TK-Anlagen lassen sich nahtlos integrieren

Telefonieren übers Internet mit akzeptabler Qualität

16.01.1998

Auf der Suche nach günstigeren Telefongebühren stieß das auf Grundlagenforschung im Materialbereich spezialisierte Hahn-Meitner-Institut in Berlin auf die Internet-Telefonie. Ganz oben auf der Liste der Forderungen stand, daß die 850 Mitarbeiter ihr Telefonieverhalten nicht ändern müssen. Ferner wollten die Forscher die Kontrolle über ihre Telefonanlage behalten. Bei einer Störung der Vermittlung per Internet sollten Anrufe über das herkömmliche Verfahren möglich sein.

Die Wahl des Diensteanbieters fiel auf P2 in Wedel. Dieses Unternehmen verfügt über ein eigenes IP-Netz mit Einwahlknoten in ganz Deutschland und nutzt für weltweite Verbindungen das Netz des Mutterkonzerns Global Link. Dabei realisiert der Provider einen Übergang vom Internet sowohl in Fest- als auch in Mobilfunknetze.

Nach den Worten von Renato Castronari, Betreuer der Telefonanlage, entschied sich das Institut für dieses Unternehmen, da andere Service-Provider die Internet-Telefonie nur zwischen Niederlassungen eines Kunden anboten, also als eine Art "Corporate Network". Die Forscher beabsichtigten aber, möglichst viele externe Gespräche über das Internet zu führen.

P2 installierte seinen "P2 Internet Router", der die ausgehenden Rufe entsprechend ihrem Ziel entweder ins Internet oder über die Telekom vermittelt. Dieses System plazierten die Techniker zwischen der Nebenstellenanlage vom Typ "System 12 Typ 5630" des Herstellers Alcatel und dem Amtsanschluß, der aus zwei Primärmultiplexanschlüssen besteht.

Wählt ein Mitarbeiter des Instituts eine Nummer, so sucht der Router den Weg der geringsten Gebühr. Ortsgespräche überläßt das System dem Telefonnetz, da das TCP/IP-Netz in diesem Fall keine Vorteile bietet. Ferngespräche dagegen nehmen die Route übers Web. An den Zugangspunkten des Providers stehen Internet-Telefonie-Gateways. Sie wandeln die Sprache in IP-Pakete um und leiten sie zu einem dem Empfänger am nächsten gelegenen Austrittspunkt weiter.

Dort formt ein Gateway die Datenpakete wieder in Sprache um und baut eine Verbindung zum Empfänger über das öffent- liche Telefonnetz auf. Außer einem von Zeit zu Zeit auftretenden, leichten Echo können die Mitarbeiter des Instituts keinen Unterschied zum herkömmlichen Telefonnetz feststellen.

Castronari beziffert die Einsparungen beim Telefonieren auf 25 bis 30 Prozent gegenüber dem, was die Forscher zuvor bei der Deutschen Telekom bezahlten. Dabei entrichten die Berliner keine Grundgebühr. Statt den Router zu mieten, entschieden sich die Berliner aus Kostengründen, das System zu kaufen.

"Least Cost Routing" heißt das Verfahren, mit dem der Router des Diensteanbieters arbeitet. Einige Hersteller haben diese Funktion bereits in ihre TK-Anlagen integriert, andere Systeme lassen sich nachrüsten. Die Nebenstellenanlage des Hahn-Meitner-Instituts gehörte nicht zu dieser Kategorie, deshalb mußte der P2-Router installiert werden. Dennoch waren keine Eingriffe in die Konfiguration der Anlage erforderlich.

Statt Gespräche über einen auf IP-Telefonie spezialisierten Service-Provider abzuwickeln, können Firmen auch eigene Internet-Telefonie-Gateways aufstellen und über das Internet betreiben. So lassen sich Sprachdienste zwischen Niederlassungen eines Unternehmens einrichten.

Der ABC Bücherdienst aus Regensburg beispielsweise spart monatlich 1000 bis 2000 Mark an Gebühren ein, da interne Telefongespräche mit dem US-Firmensitz in Miami Beach über das weltumspannende Netz laufen. Die 22 Mitarbeiter der amerikanischen Dependance entwerfen die Homepage des Unternehmens und erstellen elektronische Bücher.

Gemeinsam mit der Firma Lucent realisierte der Bücherdienst das Projekt. Den Part des Internet-Service-Providers übernahm in Deutschland Nacamar, in den USA die Firma MCI. Hierzulande besitzt das Unternehmen einen Zugang mit 2 Mbit/s, die US-Kollegen gehen mit 1,5 Mbit/s ins Netz. Beide Standorte betreiben Nebenstellenanlagen vom Typ "Definity" der AT&T-Tochter, die über das Internet-Telefonie-Gateway "Lucent ITS" mit dem Netz des jeweiligen Providers verbunden wurden. Diese Geräte wandeln Sprache in Daten um und versenden sie über das TCP/ IP-Netz. Dabei war ABC Bücherdienst der erste Kunde des Herstellers, der Internet-Telefo- nie transatlantisch betreibt. Offenbar lernte auch der Systemanbieter einiges dazu, denn Jagodzinski erinnert sich, daß sich während des Projektverlaufs die Sprachqualität mehr und mehr verbesserte.

Allerdings schwankt die Dienstgüte nach den Erfahrungen Jagodzinskis je nach Tageszeit. Besonders tagsüber machen sich gelegentlich Lastspitzen bemerkbar. Teilweise fühlt sich der DV-Leiter dann bei Ferngesprächen in die USA an die für Satelliten typischen Verzögerungen erinnert. Zudem kommt es zu ähnlichen kurzen Aussetzern wie in Mobiltelefonnetzen. Dennoch hält der IT-Verantwortliche die Dienstgüte für akzeptabel. Messungen mit dem Testprogramm "Ping" ergaben, daß ein Datenpaket in 170 bis 220 Millisekunden den Atlantik überquert. Bei höheren Verzögerungszeiten wäre die Sprachqualität nicht ausreichend.

Ursprünglich wollten die Verantwortlichen auch ein externes Call-Center in Florida einrichten, um so einen Telefonbestell-Service von 8 bis 22 Uhr deutscher Zeit anbieten zu können. Kunden des Bücherdienstes ordern ihre Ware entweder per Brief, Telefon, Fax, oder sie verfassen E-Mails und bekommen die Bestellung dann mit der Post zugestellt.

Die Grundidee für den Bestellservice über zwei Standorte war folgende: Wenn die Mitarbeiter des deutschen Call-Centers in den Feierabend gehen, übernehmen die amerikanischen Kollegen in Florida. Ruft ein Kunde außerhalb der Geschäftszeiten der deutschen Zentrale an, wird der Anruf automatisch nach Amerika umgeleitet. Dank der Zeitverschiebung arbeiten beide Teams nur tagsüber, also zu günstigen Stundensätzen. Zudem versprach man sich Einsparungen durch niedrigere Lohnkosten.

Zwar verlief das Pilotprojekt erfolgreich, doch kam es nicht zu einer Realisierung. Schuld daran war nicht etwa die Internet-Telefonie. Vielmehr ließ sich für die Niederlassung in den USA kein deutschsprachiges Personal auftreiben. Außerdem entpuppten sich die geringeren Personalkosten als eine Illusion.

Nunmehr haben die Verantwortlichen Namibia als Standort des Call-Centers im Visier. Allerdings reicht die Qualität der Internet-Verbindung in das afrikanische Land für das Vorhaben noch nicht aus. Dies könnte sich ändern, wenn das lang ersehnte Glasfaserkabel ins benachbarte Südafrika gelegt wird. Deshalb übernimmt nach wie vor die deutsche Niederlassung den Kundenservice.

Anwender wie das Hahn-Meitner-Institut und der ABC Bücherdienst nutzen eine junge Technik, aus der den Analysten zufolge in den kommenden Jahren ein Milliardenmarkt wird. In einer Studie schätzen die Marktforscher von Killen & Associates aus Palo Alto zum Beispiel, daß im Jahr 2002 weltweit rund 63 Milliarden Dollar in diesem Bereich umgesetzt werden.

IDC: 16 Millionen Anwender im Jahr 1999

Nach Angaben des Marktforschungsunternehmens IDC nutzten Ende 1996 bereits rund zwei Millionen Anwender weltweit solche Dienste. Bis zum Jahresende 1999 soll sich diese Anzahl auf 16 Millionen verachtfachen. Vor allem Internet-Service-Provider möchten in das Geschäft einsteigen, um zusätzlich an der Telefonie zu verdienen. Deshalb investieren Anbieter wie zum Beispiel die deutsche Mediaways in den Ausbau ihrer Netze. Doch auch die Sprach-Carrier schlafen nicht: So will die Telekom mit T-Netcall zukünftig einen solchen Dienst anbieten.

Sowohl das vom ABC Bücherdienst betriebene "Corporate Network" als auch die Internet-Telefonie-Lösung des Hahn-Meitner-Instituts sind lediglich Spielarten der klassischen Kommunikation. Am Ablauf der Telefonie ändert sich nichts außer dem Transportmedium und den Tarifen. Doch die Überlegungen einiger Kommunikationsexperten gehen weiter. Die Integration von Daten und Sprache auf ein standardisiertes Übertragungsmedium öffnet die Tür zu neuen Diensten, zum Beispiel der Verknüpfung von Callback-Diensten und der Internet-Telefonie. Hierbei fordert der Anwender einen Call-Back-Dienst nicht über eine Telefonnummer, sondern über das Web an. Einen solchen Service bietet die Firma Esprit Telecom in Düsseldorf an. Eine weitere Anwendung liefert IP-Telefonie in Verbindung mit Web-Sites .

Deshalb liebäugelt die Advance Bank mit der Internet-Telefonie. Während kreditwürdige Surfer durch die Angebotsseiten der hauseigenen Web-Site blättern, erläutern ihnen Bankberater gleichzeitig am Telefon die Details der Produkte. Voraussetzung für die "Mehrkanalberatung": Jeder Bankkunde muß neben seinem Rechner über einen Internet-Anschluß und ein PC-Telefon verfügen. Allerdings liegen nach den Worten von Ludwig Fensterer, Leiter Online-Dienste Multimedia bei der Advance Bank, noch keine Pläne für die Realisierung vor. Für 1998 hat das Kreditinstitut lediglich Tests ins Auge gefaßt.