Benutzer kritisieren zu einseitige Orientierung bei RDBMS-Anbietern:

Technische Anwendungen werden vernachlässigt

05.12.1986

AUCHTERARDER (kul) - Relationale DBMS-Produkte sind nicht für jeden Anwendungsfall der Stein der Weisen: Zu stark richten sich die gegenwärtig verfügbaren Systeme an der kommerziellen Datenverarbeitung aus: die Belange der technischen Applikationen werden im Verhältnis dazu nicht ausreichend berücksichtigt. So der Tenor auf der dritten europäischen Ingres-Benutzertagung in Schottland.

Eines der Hauptziele der DBMS-Anbieter muß es nach Worten von Michael Stonebraker, Professor an der kalifornischen Universität Berkeley und Entwickler des relationalen Systems "Ingres", folglich sein, die Datenbanktechnik so weiterzuentwickeln, daß der technische Anwendungsbereich nicht länger ein Dasein als Stiefkind fristet. Fortschritte seien in diesem Zusammenhang vor allem von einer Verknüpfung zwischen DBMS-Systemen und Komponenten der Künstlichen Intelligenz zu erwarten.

Starke Kritik übte Stonebraker daran, daß Expertensysteme heute noch vielfach als "Spielzeug" mißbraucht würden. Dabei bestünden bereits die Voraussetzungen, diese neue Disziplin sinnvoll in einer Vielzahl von Bereichen einzusetzen.

Brückenschlag zwischen DB- und Expertensystemen

Als Paradebeispiel hierfür nannte der amerikanische Professor die technischen Applikationen mit ihren oft komplexen Datenstrukturen. Haupteinsatzgebiete, die von einem Brückenschlag zwischen DBMS- und Expertensystemtechnik profitieren dürften, sind Stonebraker zufolge CAD/CAM, VLSI-Design sowie die Ablage kompletter Programme und Texte in einer Datenbank.

Diese Forderungen auch in der Praxis zu realisieren, ist Ziel des Projekts "Postgres", das derzeit an der Universität Berkeley unter der Leitung von Stonebraker läuft und bis Ende 1987 Produktreife haben soll. Das auf dem relationalen Datenbankmanagementsystem "Ingres" von Relational Technology International basierende System verspricht verbesserten Support für den Umgang mit komplexen Objekten und Strukturen sowie Unterstützung des Users bei der Erweiterung von Datentypen und Zugriffsmethoden. Ferner beinhaltet "Postgres" Schlußfolgerungseinrichtungen, die Forward- und Backward-Chaining zulassen und stellt laut Stonebraker ein Design bereit, das die Vorteile der optischen Speicherung sowie neuester Prozessor- und VLSI-Chiptechnologie miteinbezieht.

Besondere Bedeutung messen die Kalifornier der Vereinfachung des DBMS-Code für den Wiederanlauf nach einem Systemabsturz bei. Auch die Unterstützung möglichst vieler Sprachen soll sichergestellt werden, da eine künstliche Konzentration auf eine einzige Sprache laut Stonebraker aus marktpolitischen Überlegungen unrealistisch wäre.

Die Quintessenz des amerikanischen RDBMS-Experten für sein neues Projekt: "Wir halten uns bei unseren Aktivitäten so dicht wie möglich an die Forderungen des von Ted Codd aufgestellten relationalen Modells und fügen Erweiterungen hinzu, die in Spezialbereichen die Benutzerwünsche noch besser berücksichtigen. Langfristig müßte es auf diese Weise möglich sein, endgültig den Grabstein für die hierarchisch strukturierten und völlig überalterten DBMS-Produkte zu setzen."

Neues wurde anläßlich der Benutzertagung auch über Status und Zukunft von "Ingres" berichtet. Für die nächste Zukunft steht nach Aussage von RTI-Präsident Gary Morgenthaler die stärkere Internationalisierung des Systems ganz oben auf der Prioritätenliste des Anbieters. So verspricht Relational Technology beispielsweise Tastaturbelegungen, die die Zeichensätze der verschiedenen europäischen Sprachen berücksichtigen sowie Sprachunterstützung auch für Benutzer, die nicht in Englisch arbeiten. Die Testphase für die neue Version 6.0 soll im ersten Halbjahr 987 beginnen. Ebenfalls nächstes Jahr wird Morgenthaler zufolge eine MVS-Version des RDBMS verfügbar sein, die das gegenwärtige Spektrum - VM/CMS, VAX/VMS, Unix und MS-DOS - ergänzt.

Schlüsselkriterium für Ingres, so das Fazit des RTI-Präsidenten, sei neben offener Architektur und verteilter RDBMS-Struktur vor allem ein umfassender SQL-Support, um eine DB2-Anknüpfung zu ermöglichen. Morgenthaler: "In der heutigen DV-Welt kommt kein Datenbankanbieter um das IBM-Flaggschiff herum. Von seiner Bedeutung für die Softwareindustrie her betrachtet könnte man DB2 nahezu als ,Cobol der 80er Jahre' bezeichnen."