professional (Samna Corp.) und Comfotex (Siemens) haben gar keinen zeichenorientierten Vorgänger und damit auch keine Altlasten in Form von Benutzern,

die an bestimmte Tastenkombinationen oder Begriffe gewöhnt sind.

Es stellt sich die Frage, ob beispielsweise Siemens die Chance wahrgenommen hat, die sich durch eine neue Verteilung im Markt bot.

Das Design für Comfotex stammt aus dem Jahr 1986. Die Idee dazu entsprang einem Treffen zwischen Bill Gates, Chairman und CEO von Microsoft, und Rainer Hallauer, heute Geschäftsgebietsleiter Personalcomputer bei der Siemens AG. Auch durch die Zusammenarbeit mit Microsoft auf Betriebssystem-Ebene wurde entschieden, Windows als Benutzeroberfläche für das neue Produkt einzusetzen. Die Funktionslisten für das neue Produkt positionierten im Jahr 1987 das zukünftige Comfotex gegen Word 3.0. 1988 erschien die Version 1.0 Siemens-intern und über den Distributor SPI, der angibt "weltweit 10 Prozent des gesamten Textverarbeitungs-Marktes erringen zu wollen." Die Einführung erfolgte zu früh: Comfotex war das einzige Textprogramm auf Windows-Basis und schaffte es nicht allein, die Kunden vom notwendigen Mehr an Maschine zu überzeugen. Funktionalität und Performance sind zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht so gut wie bei zeichenorientierten Programmen.

Die Version 2.0 aus dem Jahr 1989 behauptete sich in einem Vergleichstest zwischen Comfotex, Am Professional und dem neuen Word für Windows sehr gut. Viele Funktionen waren besser gelöst als bei der Konkurrenz (zum Beispiel Maussteuerung, Funktionstastenbelegung, Textspaltenschreiben). Die Performance minderte aber die Begeisterung für Version 2.0. Das ist schade, denn das Design, das Comfotex zugrunde liegt, ist auf die Zukunft ausgerichtet:

- Comfotex ist kein überfrachtetes Allround-Produkt, sondern ein Textprogramm und nicht mehr. Beispiel: Seine wenigen Grafikfunktionen sind benutzbar, sie erfüllen ihren Zweck, verführen aber nicht zu der Annahme, man könne damit auch Grafiken erstellen, wie es mit einem Grafikprogramm möglich ist.

- Die im Umfeld notwendigen Funktionen sind aus dem direkten Programmkern ausgegliedert und als separate Module programmiert, die auch separat gekauft werden können. Beispiel: Funktionen für die Dokumentenverwaltung oder die Formularkomponente zum Erstellen und Ausfüllen von Formularen sind einzeln erhältlich.

- Bildschirmmasken und Befehle wurden im Hinblick auf optische Gestaltung und benutzte Sprache mit universitärer Hilfe entwickelt und wissenschaftlich getestet. Professor Jürgen Krause vom Lehrstuhl für linguistische Informationswissenschaft an der Universität Regensburg arbeitete an der Gestaltung mit.

Vergleicht man zum Beispiel die Realisierung der in allen Textprogrammen vorhandenen Funktion "Suchen und Ersetzen", ergeben sich Vorteile für Comfotex. Diese resultieren daraus, daß das Programm nicht von Übersetzern ins Deutsche übertragen wurde, sondern in Deutschland entwickelt worden ist und über eine eindeutige Sprachverwendung verfügt. Unter Begriffen wie "Leerzeile einfügen" oder "Haltepunkt setzen" kann sich jeder etwas vorstellen.

Ein Beispiel für die intelligente Anwendung des Comfoware-Konzeptes: Viele mittelständische Unternehmen entwickeln zur Zeit Warenkonzepte, die es ihnen erlauben, trotz Massenfertigung ein individuelles Produkt anzubieten und sich damit von der Konkurrenz zu unterscheiden. Ob es die Automobil-, die Bekleidungs- oder die Fertighausbranche ist, der Konsument braucht das Besondere und ist auch bereit, dafür zu bezahlen. Die "individuelle Standardware" muß aber schnell geplant, geliefert und kalkuliert

werden, um attraktiv zu bleiben.

Fertighäuser werden als Standardangebot kalkuliert. Kunden haben jedoch individuelle Sonderwünsche für Anbauten oder Sonderausstattungen die in kurzer Zeit genau durchgerechnet werden müssen. Mit einer integrierten Bürokommunikations- und CAD-Lösung können die Verantwortlichen

- die gezeichneten Varianten eines Haustyps sofort neu kalkulieren und

- die Neukalkulation in ein individuelles Angebot einbinden.

Damit ist das schnelle Reagieren auf die Preisanfrage des Bauherren ebenso möglich wie eine genaue Kalkulation, die vor finanziellen Verlusten schützt. Realisieren kann man eine solche Anwendung über ein PC-Netz aus 386SX-Maschinen an den einzelnen Arbeitsplätzen und einem 386er-Server, auf dem eine integrierte Windows-Lösung läuft, zum Beispiel die Netzsoftware Comfonet/S, die Mal-Software Comfotalk, das Textprogramm Comfotex, die Datenbank SQL Base in Verbindung mit einem Windows CAD-Programm.

Die nächsten Versionen aller grafischen Textprogramme (Word, One for all, Am und Comfotex) werden unter Windows 3.0 laufen. Daraus ergeben sich folgende Vorteile:

- Bessere Performance durch mehr Hauptspeicher unter Windows 3.0,

- virtuelle Speicherverwaltung, die einen begrenzteren Einsatz auf Maschinen ab 2 MB ermöglicht,

- ansatzweise Icon-orientierte Oberfläche,

- mehr Anwendungen für dynamischen Datenaustausch mit anderen Programmen unter

Windows.

Gerüchteweise ist von Versionen der Comfo-Serie die Rede, die unter dem OS/2-Presentation-Manager, unter OSF/Motif oder auch Open Desktop laufen werden. Dies entspräche der Intention großer Hersteller wie IBM und Microsoft, eine Betriebssystem- unabhängige Anwendungsstruktur zu bilden.