Angst vor Boersengigant Microsoft im Hinterkopf

Taligent-Betriebssystem kommt bei den Entwicklern sehr gut an

05.02.1993

Obwohl Taligent nach Einschaetzung von Marktbeobachtern nicht vor 1995 auf den Markt kommen wird, aeussern sich Software-Entwickler wie der Borland-Chef Philippe Kahn sehr positiv ueber das Betriebssystem. Grund fuer die Lobeshymnen, die zumindest der IBM fuer erst noch zu realisierende Produkte bislang selten zuteil wurde, sehen einige Anwender allerdings weniger in den Staerken der Software.

Vielmehr vertreten Branchenkenner wie der technische Leiter bei der Aldus Corp., Jerry Barber, die Meinung, es handele sich eher um Beschwoerungsrituale. Diese wuerden der Hoffnung Ausdruck geben, gegen die zunehmend maechtiger werdende Microsoft Corp. koenne mit Taligent zumindest ein Konkurrent dem in Kuerze zu erwartenden Windows NT die Stirn bieten.

Angesprochen auf die Absichtserklaerungen von Borland, Novell und Wordperfect, fuer die Apple-IBM-Plattform Anwendungen zu schreiben, machte Barber eine eigene Rechnung auf: "Taligent hat das Problem, drei Herren dienen zu muessen: Sowohl Apple als auch die IBM wollen, dass Pink (als Grundlage von Taligent, d. Red.) deren jeweilige Betriebssysteme unterstuetzt." Zudem gaebe es noch Windows NT, dass eine Marktmacht entfalten koennte, die niemand unterschaetzen sollte: "Es bleibt abzuwarten, ob es Taligent gelingt, sich gegen NT durchzusetzen."

Die Befuerchtungen, Microsoft wuerde sich zur IBM der 90er Jahre entwickeln, duerften nicht ganz unberechtigt sein (vgl. auch CW Nr. 5 vom 29. Januar 1993, Seite 13: "Taligent-Software von..."). Schon jetzt beherrscht die Gates-Company ungefaehr 90 bis 95 Prozent des PC-Betriebssystem-Marktes.

Sollte es den Microsoft-Entwicklern gelingen, in den naechsten Monaten mit NT ein veritables Server-System mit Ankopplungs- und Durchgriffsoptionen auf Grossrechner-Datenbanken auf den Markt zu werfen, waere das folgende Szenario realistisch: Die heute schon faktische Vormachtstellung von William H. Gates III im Desktop- Segment koennte sich nach Meinung diverser Branchen-Insider in den kommenden Jahren auf die Rechnerwelten der ehedem mittlere Datentechnik genannten Abteilungsrechner und der unternehmensweit operierenden Grossrechner ausdehnen.

Dies duerfte auch Anwendern zum Nachteil gereichen. Bob Holmes, Manager bei der Southern California Gas Corp., sieht schon die Flammenschrift an der Wand: "Microsoft verfolgt die gleiche Strategie wie die IBM in der Vergangenheit: Sie zeigen dir einen wunderschoenen Palast und versprechen, dass das Aeussere nicht halbwegs wiedergibt, was einen an Wunderschoenem im Inneren erwartet." Sei der Anwender aber erst einmal in diesen "Softwarepalast" eingetreten, "schliesst Gates sofort hinter dir ab und schmeisst den Schluessel weg."

Der Vergleich mit der IBM gewinnt auch aus boersenpolitischen Aspekten Gewicht: Der 21. Januar 1993 wird in die DV-Geschichte insofern eingehen, als an diesem Donnerstag Microsoft Big Blue am Aktienmarkt der Wall Street erstmals als wertvollstes Computerunternehmen der Welt abgeloest hat.

Gemeint ist damit, dass die Marktkapitalisierung der Gates-Company bei im Umlauf befindlichen 303 Millionen Microsoft-Aktien zu einem Nennwert von 89,5 Dollar (Schlussstand 21. Januar 1993) 27,12 Milliarden Dollar betrug. Big Blue hingegen war den Boersianern lediglich 26,48 Milliarden Dollar wert (Aktienstand: 46,375 Dollar).