LeittechnikDeutsche DV-Anbieter testen in Japan

Telematiksysteme sollen Verkehrsprobleme mindern

21.11.1997

Auf täglich rund 100 Millionen Mark soll sich der volkswirtschaftliche Schaden belaufen, der durch Verkehrsstaus in der 20-Millionen-Metropole Tokio entsteht. Auf Europas Straßen bedeuten die von EU-Kommissar Neil Kinnock ermittelten 4000 täglichen Staukilometer neben Streß und Frust beispielsweise reale Verluste für die Unternehmen von 120 Milliarden Ecu im Jahr. Von den Umweltbelastungen und ihren Kosten ganz zu schweigen.

Besonders dramatisch sind die Verkehrsverhältnisse um Tokio. Große Erwartungen setzen japanische Planer derzeit in eine Kommunikations- und Softwaretechnik mit der Bezeichnung Intelligent Traffic Guidance System (ITGS). Das System nutzt Infrastruktur und Daten des hochentwickelten Tokioter Verkehrsinformationssystems. Mit diesem engmaschigen Überwachungssystem versucht die Tokioter Polizei, dem Stauproblem Herr zu werden. Rund 14000 Sensoren im Straßennetz und über 300 Videokameras an 900 Kreuzungen liefern rund um die Uhr aktuelle Daten über die Lage vor Ort. Die fließen in ein Computernetzwerk aus 19 Großrechnern in der Verkehrsleitzentrale.

ITGS ist ein Kind vieler Eltern. Verschiedene Bereiche von Daimler-Benz, Debis Systemhaus und Mercedes-Benz Japan übernahmen die Konzeption, trieben die Fahrzeugentwicklung voran und arbeiteten den Routenplaner aus. Bosch und Nippon Denso entwickelten das verkehrstelematische Endgerät für die Fahrzeuge. Die Tokioter Verkehrspolizei erfaßt die Echtzeitdaten über die jeweilige Verkehrssituation. Das Tokioter Unternehmen ATIS (Advanced Traffic Information System), die Debis AG und andere Privatfirmen vermarkten die Lösung. Die Datenübertragung zum und vom Fahrzeug übernimmt das Mobilfunknetz der Nippon Telegraph and Telephone Corp. Debis Telematik Japan und Debis Systemhaus betreiben die Dienstezentrale und bieten die dynamische Zielführung als Service an.

Die Forschungs- und Entwicklungszeit für das System betrug 15 Jahre. In der ersten Ausbaustufe sind 2000 Kilometer des Streckennetzes im Tokioter Großraum in rund 3500 Abschnitte unterteilt, und das System kann zur Zeit 200 Routen gleichzeitig berechnen. Eine beliebige Erweiterung ist jedoch jederzeit möglich.

Seit April dieses Jahres wird das dynamische Zielführungssystem in Japan serienmäßig mit den S- und E-Klasse-Modellen von Mercedes-Benz ausgeliefert. Die Ausstattung anderer Typen und Marken soll folgen. Für Herrn Tanaka fallen im Augenblick lediglich die Gebühren für die ITGS-Anmeldung von rund 65 Mark, monatlich 40 Mark für den Informationsdienst und die Mobilfunkgebühren für die Datenübertragung an.

Übertragung auf deutsche Verhältnisse

Das System funktioniert so, daß Entwickler und Betreiber optimistisch sind, was eine Übertragung auf deutsche Verhältnisse betrifft. "1998 werden wir einen ähnlichen Service wie in Tokio anbieten", so einer der Entwickler im Debis Systemhaus. Zwar ist hierzulande keine Region so gut mit einem Verkehrsüberwachungssystem ausgestattet wie Tokio. Aber das soll sich schon bald ändern.

Um über die vorhandenen Quellen Landesmeldestellen, Verkehrsrechnerzentralen (VRZ) und private Staumelder des ADAC hinaus aktuelles Verkehrsdatenrohmaterial zu gewinnen, haben Mannesmann Autocom und T-Mobil die Datengewinnungsgesellschaft DDG gegründet. Zur Zeit stattet die DDG im Raum Köln rund 8000 Kilometer Autobahn mit Sensoren aus. In zwei Jahren schon könnte in Nordrhein-Westfalen ein flächendeckendes Netz existieren. Das entspräche mit 17 Millionen Einwohnern ungefähr dem Einzugsgebiet von Tokio. Letztendlich sollen jedoch bundesweit alle Autobahnen mit solchen Meßsensoren versehen werden, die Geschwindigkeit und Anzahl der vorbeifahrenden Autos erfassen.

Darüber hinaus wird es für die Erfassung der Verkehrslage in Zukunft aber auch noch die Daten aus Autos geben, die mit der Floating-Car-Data-(FCD-)Technik ausgestattet sind. Sobald Endgeräte für dieses Konzept auf dem Markt sind und die für statistische Berechnungen kritische Masse von 100000 mit dem FCD-System ausgerüsteten Autos erreicht ist, werde Sensorik an den Autobahnen eigentlich überflüssig, so ein Fachmann von Debis. Verfügen nämlich erst einmal genug Fahrzeuge über FCD-Systeme, schicken die Verkehrsteilnehmer selbst automatisch Daten über ihre Geschwindigkeit und Reisezeit mit GSM-Mobilfunk an einen Verkehrslagerechner. Der ermittelt aus den Bewegungsdaten die momentane Verkehrsdichte auf der Strecke. Die Autos müssen zu diesem Zweck mit einer Telematikplattform aus GSM-Handy, GPS-Empfänger und Bordnavigationscomputer ausgerüstet sein, wie sie schon in Herrn Tanakas E-Klasse zu finden ist.

Derweil sind die Ingenieure schon einen Schritt weiter. Würde man nämlich auch den Bordcomputer der Autos in das Zielführungssystem einbinden, erführe die Zentrale sofort, wenn die Fahrer in einer bestimmten Region ihren Scheibenwischer oder die Nebelleuchten einschalten, und könnte entsprechende Geschwindigkeitsbeschränkungen veranlassen.

Das Ziel sind Verkehrsprognosen

Auch die dynamische Zielführung ist nach der statischen lediglich ein Meilenstein auf dem Weg zur intelligenten Verkehrssteuerung. Dank Echtzeit-Informationen ist der Autofahrer zwar jetzt auf dem aktuellen Stand des Verkehrsgeschehens. Besser wäre es nach Ansicht von Peter Konhäuser von der Daimler-Benz-Forschung jedoch, wenn ein verkehrstelematisches System auch Prognosen darüber abgeben könnte, wie das Verkehrsgeschehen auf einem bestimmten Streckenabschnitt aussieht, wenn der Fahrer diesen Abschnitt erreicht hat. Vorhersagen auf der Basis historischer Daten (da war gestern um 11 Uhr ein Stau, da wird auch heute um diese Zeit einer sein) sind schon Stand der Technik, aber noch zu ungenau.

Das Team von Konhäuser arbeitet deshalb an der Entwicklung mathematischer Modelle, die auf der Basis von Echtzeit-Daten über den Verkehrsfluß die künftige Situation abschätzen. Im Grunde sei das genau so schwierig wie bei der Wetterprognose. "Auch da hat man viele Einzeldaten, aber das Gesamtsystem verhält sich ziemlich chaotisch." Eine Prognose darf ja nicht nur einen Streckenabschnitt, sondern muß alle betrachten.

Die Alternative: Arbeitsplatz Pkw

Dabei tauchen Fragen auf: Wie viele Fahrzeuge werden in fünf Minuten diesen Streckenabschnitt passieren, wie viele werden an einer Kreuzung geradeaus weiterfahren und wie viele in welche Richtung abbiegen? Fragen, die sich nicht für den Einzelfall beantworten lassen. Wenn es jedoch gelingt, mathematische Modelle zu entwickeln, die diese Antworten wenigsten im statistischen Mittel genau genug geben, wähnt sich Konhäuser einer echten Prognose ein gutes Stück näher.

Den Straßenverkehr in Ballungsgebieten im Fluß zu halten ist sicher sinnvoll. Eine Verbesserung der Gesamtsituation läßt sich aber erst durch die gleichmäßigere Auslastung der Verkehrswege Straße, Schiene, Wasser und Luft erreichen. Sinnvoller wäre also eine zusätzliche Vernetzung der vorhandenen Informationen mit solchen über ergänzende oder alternative Verkehrswege und die Einbeziehung nicht nur des Personenverkehrs, sondern auch der Warenströme in die Verkehrsleitsysteme. In Zusammenarbeit mit der Deutschen Bahn werden laut Andreas Bereczky vom Debis Systemhaus schon Ansätze für solche ganzheitlichen Lösungen entwickelt. Eine kapazitätsgerechte und ebenso ökologisch richtige Verteilung des Personen- und Warenverkehrs brauche jedoch mehr als ein intelligentes IT-System, nämlich intelligente Angebote der Verkehrsbetreiber.

Für den Fall, daß augenblickliche und zukünftige verkehrstelematische Systeme und Dienste nicht zur Entlastung der Verkehrsadern ausreichen, keine neuen Straßen gebaut werden, alternative Verkehrskonzepte nicht greifen und man weiter im Stau steht, hat Mercedes vorgesorgt. Auf der IAA in Frankfurt am Main führte das Unternehmen vor, was Internet im Auto bedeutet, nämlich Multimedia-Bildschirme in der Armatur und den Kopfstützen, die Infotainment und Bürosoftware bieten.

Wenn in den kommenden Jahren weltweit preiswerte Internet-Telefonie in guter Mobilfunkqualität möglich wird - und dafür wollen die jungen Telefongesellschaften und beispielsweise auch die Daimler-Tochter Debis zusammen mit dem Medienkonzern Bertelsmann sorgen - steht einem automobilen Arbeitsplatz im Pkw eigentlich nichts mehr im Weg.

TELEMATIK IM EINSATZ

Für Handelsvertreter Osamu Tanaka, einen Endbenutzer, sieht das Ganze im Vergleich dazu denkbar unkompliziert aus. Auf dem Weg von seinem Büro- zum Heimarbeitsplatz meldet sich über Autotelefon ein Kunde, den er möglichst heute noch besuchen sollte. Herr Tanaka macht auf dem nächsten Parkplatz halt und tippt mit der Tastatur auf der Mittelkonsole seines Wagens das neue Fahrziel ein. Über die Verbindung seines Mobilfunktelefons erreicht die Anfrage einen Zentralrechner, der die im Augenblick schnellste Strecke errechnet und sie ebenfalls über das Mobilfunknetz in sein Fahrzeug übermittelt. Nach weniger als zwanzig Sekunden erscheint auf dem Farbmonitor des Navigationsgeräts der entsprechende Kartenausschnitt mit dem Routenvorschlag und der zu erwartenden Fahrzeit.

Herr Tanaka wechselt die Fahrtrichtung nach Norden. Eine freundliche Stimme aus dem Computer leitet ihn jetzt zwar nicht unbedingt auf dem kürzesten, aber auf dem derzeit schnellsten Weg durch das Verkehrsgetümmel. ITGS verbindet nämlich die Daten über das Straßennetz mit denjenigen über die aktuelle Verkehrssituation auf den in Frage kommenden Strecken. Baut sich irgendwo ein Stau auf, wird das auf der digitalen Straßenkarte in der Leitzentrale angezeigt (rot = stehender Verkehr, grün = fließender Verkehr). Ein Computer errechnet die mögliche Verzögerung und sucht alternative Wege. Dies geschieht etwa alle zwei Minuten. In welchen Intervallen das System Herrn Tanaka einen aktuellen Streckenvorschlag liefern soll, bestimmt er in den Grenzen zwischen fünf Minuten und einer halben Stunde selbst per Knopfdruck. Telefoniert er gerade, wartet das System, bis die Leitung frei ist.

Da sich beim Autobahnkreuz auf der Abbiegespur in Richtung Norden schon ein rund fünf Kilometer langer Stau gebildet hat, schlägt ITGS eine westliche Umfahrung der Staustelle vor und rät zudem, die Autobahn eine Ausfahrt vor dem Ziel zu verlassen, weil sich hier ein Unfall ereignet hat. Diese Streckenführung hat den nützlichen Nebeneffekt, daß Herr Tanaka nicht die ganze Zeit auf kostenpflichtigen Highways fährt.

Nach 45 Minuten ist Herr Tanaka am Ziel. Das war nach ersten Erfahrungsberichten etwa die Hälfte der Zeit, die er ohne ITGS oder mit den bisher schon erhältlichen statischen Zielführungssystemen benötigt hätte. Diese beruhen auf einem elektronischen Stadtplan, der auf CD-ROM abgespeichert ist, und suchen nach Eingabe des Fahrtziels die kürzeste Route aus. Da hier aktuelle Verkehrsbehinderungen nicht berücksichtigt werden, ist die kürzeste oft auch die zeitlich längste Strecke.

VERKEHRSLEITTECHNIK

Die meisten Innovationen auf dem Gebiet der Verkehrstelematik haben wir zwei flächendeckend zur Verfügung stehenden Technologien zu verdanken:

Einerseits der Existenz der Mobilfunknetze im GSM-Standard (GSM = Global System for Mobile Communications). Dieser international eingeführte Standard vereinheitlicht die Sprach- und Datenübertragung innerhalb zellularer, digitaler Mobilfunknetze. Die in Deutschland installierten D-Netze sind Bestandteil dieses Funknetzes, das im 900-Megahertz-Frequenzbereich, also im sogenannten L-Band, betrieben wird. Zwar beträgt die Übertragungskapazität des GSM-Funkkanals rund 13 Kbit/s. Weil aber bei Datenübertragungen zusätzliche Sicherheitsprotokolle benötigt werden, lassen sich über eine GSM-Funkverbindung nicht mehr als 9600 Bit/s übertragen. Dabei wird ein gemischtes Multiplex-Verfahren (FDMA/ TDMA = Frequency Division Multiple Access/Time Division Multiple Access) in Verbindung mit Analog-Digital-Wandlern eingesetzt.

Die zweite flächendeckende Technologie ist das 1980 gestartete, weltweite Satellitenortungssystem GPS (Global Positioning System) des US-Verteidigungsministeriums. GPS übernimmt dabei die grobe Ortung des Wagens bis zirka 100 Meter genau. Mit Hilfe des Map-Matching-Algorithmus und der Signale der Radsensoren beziehungsweise des Tachos läßt sich die Position eines Autos bis auf unter 50 Meter genau bestimmen. Eine weitere Möglichkeit ist der Einsatz des Differential GPS. Bei ihm mißt eine zusätzliche Bodenstation mit bekanntem Standort die Abweichung des GPS-Signals von der Realität und übermittelt sie per Funk den mobilen GPS-Empfängern.

GPS funktioniert auf jeden Fall bis Mitternacht des 21. Augusts 1999. Denn dann läuft in einigen GPS-Empfängern ein Datumszähler über, ähnlich dem Phänomen, das zur Jahrtausendwende vielen Computerprogrammen bevorsteht. Die GPS-Empfänger zeigen dann den 6. Januar 1980 an, das Startdatum des GPS-Systems. Über die Effekte für Geräte und Benutzer scheint noch keine Klarheit zu bestehen.

Bis dahin ist mit der Kombination von GPS und GSM aber Online-Navigation und Routenführung, Diebstahlschutz, automatischer Unfallnotruf und vieles mehr möglich. Voraussetzung ist, daß die Verkehrsdaten über Standleitungen und/oder Mobilfunk in der Datenbank eines Rechners zusammengeführt und in der Servicezentrale mit Hilfe einer Geographic-Data-File-basierten digitalen Landkarte zu einer ständig aktuellen Darstellung der Verkehrslage aufbereitet werden.

*Sonja Hübner ist freie Journalistin in Stuttgart.