Arbeitszeitregelungen in IT-Unternehmen

Tarifvertrag muss Flexibilität nicht einschränken

08.09.2000
Überstunden sind in der IT-Branche längst selbstverständlich geworden. Die Mehrarbeit wird auf unterschiedliche Weise abgegolten: Zeitkonten, Sabbaticals, Urlaub oder Überstundenzuschläge sind einige der Möglichkeiten, um Mitarbeiter für den erhöhten Arbeitsaufwand zu entschädigen. Von CW-Mitarbeiterin Melanie Stagg

Tarifverträge sind in der IT-Branche seltener als anderswo. Häufig wird das damit begründet, dass die von den Gewerkschaften vorgegebenen Regelungen zu starr seien und deshalb mit der flexiblen Arbeit in der Informationstechnologie nicht vereinbar. Das muss aber nicht so sein, wie einige Beispiele aus der IT-Welt zeigen. Jüngster Vorreiter ist die Infineon Technologies AG. So führte das Unternehmen in Bayern für die Standorte München und Regensburg eine 40-Stunden-Woche ein, wo bisher vertragliche 35 Wochenstunden üblich waren.

"Unser Personal arbeitet sowieso mehr als 35 Stunden in der Woche", erklärt Claus Brauner, der bei Infineon für den Bereich Rekrutierung verantwortlich ist. "Diese neue Regelung wurde von den Mitarbeitern äußerst positiv aufgenommen. Die Ausweitung der wöchentlichen Arbeitszeit erfolgt natürlich bei vollem Lohnausgleich", behauptet Brauner.

Diese Lösung wurde durch eine Ergänzung zum bestehenden Flächentarifvertrag möglich, der im Frühjahr mit der IG-Metall und der DAG ausgehandelt wurde. "Die 40-Stunden-Woche ist ein Angebot für unsere Mitarbeiter, um ihre tatsächliche Arbeitszeit mit der vertraglich vereinbarten abzugleichen. Wir wollen keineswegs Personal einsparen - im Gegenteil: Wir suchen händeringend nach IT-Spezialisten. Auch Green-Card-Bewerber kommen in Frage", erklärt Brauner.

Peter Gebhardt, Betriebsrat bei Infineon, begründet die positive Aufnahme der neuen Arbeitszeitregelung unter den Beschäftigten mit der höheren Bezahlung: "Viele Mitarbeiter bevorzugen ein höheres Gehalt anstatt des Überstundenausgleichs im Rahmen des Gleitzeitmodells." Gebhardt selbst beurteilt die Situation kritisch: "In einigen Positionen sind Karriereschritte nur mit einem 40-Stunden-Vertrag möglich, ein 35-Stunden-Vertrag hingegen behindert die weitere Laufbahn." Damit ist die Freiheit, mit der der Mitarbeiter sich zwischen den beiden Verträgen entscheiden können soll, schon erheblich eingeschränkt. Für Oktober sind weitere Gesprächsrunden anberaumt, in denen über das Einkommen diskutiert werden soll. Die Idee, das Gehalt leistungsorientiert zu gestalten, wobei 80 Prozent als Festgehalt angesetzt und 20 Prozent leistungsabhängig ausbezahlt werden sollen, sieht Gebhardt ebenfalls mit Skepsis:

"Der Unterschied zwischen 20 Prozent mehr oder weniger Gehalt ist enorm - ein Festgehalt von 100 Prozent mit Leistungsprämien bei Erfolg eines Beschäftigten ist dagegen akzeptabel."

Die IBM Deutschland Informationssysteme GmbH ist mit ihren Arbeitszeitregelungen recht flexibel. So wird der Flächentarifvertrag durch einen Haustarifvertrag ergänzt, der eine individuelle Abmachung zwischen IBM und der Deutschen Angestellten Gewerkschaft (DAG) darstellt. Dieser Haustarif ermöglicht den Mitarbeitern, bei Bedarf die 38-Stunden-Woche auf 41 Stunden auszudehnen. Die Überstunden werden auf einem Zeitkonto gutgeschrieben, das in Form von Freizeit und Gehaltszulage abgegolten wird. Ein anderes Modell ist die Gleitzeitregelung: Die Mitarbeiter teilen ihre Arbeitszeit von Montag bis Freitag zwischen sechs und 20 Uhr selbst ein. Das Unternehmen sieht in der Abschaffung der Kernarbeitszeit einen "Erfolg versprechenden Weg vom zeitorientierten hin zum selbstverantwortlichen Arbeiten", so ein Unternehmenssprecher.

Ein weiteres IT-Unternehmen, das flexibel mit Tarifverträgen umgeht, ist das Debis Systemhaus. Debis hat gemeinsam mit den Arbeitgeberverbänden der Metallindustrie Baden-Württemberg und Berlin sowie der IG Metall einen dienstleistungsorientierten Tarifvertrag geschaffen. Das Systemhaus lehnt sich an den Flächentarifvertrag an, der ergänzt wird. "Als IT-Unternehmen brauchen wir einen Tarifvertrag, der Handlungsfreiheit gewährleistet. Dies war mit dem Flächentarifvertrag nicht ausreichend gegeben", begründet Klaus Klasen, Leiter der Personalpolitik bei Debis, die Entscheidung. "Deshalb haben wir einen Ergänzungstarifvertrag ausgearbeitet. Dieser regelt die Arbeitszeit differenziert nach dem Lebensalter: Der Einstieg in das Unternehmen beginnt bei einem jungen Mitarbeiter mit einem 40-Stunden-Vertrag. Nach dem 50. Lebensjahr reduziert sich die vertragliche Wochenarbeitszeit auf 38 Stunden, mit 53 Jahren auf 36 Stunden und zwei Jahre später auf 35 Stunden", erklärt Klasen. "Wer möchte, kann natürlich auch länger arbeiten als im Vertrag vorgesehen. Überstunden werden auf Zeitkonten gutgeschrieben, die mit Sabbaticals, Qualifizierungsmaßnahmen oder vorzeitigem Ruhestand ausgeglichen werden können."

Dieter Scheitor, verantwortlich für den Bereich IT-Industrie in der IG-Metall, ergänzt: "Diese stufenförmige Reduzierung der Arbeitszeit ist insbesondere für Mitarbeiter vorgesehen, die dem Unternehmen mindestens zehn Jahre angehören. Für Beschäftigte aus dem IT-Bereich gilt generell die 35-Stunden-Woche, unabhängig vom Alter oder von der Dauer der Unternehmenszugehörigkeit." Allerdings wird in diesem Bereich oft länger als 35 Stunden gearbeitet, vor allem im Projektgeschäft. Hier können laut Klasen individuelle Vereinbarungen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern getroffen werden, die auch über eine Wochenarbeitszeit von 40 Stunden hinausgehen.

Die Belegschaft von Digital Equipment erstreikte sich die tariflich festgelegte 35-Stunden-Woche. Seit der Übernahme durch Compaq (1998), wo derzeit noch die per Betriebsvereinbarung festgelegte 38-Stunden-Woche gilt, herrscht im Unternehmen eine geteilte Arbeitszeitregelung. Das wird bald anders: Compaq-Mitarbeiter, die schon vor der Übernahme von Digital bei der Firma beschäftigt waren, sollen in den nächsten beiden Jahren schrittweise auf 35 Stunden in der Woche reduzieren. Compensation-Benefits-Manager Ulrich Halscheidt erklärt, dass "das Unternehmen versucht, durch ausreichend Personaleinstellungen im IT-Bereich Überstunden weitestgehend zu vermeiden. Dennoch kann es mal vorkommen, dass sie erforderlich werden." Mehrarbeit kann auf Bildungskonten gutgeschrieben werden. Insgesamt haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, pro Jahr bis zu 66 Stunden mit Weiterbildungsmaßnahmen zu verrechnen.

Der Salzkottener Personalberater Klaus Lurse ist dennoch kritisch: "Zwar ist die 35-Stunden-Woche für Geschäftsbereiche wie zum Beispiel die Logistik eine willkommene Einführung. Aber die Mitarbeiter im IT-Sektor werden sicherlich wieder mehr Überstunden machen müssen. Da wäre es doch besser, den Arbeitsvertrag gleich den tatsächlich abgeleisteten Stunden anzupassen."

Die Vorteile für Mitarbeiter eines tarifgebundenen Unternehmens liegen in der finanziellen Mindestabsicherung über den Flächentarif, der von der zuständigen Gewerkschaft vorgegeben wird. Tarifgehälter sind außerdem Mindestgehälter, das heißt, eine höhere Bezahlung ist immer zulässig. Außerdem kann die Belegschaft sicher sein, dass ihr akzeptable Arbeitsbedingungen gewährt werden, die ebenfalls von der Gewerkschaft als Norm festgelegt sind. Lurse ergänzt, dass "allerdings ein angenehmes Arbeitsumfeld inzwischen in den meisten Unternehmen, die um die raren IT-Spezialisten buhlen müssen, Standard geworden ist".

Das dritte Argument, das für eine Verbandsmitgliedschaft steht, ist der Schutz vor Selbstausbeutung. Die Tarifverträge legen fest, mit welchen Zuschlägen Mehrarbeit - abhängig von der Tageszeit - vergütet werden soll. Allerdings müssen sich auch tarifunabhängige Unternehmen an Vorgaben halten: Das Arbeitszeitengesetz gilt für alle Firmen und legt fest, wie viel Arbeitszeit auf die Woche in welcher Form verteilt werden kann. "Speziell im IT-Bereich ist es wichtig, vom Zeitfaktor möglichst unabhängig zu sein", meint Lurse. "Vertrauensarbeitszeit findet immer häufiger Zuspruch. Der Mitarbeiter erfasst dabei seine Arbeitszeit selbständig, Stechuhren werden überflüssig."

Sowohl für die Mitarbeiter tarifgebundener als auch tarifungebundener Unternehmen wird es immer wichtiger, ihre Arbeitszeiten flexibel gestalten zu können. Wie die Beispiele zeigen, bemühen sich die Gewerkschaften, den IT-Unternehmen gerade aus diesem Grund Möglichkeiten anzubieten, ihren Handlungsspielraum trotz der Tarifvereinbarungen zu vergrößern. Dennoch ist derzeit die Mehrzahl der IT-Unternehmen nicht tarifgebunden.

Ein Beispiel ist Hewlett-Packard in Böblingen. Basis ist die 38-Stunden-Woche, aber eine interne Vereinbarung mit den Mitarbeitern lässt die 40-Stunden-Woche zu. Die zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche können mit jährlich zwölf zusätzlichen Urlaubstagen verrechnet werden; außerdem leiten sich daraus verschiedene Gehalts- und Zeitkombinationen ab. Zum Beispiel kann eine Gehaltsauszahlung für 32 Stunden Wochenarbeitszeit erfolgen, die verbleibenden acht Stunden werden über einen längeren Zeitraum hinweg auf einem Zeitkonto angespart und können schließlich von der Lebensarbeitszeit abgezogen werden. Oder die Mitarbeiter beantragen ein so genanntes Sabbatical, also einen längerfristigen Ausstieg aus dem Unternehmen, um zum Beispiel eine Weltreise zu machen oder die Zeit für sonstige persönliche Pläne zu nutzen.